27. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2024

Abgesang auf einen Mythos

von Alfons Markuske

Lenin hatte das große Glück, dass Trotzki

den Staatsstreich mit schamloser Geschicklichkeit vorbereitete.

 

Anthony Beevor

 

Die eigentliche Revolution im Russland des Jahres 1917 – im Gefolge der desaströsen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf das zaristische Riesenreich zwischen Ostsee, Nordmeer und Pazifischem Ozean – war der bürgerliche Umsturz vom Februar, der die Herrschaft der Romanows beseitigte. „Die Tatsache, dass in der Armee nicht der geringste Versuch unternommen wurde, sich gegen die Revolution zu stemmen, zeigte“, so der renommierte britische Historiker Anthony Beevor, „wie sehr man selbst in konservativen Kreisen am Zar und an der Zarin zweifelte.“ Diesen Ereignissen hängt übrigens bis heute der Nimbus einer „unblutigen Revolution“ an. Zu Unrecht, denn allein in Petrograd kam es zu 1500 Toten und bis zu 6000 Verletzten.

Im Unterschied zum Februar 1917 war die Große Sozialistische Oktoberrevolution im gleichen Jahr tatsächlich keine Revolution, sondern lediglich ein durch die historischen Umstände begünstigter Staatsstreich einer Handvoll zu allem entschlossener Bolschewiki; Lenin zu Radek vor der Abreise aus dem Schweizer Exil: „In sechs Monaten baumeln wir am Galgen oder wir sind an der Macht.“. Dabei sprach das innenpolitische Kräfteverhältnis nach der Februarrevolution keineswegs zugunsten der Bolschewiki; selbst Lenin räumte ein, „dass unsere Partei in den meisten Sowjets der Arbeiterdeputierten in der Minderheit, vorläufig sogar in einer schwachen Minderheit ist“. Daher glaubte Lenin, so Beevor, „fest an die Notwendigkeit eines Bürgerkrieges, um die absolute Macht zu erringen“, quasi „gewaltsam Tabula rasa […] machen, so dass es keine Rückkehr zur Vergangenheit geben konnte“.

Was – ausgehend von der offiziellen sowjetischen Darstellung – in der DDR über die Oktoberrevolution propagiert, gelehrt und anderweitig verbreitet wurde, war nicht nur höchst einseitig und grob geschichtsverfälschend, sondern zugleich auch durchgängig von geradezu ikonografischer Heroisierung geprägt. Das gilt nicht minder für die anschließende, bis 1921 währende Phase des Bürgerkrieges, der, resümiert Beevor, „zum Tod von bis zu zwölf Millionen Menschen, zur völligen Verarmung des Landes und zu unvorstellbarem Leid führte“. Man las in der DDR „10 Tage, die die Welt erschütterten“, den dokumentarischen Erlebnisbericht von John Reed, und „Der stille Don“, den Romankoloss von Scholochow, sah Filme wie „Kotschubei“ oder viel später „Die Kommissarin“, war schwer beeindruckt und ahnte im Übrigen meist nicht, dass man damit über den tatsächlichen Verlauf der geschichtlichen Ereignisse nicht einmal schemenhaft informiert worden war.

Ob im Vergleich dazu Beevor mit seiner gerade erschienenen Monographie „Russland. Revolution und Bürgerkrieg 1917 – 1921“ nun allerdings nicht das Kind mit dem Bade ausschüttet, ist für den Laien kaum zu beurteilen. Beevors Fazit, nachdem er eine schier endlose Fülle weißer und roter Verbrechen, Terrorakte, Gemetzel, Massaker, Pogrome und dergleichen mehr ausgebreitet hat: „Allzu oft repräsentierten die Weißen die schlimmsten Seiten der Menschheit. Aber in puncto rücksichtsloser Unmenschlichkeit waren die Bolschewiki unschlagbar.“ Zumindest liefert Beevor auch dafür wieder einen wissenschaftlichen Kriterien genügenden Quellenapparat mit. Dass die Frage allerdings überhaupt aufkommt, ist nicht zuletzt kolportagehaften Passagen geschuldet. Nur ein Beispiel: „Als geborene Rampensau war Trotzki rasch in seinem Element und begeisterte das Publikum in den brechend vollen Petrograder Sälen […] mit seinem bissigen Witz.“ Dergleichen ist dem Rezensenten aus früheren Werken Beevors („Der Spanische Bürgerkrieg“, „Arnheim“) nicht in Erinnerung.

Die Jahre von 1917 bis 1921 waren in Sowjetrussland neben dem Kampf der Weißen gegen die Roten ganz wesentlich von ausländischen Militärinterventionen geprägt, durch die vor allem die führenden Westmächte (USA, Großbritannien und Frankreich) sowie Japan, das allein zeitweise mit über 85.000 Mann präsent war, versuchten, das Regime der Bolschewiki quasi in der Wiege zu erdrosseln. Wobei zu den Interventionskräften auch ein tschechisches Korps von etwa 40.000 Mann und eine polnische Division in Sibirien sowie baltische, finnische, deutsche, türkische, ungarische, griechische, slowakische, kroatische und Verbände weiterer Nationen, ja selbst ein italienisches Kontingent in Wladiwostok zählten.

Die Gründe dafür, warum diese breite Phalanx antibolschewistischer Kräfte letztlich scheiterte, sind vielfältig, und Beevor analysiert sie eingehend. So hatten die Weißen am Ende des Tages der überwiegenden Masse der Bevölkerung Russlands keine im Vergleich zu den Bolschewiki wirklich attraktive politische und wirtschaftliche Alternative zu bieten. Dazu zählte nicht zuletzt ihre „Weigerung, eine Landreform in Erwägung zu ziehen“. Der Kampf der Weißen gegen die Roten stellte sich in der Realität des Bürgerkrieges häufig genug lediglich als, salopp formuliert, der Versuch heraus, Teufel mit Beelzebub auszutreiben.

Darüber hinaus bestand praktisch zu keinem Zeitpunkt die Aussicht einer Einigung der führenden militärischen Köpfe der Weißen, ob sie nun Koltschak, Denikin, Kornilow, Wrangel, Judenitsch oder wie auch immer hießen – ihre Widersprüche und Zerwürfnisse, die auf unterschiedlichen strategischen Zielen und operativen Vorstellungen ebenso beruhten wie auf tief sitzenden persönlichen Animositäten, blieben im Falle des Falles allemal vorherrschend.

Auch die westlichen Interventionskräfte waren teilweise mit mehr als fragwürdigem Führungspersonal unterwegs. So zitiert Beevor über den Leiter der britischen Militärmission in Südrussland, Generalmajor Herbert Holman, eine Quelle, der zufolge der Brite „von der Idee besessen sei, die Juden auszurotten, wo immer sie leben, und über kaum etwas anderes reden könne“.

Überdies kamen unter anderem folgende weitere Faktoren zu Ungunsten der antibolschewistischen Kräfte zum Tragen:

  • In weiten Teilen der eurasischen Landmasse fehlte es durchgängig an zuverlässigen Kommunikationsmitteln zwischen den zersplittert agierenden antibolschewistischen Kräften: „Die Armeen von Koltschak in Sibirien, Denikin im Süden und Judenisch im Baltikum waren nie in der Lage gewesen, ihre Operationen zu koordinieren.“
  • Die Generäle der Weißen wollten „die Integrität des Russischen Reiches bewahren. Das war ein selbstzerstörerisches Handicap. Es verprellte Finnland, die baltischen Staaten und Polen.“
  • Im Gegensatz zu den Weißen „verfügten die Roten über das, was notwendig war, um einen Bürgerkrieg im größten Land der Welt zu gewinnen: eine durch und durch zentralistische und rücksichtslose autoritäre Struktur. Dadurch konnten sie sogar katastrophale Inkompetenz überleben.“

Auch auf Seiten der westlichen Interventionsmächte konnte im Übrigen weder von einheitlichen noch gar gemeinsamen Zielstellungen die Rede sein. Teilweise blockierten sich die politischen Protagonisten gegenseitig – wie etwa im Falle Großbritanniens: Kriegsminister Winston Churchill befürwortete eine Bekämpfung der Bolschewiki mit allen Mitteln und auch den fragwürdigsten weißrussischen Verbündeten, wohingegen Premierminister Lloyd George nicht frei von Skrupeln war: „Sollten unsere Bemühungen in der Errichtung eines reaktionären Militärregimes in Russland enden, würde die britische Demokratie uns niemals verzeihen.“

 

Anthony Beevor: Russland. Revolution und Bürgerkrieg 1917 – 1921 (aus dem Englischen übertragen von Jens Hagestedt), C. Bertelsmann, München 2023, 669 Seiten, 40,00 Euro.