26. Jahrgang | Nummer 15 | 17. Juli 2023

Victory Is Possible – ?*

von Sarcasticus

Atomwaffen wurden bereits […] eingesetzt,

es gibt also kein Tabu!

 

Dmitri Medwedew,
Ex-Präsident Russlands

 

Ein Atomkrieg als Heilmittel […] ist ebenso hilfreich

wie eine Guillotine gegen Kopfschmerzen.

 

Irina Panina,

Direktorin des Moskauer Institutes

für internationale politische und wirtschaftliche Strategien

 

 

Die Tatsache, dass Russland über das weltweit größte Arsenal an Atomwaffen verfüge, habe den Westen unter Führung der USA nicht davon abgehalten, die Ukraine militärisch zu unterstützen, diese Hilfe immer weiter auszubauen und Russland damit in einen Zermürbungskrieg zu verwickeln. Das zeige, dass – anders als während des Kalten Krieges – die nukleare Abschreckung nicht mehr funktioniere. Eine entscheidende Ursache dafür läge darin, dass infolge von mehr als 70 Jahren Frieden die Furcht vor Atomwaffen verlorengegangen sei. Diese müsse dringend wiederhergestellt werden, um die Menschheit vor dem Untergang in einem thermonuklearen Weltkrieg zu bewahren.

So der Befund von Sergei Karaganow, eines auch im Westen namhaften außen- und sicherheitspolitischer Experten in Moskau, Ehrenvorsitzender des russischen Council for Foreign and Defense Policy (CFDP). Karaganow hat sich kürzlich mehrfach ausführlich zu diesen Fragen geäußert hat. Er sei, wie Friedrich Schmidt und Reihard Veser (FAZ) bemerkten, „kein Mann für die Massen, sondern eine zentrale Gestalt in der zwischen Wissenschaft und Politikberatungen oszillierenden Gemeinschaft der russischen Außenpolitikfachleute“. Karaganow galt, so Alexander Dubowy (Berliner Zeitung), über „zwei Jahrzehnte […] als ein einflussreicher Berater der russischen Präsidenten Boris Jelzin und Wladimir Putin“.

Mit seinem Befund steht Karaganow im Übrigen nicht allein. Auch Fjodor Lukjanow, Vorsitzender des CDFP-Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, beklagt, einen inzwischen verbreiteten „Unglaube(n), dass es wirklich zu einem ausgewachsenen Atomkrieg kommen kann, was dazu geführt hat, das die Existenzangst aus dem Spiel ist“. Und Dmitri Trenin (ausführlicher zu diesem siehe Blättchen 13/2023) sekundiert: „Die Amerikaner zeigten sich sogar […] gelassen, was die Stationierung russischer taktischer Atomwaffen in Weißrussland angeht. Diese ‚Furchtlosigkeit‘ ist eine direkte Folge der geopolitischen Veränderungen der letzten drei Jahrzehnte und des Generationswechsels der Macht in den USA und im Westen im Allgemeinen.“

Was Karaganow dann konkret vorschlägt, könnte man mit einem Begriff des deutschen Bundeskanzlers einen „Doppel-Wumms“ nennen – die Wiederherstellung einer allgemeinen Angst vor Atomwaffen und vor nuklearer Eskalation in der Welt (Wumms numero eins) soll zugleich einen russischen militärischen Erfolg in der Ukraine (Wumms numero zwei) herbeiführen. Denn, so Kraganow, „diese Militäroperation kann nicht mit einem entscheidenden Sieg enden, ohne dem Westen einen strategischen Rückzug oder gar eine Kapitulation aufzuzwingen“. Daher solle Moskau dem Westen ein klares Stoppsignal setzen, indem es den Konflikt nuklear eskaliert: Die atomare Einsatzschwelle solle gesenkt und die Anwendung taktischer Kernwaffen ultimativ angedroht werden. „Der Gegner muss wissen, dass wir bereit sind, einen präventiven Vergeltungsschlag für alle seine gegenwärtigen und vergangenen Aggressionen zu starten […].“ Und Karaganow sagt nicht nur A, sondern auch B: „Was aber, wenn die derzeitigen westlichen Führer sich weigern, kleinbeizugeben? […] Dann müssen wir eine Reihe von Zielen in einer Reihe von Ländern angreifen, um diejenigen, die ihren Verstand verloren haben, wieder zur Vernunft zu bringen.“ Die Atomschläge sollten sich dabei „gegen die Länder in Westeuropa richten, die das Söldnerregime in Kiew am meisten unterstützt haben“. Zugleich gibt sich Karaganow überzeugt, dass „die US-Amerikaner unter keinen Umständen auf einen Atomangriff auf ihre Verbündeten mit einem Atomangriff auf unser Territorium reagieren würden“. Die würden nicht Boston für Poznan opfern.

Die steilen Thesen Karaganows haben in Moskau eine lebhafte Debatte ausgelöst, in der der „Provokateur“ (FAZ) teils scharfem Gegenwind ausgesetzt war.

Trenin etwa hält Karaganows Kalkulation entgegen: Selbst wenn es keinen atomaren Gegenschlag der USA geben sollte, sei mit einer massiven nichtnuklearen Reaktion („empfindlich und schmerzhaft“) zu rechnen, um „den Willen der russischen Führung zu lähmen, den Krieg fortzusetzen“.

Wie eine solche Reaktion aussehen könnte, hatte Ex-CIA-Chef David Petraeus bereits vor einigen Monaten umrissen: Die USA könnten gemeinsam mit ihren NATO-Verbündeten „jede russische konventionelle Streitkraft ausschalten […], die wir auf dem Schlachtfeld in der Ukraine und auch auf der Krim sehen und identifizieren können, sowie jedes Schiff im Schwarzen Meer“.

Weiter Trenin: Es sei jedoch „unwahrscheinlich, dass die russische Führung nach einem solchen Schlag kapituliert, da zu diesem Zeitpunkt die Existenz Russlands auf dem Spiel stünde. Wahrscheinlicher ist, dass es zu einem Vergeltungsschlag kommen würde, und zwar dieses Mal, wie man annehmen kann, gegen den Hauptgegner und nicht gegen seine Vasallen“. Womit die atomare Apokalypse dann ihren Lauf nähme … Oder um es mit den Worten von Sergei Poletajew, eines Experten des Russian International Affairs Council (RIAC) zu sagen: „Dann würde unser Handeln sehr schnell zu genau jener Zerstörung der Menschheit führen, die der Professor [Karaganow – S.] zu vermeiden versucht.“

Zusätzliche Aspekte in die Debatte eingebracht haben unter anderem Ivan N. Timofeev, Professor an der Moskauer MGIMO-Universität und Programmdirektor des wichtigen Valdai-Clubs, und Ilja Fabritschnikow, Mitglied des CFDP. Timofeev warnte, dass „der präventive Einsatz von Atomwaffen die Probleme zwischen Russland und dem Westen nicht lösen wird. Er wird die internationale Position Russlands erheblich verschlechtern […].“ Nicht zuletzt, weil ein nuklearer Präventivschlag Moskaus dessen „Glaubwürdigkeit bei der globalen Mehrheit […] dramatisch sinken“ ließe, also bei Staaten wie China, Indien, Brasilien, Südafrika und anderen, mit denen Russland in Zusammenschlüssen wie der BRICS-Gruppe und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit eng verbunden ist. Fabritschnikow richtete sein Augenmerk darauf, dass ein russischer Kernwaffeneinsatz die entsprechende Hemmschwelle auch bei anderen Atommächten senken könnte; er nannte insbesondere „Pakistan, Indien, Israel und Nordkorea“.

Doch neben Gegenwind gab es in der „Gemeinschaft der russischen Außenpolitikfachleute“ durchaus auch andere Töne gegenüber Karaganow. Der sei, so Lukjanow, zu folgender Erkenntnis gekommen: „Die USA haben keine Angst mehr davor, einen umfassenden Krieg gegen eine nukleare Supermacht zu führen […]. Infolgedessen ist es ein kleiner Schritt zu einem Weltkrieg, der unweigerlich thermonuklear enden würde. Daher könnte sich herausstellen, dass die einzige Möglichkeit, eine solche Situation zu vermeiden, darin besteht, als vorbeugende Maßnahme einen nuklearen Vorfall zu inszenieren, allerdings nur einen lokalen.“

Etwa so lokal wie in Hiroshima und Nagasaki? Also mit lediglich 100.000 sofortigen Todesopfern und 130.000 weiteren in den anschließenden vier Monaten – statt mit zig-Millionen?

Wladimir Putin, der russische Präsident, hat sich natürlich nicht selbst auf das Spielfeld dieser Debatte begeben. Doch quasi von der Seitenlinie hat er schon einen Beitrag geleistet. Während des Sankt Petersburger Internationalen Wirtschaftsforums Mitte Juni 2023 wurde er mit dem Hinweis konfrontiert, dass „taktische Atomwaffen […] unter bestimmten Bedingungen wirksame Waffen“ sein, und beantwortete die Frage „Wie denken Sie darüber?“ kurz und bündig: „Ablehnend.“

Zugleich muss man jedoch im Hinterkopf behalten, dass es im heutigen Russland – wie schon in der Sowjetunion – in grundlegenden sicherheitspolitischen Fragen kein mit westlichen Gepflogenheiten vergleichbares freies Spiel der Kräfte gibt. Und insofern dürften Schmidt und Veser durchaus richtigliegen: „Karaganow ist ein Anzeiger dafür, welche Art von Äußerungen in der russischen Führung gerade gerne gehört werden – was nicht bedeutet, dass sie auch der tatsächlichen Politik entsprechen.“

 

P.S.: Sollten sich im weiteren Verlauf des Ukraine-Krieges in Moskau die Verfechter eines atomaren Stoppsignals an den Westen aber doch durchsetzen, dann wäre, da sind Beobachter sich ziemlich einig, erster Anwärter auf einen entsprechenden Militärschlag, der im Übrigen auch konventionell erfolgen könnte, – Polen. Zur Plausibilität dieser Annahme verwies Siegfried Fischer, langjährig vertraut mit der europäischen und transatlantischen Sicherheitspolitik sowie mit dem sicherheitspolitischen Denken im Umfeld des Kremls, gegenüber dem Autor auf folgende Sachverhalte:

  • Die polnische Regierung zähle zu den vehementesten Verfechtern einer weiteren Intensivierung der westlichen Waffenlieferungen an Kiew.
  • Polen sei die Drehscheibe für diese Lieferungen.
  • Polen sei engster Verbündeter Washingtons; demnächst werde im Lande eine US-Raketenabwehrbasis in Dienst gestellt, die nicht nur aus russischer Sicht zugleich für den Abschuss offensiver nuklearer Marschflugkörper ausgelegt sei. (Dazu ausführlicher Blättchen 5/2019 – S.).
  • Der polnische Präsident habe erst unlängst erneut die Stationierung von US-Atomwaffen im Lande gefordert. Dazu passe auch der polnische Vorschlag, Litauens Schutz durch die polnische Armee zu übernehmen sowie den militärischen Schutz der Westukraine zu garantieren.
  • Aus Polen komme überdies ein großer, wenn nicht sogar der größte Teil ausländischer Söldner in den Reihen der ukrainischen Streitkräfte.

Zu den von Karaganow für russische Atomschläge präferierten Zielgebieten gehört allerdings zweifellos auch Deutschland, denn völlig zutreffend und mit offenbar nicht unstolzem Unterton hat die hiesige Außenministerin in einem Namensbeitrag für den Guardian gerade erst wieder wissen lassen: „Heute ist Deutschland einer der führenden Waffenlieferanten für die Selbstverteidigung der Ukraine.“

 

* – „Sieg ist möglich“ – so lautete (allerdings ohne Fragezeichen und somit zumindest in korrektem Englisch) der Titel eines im Jahre 1980 im renommierten Magazin Foreign Policy publizierter Essays der US-Politologen Colin S. Gray und Keith Payne. Darin entwarfen die Autoren das Szenario eines umfassenden nuklearen Enthauptungsangriffs gegen die Sowjetunion und behaupteten, dieses ermögliche es den USA, aus einem atomaren Angriffskrieg als Sieger hervorzugehen. Um den Preis von lediglich um die 20 Millionen toten US-Bürgern.