Im Jahr 2022 war die Inflation laut einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie für 83 Prozent der Deutschen das beherrschende und alles andere überragende Thema. Gegenwärtig ist das offenbar nicht mehr so. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, dass überall alles immer teurer wird und vertrauen darauf, dass die Politik dies demnächst schon wieder richten werde. Gefordert ist hier die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). Diese aber kann die Inflation nicht direkt bekämpfen, sondern nur indirekt, indem sie die Leitzinsen anhebt und die Programme zum Ankauf von Wertpapieren zurückfährt. Und das tut sie seit einem Jahr beharrlich und konsequent. In bisher acht Schritten wurden die Leitzinsen erhöht. Der neunte Schritt wird für Ende Juli erwartet, der zehnte im September. Durch die eingeleiteten Maßnahmen kommt es über die Verteuerung der Kredite zu einem Rückgang der Investitionen und zu einer Reduktion der wirtschaftlichen Aktivität, bis der Preisdruck nachlässt. Das Ergebnis dieser Schocktherapie jedoch ist ungewiss: Möglicherweise ist am Ende die Inflation gestoppt, die konjunkturelle Erholung aber auch. Im ungünstigsten Fall findet die Wirtschaft nicht so bald auf einen gesunden Wachstumspfad zurück, sondern stürzt in eine Rezession, in eine Phase konjunktureller Stagnation mit hoher Arbeitslosigkeit und Deflation. Im Volksmund nennt man dies: „Den Teufel durch Beelzebub austreiben“!
Der EZB ist das Dilemma, in dem sie agiert, durchaus bewusst. Sie hat deshalb lange gezögert, überhaupt die „Zinswende“ einzuleiten. Nun aber, nachdem sie ein Jahr lang auf die Bremse tritt, spitzt sich die Lage gefährlich zu: Je länger die Inflation andauert, umso stärker müssen die Zinsen angehoben werden. Je mehr das Zinsniveau aber steigt, umso größer wird die Gefahr einer Rezession. Hinzu kommt, dass die Preise nicht überall in gleichem Tempo aufhören zu steigen, sondern die 20 Volkswirtschaften der Eurozone in Bezug auf die Inflation eine außerordentlich differenziertes Bild aufweisen. Dies gilt sowohl für den Inflationsverlauf und die Inflationsraten als auch für die Wirksamkeit der von der EZB ergriffenen Maßnahmen.
So differierten die Jahresinflationsraten (HVPI) auf dem Höhepunkt der Inflation, im Oktober 2022, gegenüber dem Vorjahr ganz erheblich: Die Spitze bildeten Estland mit 22,5 und Litauen mit 22,1 Prozent, am Ende lagen Frankreich mit 7,1 und Spanien mit 7,3 Prozent. Deutschland befand sich mit 11,6 Prozent im Mittelfeld, lag damit aber über dem Durchschnitt von 10,6 Prozent. Bis zum Juni 2023 hat sich das Bild deutlich verändert: Jetzt liegen die Slowakei mit 11,3 und Estland mit 9,0 Prozent an der Spitze. Die niedrigsten Inflationsraten weisen Luxemburg mit 1,0, Belgien mit 1,6 und Spanien mit 1,6 Prozent auf. Deutschland liegt mit 6,8 Prozent weiterhin über dem Durchschnitt (5,5 Prozent).
Bemerkenswert ist auch, dass sich diese Raten im Mittel und bei den meisten Ländern im Zeitverlauf beinahe halbiert haben und einige Volkswirtschaften sogar schon unter die Zielmarke von 2,0 Prozent gerutscht sind. Für Deutschland aber gilt beides nicht! Zuletzt ist die Inflationsrate hier sogar leicht angestiegen, von 6,3 auf 6,8 Prozent. Woran liegt das? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, da hierfür mehrere Faktoren ausschlaggebend sind. Zum einen die Abhängigkeit Deutschlands von importierter Energie, ausländischen Rohstoffen und Vorprodukten. Zum anderen aber auch, und darauf kommt es hier an, der hohe Konzentrationsgrad der deutschen Wirtschaft und die betonte Zurückhaltung der Politik bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Dämpfung des Preisanstiegs.
Deutschland ist so ziemlich das einzige Land im Euroraum, das lange Zeit tatenlos zugesehen hat, wie erst internationale Konzerne dreist und unverschämt die Preise für Energieträger, Pharmaprodukte und Lebensmittel anhoben, dann viele deutsche Großunternehmen diesem Beispiel folgten, nicht weniger dreist und unverschämt, und schließlich auch noch Einzelhandelsketten und andere Anbieter nachzogen, so dass das Preisniveau seit dem Sommer 2021 in immer neuen Runden hochgeschraubt wurde – zum Schaden der Konsumenten und Sparer, für die es keinen wirklichen Ausgleich dafür gibt. Mehr als anderswo haben es Unternehmen in Deutschland verstanden, den Kostenschub als „Vorwand“ dafür zu nehmen, „durch eine noch stärkere Erhöhung ihrer Absatzpreise auch ihre Gewinnsituation zu verbessern“, so Joachim Ragnitz vom ifo-Institut Dresden. Autorinnen und Autoren der Deutschen Bundesbank bestätigen dies, indem sie schreiben, dass es im Jahr 2022 „vielen Unternehmen“ gelungen sei, trotz steigender Kosten ihre Gewinnmargen „zu sichern“ und diese oftmals sogar noch „zu steigern“, während Lohn- und Gehaltsbezieher, Rentner und andere Kleinverdiener sowie alle Sparer reale Verluste ihrer Einkommen und Vermögen hinnehmen mussten.
Entscheidend dafür, ob die Inflation einem Unternehmen Kosten oder Gewinne einbringt, ist die jeweilige Macht desselben, seine Preisvorstellungen am Markt durchzusetzen. Über eine uneingeschränkte Preissetzungsmacht verfügen nur Großunternehmen, Monopole, Weltkonzerne, landesweit agierende Handelsketten wie Lidl, Aldi, Edeka, Rewe, Norma, Netto und Penny. Besonders leicht fällt ihnen dies bei Gütern, die eine extrem geringe Preiselastizität aufweisen und wo es nicht möglich ist, darauf zu verzichten oder auf andere Güter auszuweichen. Dies gilt für Energie, für Pharmaprodukte, viele Lebensmittel und notwendige Dienstleistungen, zum Beispiel in der Medizin und im Haushalt. Wie gewaltig die Preissetzungsmacht von Unternehmen in Deutschland ist, zeigt eine Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft für das Jahr 2022. Danach haben es rund 60 Prozent aller Unternehmen vermocht, ihre gestiegenen Kosten für Energie, Vorprodukte und Personal an ihre Kunden weiterzugeben. Weitere 37 Prozent sahen „zumindest Spielräume“ für eine solche Kostenweitergabe.
Gegen diese „Gewinninflation“ und „Gierflation“ der Unternehmen ist die EZB mit ihrer Geldpolitik völlig machtlos. Ihr Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel räumte dies kürzlich ein, indem sie feststellte: „Viele Firmen in der Euro-Zone sind die Profiteure der Inflation.“ Andere leiden darunter. Da die deutschen Unternehmen in besonderem Maße von der Inflation profitieren, darf man sich nicht wundern, wenn diese sich hierzulande etwas länger behauptet als in anderen Euro-Staaten. Politisch dagegen vorzugehen, läge nicht im Interesse der deutschen Wirtschaft.
Schlagwörter: Europäische Zentralbank, Geldpolitik, Inflation, Ulrich Busch, Wirtschaft