Die westlichen Medien versuchen derzeit, die Bevölkerung auf den erwünschten Sieg der ukrainischen Truppen einzustimmen, nicht zuletzt dank der westlichen Waffen und Unterstützung. Warum die Offensive noch nicht begonnen hatte, versuchte die kroatische Tageszeitung Večernji list am 3. Mai so zu erklären: „Als einer der Gründe wird angeführt, dass noch nicht alle versprochenen westlichen Waffen angekommen sind, trotz Jens Stoltenbergs Aussage, 98 Prozent seien geliefert, darunter 230 Panzer, die als entscheidend für den ukrainischen Erfolg gelten. Zweitens wurden mindestens 16 neue Brigaden mit über 50.000 Kämpfern gegründet. Diese Einheiten brauchen Zeit zur Vorbereitung und Ausbildung an den neuen Waffen. Drittens haben die Ukrainer keine Erfahrungen mit Offensiven auf so breiter Front und mit der Koordination einer so großen Zahl von Einheiten. […] Auch hat der Regen im April viele Straßen unpassierbar gemacht für schwere Waffen, weshalb man warten muss, bis der Boden getrocknet ist.“
Um die Verläufe des Krieges in der Ukraine zu verstehen, ist es hilfreich, Zahlen und Statistiken heranzuziehen. Nach UNO-Angaben befanden sich im März 2023 8,2 Millionen Ukrainer als Flüchtlinge im europäischen Ausland; 5,3 Millionen waren innerhalb der Ukraine auf der Flucht und 17,6 Millionen dort auf humanitäre Hilfe angewiesen. Von den 8,2 Millionen waren 2,85 Millionen in Russland, 1,58 Millionen in Polen, 1,06 Millionen in Deutschland, eine halbe Million in Tschechien und andere in weiteren Ländern Europas.
Die Bevölkerung der Ukraine war von über 50 Millionen Anfang der 1990er Jahre auf etwa 40 Millionen Einwohner Mitte der 2010er Jahre geschrumpft. Der Exodus begann nicht erst mit den kriegerischen Auseinandersetzungen seit 2014, sondern war bereits Folge einer weithin gescheiterten post-sozialistischen „Transformation“. Die Ukraine, zu sowjetischen Zeiten ein Zentrum der Schwerindustrie und des Luftfahrtbaus, wurde eines der ärmsten Länder Europas. Nach Bruttosozialprodukt pro Einwohner lag sie 2020 etwa gleichauf mit Kosovo und der Republik Moldau. Bei vergleichbaren Nachbarn lag die wirtschaftliche Entwicklung deutlich höher, im Falle Polens 4-fach, bei Rumänien 3-fach höher. Nach Angaben polnischer Gewerkschaften arbeiteten Ende der 2010er Jahre etwa 2,8 Millionen Ukrainer in Polen, knapp die Hälfte mit einem offiziellen Arbeitsvisum, die anderen „informell“.
Douglas MacGregor, pensionierter Oberst der US-Armee und Militärtheoretiker, wies im März 2023 darauf hin, dass die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine „niemals zurückkehren“ wollten. Insgesamt sei die Bevölkerung der Ukraine von etwa 37,4 Millionen bei Kriegsbeginn auf inzwischen 18 bis 22 Millionen gesunken. 40 Prozent der Infrastruktur der Städte sind zerstört. Bereits im ersten Kriegshalbjahr 2022 ging das Bruttoinlandsprodukt drastisch um etwa 40 bis 60 Prozent zurück. Zwei Drittel der Arbeitskräfte sind nicht mehr wertschöpfend beschäftigt, weil sie in den Streitkräften sind, ihre Fabriken zerstört wurden oder sie ins Ausland geflohen sind. So steht die Frage, was für wen am Ende ukrainischerseits verteidigt wird und unter welchen Voraussetzungen dies geschieht.
Was aber, wenn der erstrebte Sieg ausbleibt? Der Kreml-Astrologe Alexander Dubowy schrieb in der Berliner Zeitung vom 3. Mai in einem Anflug von Realismus, bei der geplanten ukrainischen Offensive handele „es sich wohl um die letzte Chance der Ukraine, den Krieg militärisch für sich zu entscheiden“. Die Erwartungen seien „enorm hoch“. „Sollte die ukrainische Offensive scheitern, droht Kiew nicht nur die Initiative an der Front zu verlieren, sondern zu einem langen und kostspieligen Stellungs- und Abnutzungskrieg gezwungen zu werden; mit letztlich kaum absehbaren Folgen für den Kriegsausgang.“ Angesichts der begrenzten Personal- und Materialressourcen werde man bei einem jetzigen Scheitern „kaum Gelegenheit haben, die verschlissenen Kampfverbände neu aufzustellen und auszurüsten“. Ohne Siege würden „früher oder später Fragen gestellt, ob es sich lohnt, die Ukraine weiter zu unterstützen“, zitierte Dubowy den Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes. Mit anderen Worten: Die letztliche Bezugsgröße des Krieges ist die US-amerikanische innenpolitische Szenerie. Donald Trump hat Joe Biden bereits unter Druck gesetzt, es würden Gelder der amerikanischen Steuerzahler vergeudet. Und über die künftigen Zahlungen entscheidet das Repräsentantenhaus, in dem die Republikaner eine Mehrheit haben.
Experten des Internationalen Währungsfonds (IWF) haben ausgerechnet, die Ukraine brauche bis 2027 123,5 Milliarden US-Dollar, um Militär, Polizei, Justiz und alle anderen öffentlichen Ausgaben zu bezahlen. Die Summe wurde errechnet unter der Maßgabe, dass der Krieg spätestens 2024 endet und die Ukraine sich allmählich wirtschaftlich erholt. Die Schuldenquote des ukrainischen Staates in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt (also unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Einbrüche, die der russische Angriffskrieg zur Folge hatte) stieg 2022 auf etwa 82 Prozent. Sie liegt 2023 bei etwa 100 Prozent der Wirtschaftsleistung. Unter diesen Voraussetzungen und angesichts der bisherigen Regeln, nach denen der IWF Kredite vergibt, war es schwierig, der Ukraine überhaupt eine Kreditwürdigkeit zuzubilligen. Der IWF hat dafür extra seine Regeln verändert. Nach den neuen Vorschriften darf der Währungsfonds die Ukraine weiter unterstützen, sofern andere dies ebenfalls tun. Das sind vor allem die USA und die EU. In Washington und Brüssel gelte die Regierung der Ukraine „als gutwilliger Schuldner“. Die Zusammenarbeit funktioniere, es würden Reformen umgesetzt, schrieb Die Zeit am 20. April. „Aber es gebe immer noch ein Korruptionsproblem, und die militärische Lage könne jederzeit eskalieren.“ Womit wohl eher das Scheitern der großen Offensive gemeint ist.
Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes waren im Zeitraum vom 24. Februar 2022 bis zum 24. Februar 2023 die USA der größte Unterstützer der Ukraine mit insgesamt 71,3 Milliarden Euro, davon 43,2 Milliarden militärische Hilfe, 24,5 Milliarden finanzielle Unterstützung und 3,6 Milliarden Euro für humanitäre Unterstützung. Im Grunde werden hier bereits die Proportionen deutlich. Die EU hatte etwa 30 Milliarden Euro zugesagt (nur finanzielle und humanitäre, keine militärische Unterstützung). In der rein bilateralen Berechnung folgte Großbritannien mit 9,8 Milliarden Euro auf Platz 2, Deutschland mit 7,4 Milliarden auf Platz 3. Rechnet man den Anteil Deutschlands an der EU-Unterstützung für die Ukraine hinzu, so war Deutschland zweitgrößter Unterstützer.
Die deutsche Statistik wies 41 Staaten aus, die militärische, finanzielle oder humanitäre Unterstützung geleistet haben, von den USA bis Taiwan, Ungarn, China, Malta und Indien, die ausschließlich humanitäre Unterstützung leisten. Die Gesamtsumme der 41 Geber betrug bei der finanziellen Unterstützung 69,7 Milliarden Euro, der militärischen Unterstützung 68,5 Milliarden und der humanitären 12,8 Milliarden Euro. Genau betrachtet ist es eine Unterstützung des Westens für die Kriegsfähigkeit der Ukraine, in Gestalt von Waffen und in Gestalt der Haushaltsfinanzierung.
Dem entspricht die Ausgabenpraxis der Kiewer Regierung. Nach aktuellen Ukraine-Analysen der Bremer Forschungsstelle Osteuropa wurden die Sozialausgaben im vergangenen Jahr um 30 Prozent gekürzt. Das hat, wie im deutschen Fernsehen Ende April berichtet wurde, unter anderem zur Folge, dass die Stadt Odessa die Unterbringung von Flüchtlingen aus der Ostukraine nicht mehr lange bezahlen kann. Dem steht gegenüber, dass ukrainische Frontsoldaten jetzt 100.000 Hrywnja (rund 2500 Euro) im Monat erhalten. Ein Soldat, „der dem Land dient und es vor dem Aggressor schützt“, so der ukrainische Generalstab, müsse „hoch motiviert sein“. Das sei eine faire Bezahlung und respektiere „die Soldaten, die ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren“. Die Ukrainer seien aufgerufen, „den Populismus“ in diesem Zusammenhang zu beenden und sich auf die Verteidigung zu konzentrieren. Dechiffriert: Es gibt im Lande „Populismus“ – also kritische Stimmen – in Bezug auf diese Besoldungspraxis.
Soldaten der Bundeswehr im Auslandseinsatz erhalten zusätzlich zu ihrer Inlandsbesoldung einen steuerfreien „Auslandsverwendungszuschlag“ unabhängig von Funktion und Dienstgrad, wobei sechs verschiedene „Belastungsstufen“ unterschieden werden; beim derzeitigen Mali-Einsatz sind das 145 Euro pro Tag, also für einen Monat von 30 Tagen 4350 Euro. Das ist deutlich mehr, als ukrainische Soldaten im Fronteinsatz bekommen, muss aber auf das Durchschnittsgehalt bezogen werden. In Deutschland waren dies 2021 etwa 3200 Euro, in der Ukraine im Jahr vor dem Krieg umgerechnet 412 Euro. So gesehen sind 2500 Euro in der Ukraine eine andere Größe als insgesamt 10.000 Euro, die ein Bundeswehrangehöriger im Auslandseinsatz insgesamt monatlich erhält. Der Unterschied aber ist: Deutsche Soldaten werden aus dem deutschen Steueraufkommen bezahlt, ukrainische mit den westlichen Subsidien, also ebenfalls vom deutschen oder US-amerikanischen Steuerzahler.
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