„Die Sache haben sie gesehen, nicht aber die Ursache“
Augustinus (354–430)
In dem Bemühen der öffentlichen Meinung, „die Dinge“ – Menschen auch! – mit Stempeln zu versehen, fokussiert sich die Bewertung unserer derzeitigen Regierung auf „Ankündigungsunternehmung“. Solches Verhalten und das Erscheinungsbild sind weder sensationell noch originell – so funktioniert Werbung. Nur hat Politik die Eigenheit, sich sofort, später, kurzzeitig oder dauerhaft auszuwirken, auch personalisiert als Täter, mehrheitlich als Betroffene. In der Regel kommen Täter, häufig durch Dekrete oder Verträge besser geschützt als durch Leibwächter, dabei günstiger weg.
Beispiel für „Betroffene“: Bei einer der ersten Wohlfahrtsleistungen des Staates zur Abfederung der Energiekomplikationen blieben 21,12 Millionen Rentner und mehrheitlich auch die 1.360.800 Pensionsbezieher ausgespart. Das sei einerseits nicht bedacht worden, hieß es gegen aufflackernde Kritik, und zudem habe es doch kürzlich Rentenerhöhungen gegeben (was in keinem sachlichen Zusammenhang steht). Dem folgte die Ankündigung, das werde man demnächst wohltätig revidieren, auch damit dieser Teil unserer Gesellschaft Kraft und Lust zum „Unterhaken“ kriegt. Vielleicht aber auch weiter bedacht, die Betroffenen könnten ohne solches noch intensiver nachgrübeln, warum an ihnen und von ihnen gespart werden muss, während es bei der internationalen Liga der Kriegsgewinnler aus Rechtsstaatsgründen keine Abschläge geben kann. Nicht unerwartet: Bislang ist hier nichts angekommen von den versprochenen Wohltaten.
Beispiel für „Täter“: Die SPD stellt den Kanzler – und das war der Erfolg für diese Partei. Die Grünen probieren nun zu regieren nach dem Modell ihrer Parteitage, wonach die Führenden weitermachen, sofern sie nicht einen Job mit staatlicher oder anderer gesellschaftlicher Versorgung vorziehen; auch wenn diese Lichtgestalten in Machtpositionen das Gegenteil dessen praktizieren, was in ihren Programmen steht. Aber sie reagieren häufig betroffen von den Umständen. Ungeachtet möglicher Skrupel, nicht ohne Nutzung des Erpressungspotenzials den Partnern gegenüber, regieren die FDP-Spitzen nach Programm forsch vermittels Geld: Sie haben diese Ampel ermöglicht. Basta! Da mögen die anderen stöhnen, aber Übergewinnprofite bleiben, zusätzliche Steuersenkungen sind in Vorbereitung.
Gibt es Aussicht auf eine tragbare innen- und außenpolitische Konzeption für deutsche Interessen? Soll das etwa die angekündigte Initiative zu einer Agenda für deutsche Innen- und Außenpolitik in allen Bereichen unter Leitung des Außenministeriums mit dem Versprechen werden, dies in kurzer Frist zustande zu bringen? Was wird es nützen, wenn dem das Credo der Außenministerin zugrunde gelegt wird, wonach es ihre Aufgabe sei, eine möglichst vollständige Front aller anderen Staaten gegen Russland zu formieren? Und unmittelbar für das Auswärtige Amt und die Gesellschaft gilt schon jetzt: Die Ukraine bestimmt und bekommt, was sie will und braucht, und perspektivisch kriegt sie den Anspruch zugesichert, ohne Volumen- oder Zeitbegrenzung Hilfen „einzuklagen“, wie von den hier „regierenden Botschaftern“ verbal bereits praktiziert, einschließlich Notenverteilung im Gastland. So entstehen neue Abhängigkeiten.
Das Handelsblatt schrieb am 22. November: „Die Top-Meldung im ‚heute journal‘ des ZDF war gestern der Streit um die Kapitänsarmbinden mit ‚One Love‘ Motiv …“ Das Blatt fuhr fort: „Für die Zukunft des Westens und seiner Werte könnte allerdings eine andere Meldung aus Katar noch ein bisschen relevanter sein: der weltgrößte Flüssiggasproduzent Qatar Energie und der chinesische Staatskonzern Sinopec haben gestern ein Abkommen über den Export von verflüssigtem Erdgas (LNG) im Umfang von 108 Millionen Tonnen über 27 Jahre geschlossen – und damit einen der größten Gaslieferverträge überhaupt.“ Zwar verbietet sich eine unprofessionelle Bewertung, nicht aber die Frage: Ist und wirkt „Abhängigkeit“ nicht günstig als globale Vernetzung? Lösen wir uns qualvoll aus der einen Abhängigkeit zugunsten anderer, in der Hoffnung, es dabei nicht mit einem künftigen Gegner zu tun zu kriegen; zu welchem Preis und mit welchen Auswirkungen auf die Klimakatastrophe?
Noch als Generalsekretär hatte Lars Klingbeil die SPD zu einer „modernen Volkspartei“ machen wollen. „Wenn wir alles richtig machen, dann liegt vor uns ein sozialdemokratisches Jahrzehnt in Deutschland, aber auch in Europa.“ Das war die Videobotschaft vom 7. November 2021. Fast auf den Tag genau ein Jahr später fand in Berlin der „Debattenkonvent“ der SPD statt. Das Ganze mündete in einem Beschluss: „Vier Missionen für ein sozialdemokratisches Jahrzehnt“. (siehe Blättchen 23/2022). Zusammenfassend Klingbeil: „Unser Anspruch ist es, dass das sozialdemokratische Jahrzehnt nicht nur eins ist, in dem wir Wahlen gewinnen, sondern auch eines, in dem wir sozialdemokratische Politik für die Bürgerinnen und Bürger machen.“ Das geforderte „Unterhaken aller miteinander“ reicht dafür offenbar nicht: „Es gibt bei vielen anderen Ländern den Wunsch, dass Deutschland sich stärker einmischt. Deutschland muss eine Führungsrolle einnehmen, wenn es darum geht, selbstbewusst für unsere Werte zu stehen.“ Ähnliche Ansprüche gehören schon zur deutschen Geschichte – also „Schicksal“ mit wechselnden Akteuren?
Offenbar hatte Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner Asienreise am unpassenden Objekt versucht, dieser Führungsrolle gerecht zu werden: Übereinstimmend wird berichtet, er habe „klare Kante“ von Vietnam gegen Russlands Angriffskrieg „gefordert“. Vielleicht wären deutsche Emissäre – auch mit missionarischer Attitüde – besser beraten, auf den indischen Außenminister Jaishankar zu hören, der laut Indian Express vom 10. Juni 2022 äußerte: „Europa muss aus der Denkweise herauswachsen, dass die Probleme Europas die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas.“
Verweilen wir kurz bei dem Anspruch des SPD-Vorsitzenden, mit der Ausrufung eines neuen sozialdemokratischen Jahrzehnts an Erfolge eines vergangenen anzuknüpfen, verbunden mit der Geschichtsklitterung, die „Neue Ostpolitik“ als deren außenpolitischer Kern sei von Anfang an falsch und schädlich gewesen. Deutschland sei dadurch in russische Abhängigkeit geraten, aus der man sich um jeden Preis lösen müsse, und die neue Gegnerschaft müsse konsequent und andauernd praktiziert werden. Bemerkenswert, dass diese Konzeption richtig kalkuliert scheint: kein Sturm der Empörung, weder bei Mitgliedern und Freunden der Partei noch in der verbreiteten öffentlichen Meinung. Vielmehr wird zumeist mit Befriedigung zitiert, dass die „Neue Ostpolitik“ von Anbeginn falsch war. Nebenher wird damit auch eine historische Rechtfertigung für die Gegner der Oder-Neiße Friedensgrenze angeboten, die zunächst von der DDR mit Polen (6. Juni 1950) völkerrechtlich, von der Bundesrepublik de facto (7. Dezember 1970) und von der neuen Bundesrepublik am 14. November 1990 völkerrechtlich anerkannt wurde. „Willy Brandt an die Wand“ war seinerzeit gängige Morddrohung für dessen Beitrag zur Befriedung dieses Krisenherdes.
Im Allgemeinen wird unter „sozialdemokratischem Jahrzehnt“ die Kanzlerschaft der Sozialdemokraten Brandt und Schmidt verstanden, also deutsche Geschichte zwischen 1969 und 1982 mit Vorläufern wie den 68ern und Auswirkungen bis zur deutschen Einheit. Wenn Bundeskanzler Kohl als Vater der Einheit gilt, wäre nach dieser Lesart Brandt der Großvater. Zwar bekannte sich Klingbeil noch zu Brandt als persönlichem Vorbild: „Ich werde nicht zulassen, dass sein Erbe beschädigt wird.“ Der Tagesspiegel sah das so: “Nur Willy Brandt bleibt verschont.“ Dessen Verfallszeit wird indirekt angekündigt.
Egon Bahr wurde bereits zuvor als Unperson behandelt. Vermutlich auch, weil er nach Selbstliquidierung des „Kommunismus“ als Staatsideologie in der Sowjetunion und deren Auflösung als einheitlicher Staat sowie dem US-amerikanischen Konzept, die Nachfolgestaaten unter Botmäßigkeit zu halten, 1998 voraussah: „Auch Amerika wird nicht glauben, dass Russland immer so schwach bleibt, wie es ist. Sein Wiedererstarken zu verhindern, soweit daraus eine Bedrohung Amerikas entstehen könnte, läge nahe.“ Wäre da Ostpolitik als Konzeption einer europäischen Friedensordnung mit Russland, mit den USA und Kanada nicht verstärkt als förderungswert und pfleglich anzustreben gewesen?
Der jetzige SPD-Vorsitzende hat Russland demonstrativ den langfristigen Krieg erklärt. Könnte sein, in Moskau nimmt man das zur Kenntnis und wägt die Gefährdung durch diese veränderte Position ab – von der deutschen Dankbarkeit für die sowjetische Zustimmung zum Übertritt der DDR in den NATO-Verbund zur erklärten Feindschaft.
Dazu passt diese Sentenz der FAZ vom 22. November zur labilen aktuellen Lage: „Für kurze Zeit stand die Gefahr eines dritten Weltkriegs im Raum. Die NATO hat besonnen reagiert, die Ukraine nicht. Und Moskau ging nicht mal ans Krisentelefon.“ Ziemlich ungünstige Startbedingungen für ein neues „sozialdemokratisches Jahrzehnt“ der SPD als Spitze der Staatsmacht mit Bundespräsident, Kanzler und Bundestagspräsidentin; damit in voller Verantwortung auch für das, was Koalitionspartner, aber auch die eigenen Parteiführer so sagen und treiben.
Schlagwörter: Herbert Bertsch, Lars Klingbeil, Ostpolitik, Russland, sozialdemokratisches Jahrzehnt, SPD, Willy Brandt