25. Jahrgang | Nummer 24 | 21. November 2022

Verführung in das aufgeklärte Berlin

von Wolfgang Brauer

Ich mag die Bücher Michael Bienerts über Berlin und seine Literaten. Sie sind vorzüglich recherchiert, gut erzählt und vom Verlag exzellent gestaltet und gedruckt. Selbst Kenner der Materie dürften sie mit Gewinn lesen. Das wird auch mit dem jüngsten Produkt dieser bemerkenswerten Reihe so sein, dem Band „Das aufgeklärte Berlin“.

Wer eine staubtrockene Kulturgeschichte der ohnehin als staubtrocken geltenden „Berliner Aufklärung“ erwartet, dürfte auf überraschende Weise enttäuscht werden. Bienert verführt zu Spaziergängen durch das friderizianische Berlin. Kunstvoll spielt er dabei mit dem Doppelsinn dieses Wortes: In der ursprünglichen Bedeutung waren „Spazier-Gänge“ die Wege, die man schlendernd zu absolvieren hatte, wenn man „dazugehören“ wollte. Die Passegiata sozusagen: „Die Castanien-Bäume“ (die Allee am Tiergarten), „Die Linden“ (da standen einst solche Bäume), „Der Weidendamm“ (an den erinnert nur noch die Friedrichstraßen-Brücke). Die genannten Bäume geben die Titel dreier Gedichte, die Anna Louisa Karsch (die „Karschin“) 1761 als „Die Spazier-Gaenge von Berlin“ drucken ließ.

Bienert beschränkt sich nicht darauf: Er führt uns zum Caroussel im Lustgarten, dort begegnen wir einem verärgerten Lessing, der wie alle Bürgerlichen zu diesem Vergnügungsort Eintritt zahlen musste. Der Adel hatte das umsonst. Wir besuchen natürlich das Königliche Opernhaus, das schon damals mit Ausnahme des Glanzes wenig Besonderes aufzuweisen hatte. Ganz anders das heute vergessene Doebbelinsche Theater in der Behrenstraße 55, das sich seit 1764 als „literarische Institution“ (Bienert) etablierte: Lessings „Minna von Barnhelm“ feierte hier umjubelte Berliner Premiere – im Unterschied zum hamburgischen Uraufführungspublikum wusste man an der Spree, worum es ging, und verstand auch die klitzekleinste Anspielung –, Goethes „Goetz“ kam hier zur Uraufführung. Dem König missfiel das Stück, aber er ließ es passieren. „Stella“ hingegen wurde wegen „Unmoral“ verboten. „Nathan der Weise“ hatte bei Doebbelin seine Uraufführung – die Lessing nicht mehr erlebte. Er starb zwei Jahre vorher. An Carl Theophil Doebbelin erinnert heute nichts mehr. Ich fände es gut, wenn die Komische Oper Berlin von ihrer exorbitanten Umbausumme wenige hundert Euro abzwackte und eine Gedenktafel an den verdienten Theatermann am Portal anbrächte. Genau an der Stelle ihres Hauses stand dessen Theater.

Apropos Unmoral. Michael Bienert führt uns auch in das „Feenhaus“ (Friedrichstraße 63). Dort befand sich das Etablissement der Elise (Charlotte?) Schuwitz, „eine der schönsten Capellen, wo man der Venus opfern kann […]“. Das sagt Mamsell Elise selbst in ihrer (fingierten?) Autobiografie. Und: „Meine Priesterinnen waren die niedlichsten, reinlichsten und muntersten Geschöpfe von der Welt.“ Von wegen stocksteif-trockenes Berlin!

Aber sonst geht es ernster zu. Wir besuchen den Prinzen Heinrich in dessen Linden-Palais – heute Hauptgebäude der Humboldt-Universität – und begegnen Goethe. Immanuel Kant hingegen nirgends, der Königsberger Professor hat Berlin nie betreten. Aber Bienert weist zu Recht darauf hin, dass Kant zu den prägenden Autoren der Berlinischen Monatsschrift gehört, einer der wesentlichen deutschen Aufklärungs-Zeitschriften. Von der Wohnung des Prinzen Heinrich wie auch von der Dienstwohnung Johann Erich Biesters, des Leiters der Königlichen Bibliothek – der „Kommode“, heute Juristische Fakultät der Universität –, blickt man auf den Bebelplatz. Hier brannte am 1. Mai 1933 die freiheitlich und demokratisch gesinnte Literatur. Bücherverbrennen hat Tradition in Berlin. Am 24. Dezember 1752 ließ Friedrich II. wahrscheinlich auf dem Gendarmenmarkt ein Buch seines Freundes Voltaire verbrennen. Bienert erzählt die Geschichte – Philosophen und Literaten sollten sich nie der Gunst der Herrschenden auf alle Zeiten sicher sein. Voltaire verstand den Wink mit dem Scheiterhaufen und verschwand 1753 aus Preußen.

Wir hingegen bleiben, lassen uns vom Autor an die Hand nehmen, überqueren beide Arme der Spree Richtung Marienkirche und stoßen auf ein in das Pflaster eingelassenes Denkmal Micha Ullmanns aus dem Jahre 2017. Die Bodenplatte erinnert an das Haus Spandauer Straße 68. Hier wohnte Moses Mendelssohn. „Selten berührte ein fremder Gelehrter Berlin, ohne sich bei ihm einführen zu lassen“, zitiert Bienert die erste große Saloniere der Stadt, Henriette Herz. Hier hatten aber auch Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Karl Wilhelm Ramler, Christlob Mylius, Gotthold Ephraim Lessing und der Schriftsteller und Verleger Friedrich Nicolai – zu Unrecht unterschätzter „Hauptgott“ der Berliner Aufklärung – einmal Wohnung genommen. Bienert mokiert sich zu Recht darüber, dass dieser Ort auf den „Netzwerker“ Mendelssohn reduziert wird.

Überhaupt vermag sein Buch dem Berliner Rezensenten nur die Schamesröte ins Gesicht zu treiben. Unsere Stadt hat die musealen Erinnerungsorte an diese großen Autoren und Denker systematisch abgeräumt und weigert sich bis heute in Gestalt ignoranter Groß-Museumsdirektoren, sie wieder auferstehen zu lassen. Das noch existierende Nicolai-Haus in der Brüderstraße – es wäre der Standort für ein Museum der Berliner Aufklärung – ist de facto ein toter Ort. Und wo Lessing einst die „Minna“ schrieb, steht heute ein Warenhaus, dessen Betreiber gerade mal wieder in die Pleite rutschen. „Bey dem oder jenem Banquier werden einige Capitale ietzt mit verschwinden“, zitiert der Autor mit schriftstellerischer Hinterlist Lessings Titelheldin.

Bienert stellt wehmütig fest: „Im ausgehenden 19. Jahrhundert gab es einen Bürgerstolz auf das, was Lessing, Mendelssohn und Nicolai für das geistige Leben der Stadt geleistet haben.“

Tempi passati …

Michael Bienert: Das aufgeklärte Berlin. Literarische Schauplätze, Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2022, 160 Seiten, 28,00 Euro.

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Bienerts Buch widmet dieser Frau ein eigenes Kapitel. Zu Recht. Sie war die Erste. Sie war die erste deutsche Dichterin, die sich freischaffend durchschlug, weil sie sich nicht mehr versoffenen und sonst wie verkommenen Kerlen unterwerfen wollte. Sie kam aus ärmlichsten Verhältnissen und trat mit einer Courage, die man nur wenigen ihrer männlichen Zeitgenossen zubilligen kann, fordernd vor einen König, vor dem halb Europa zitterte. Sie war die erste Preußin, die sich von ihrem ersten Ehemann, einem Tuchmacher aus Schwiebus, scheiden ließ. Die erste Ehescheidung in Preußen überhaupt. Den zweiten – einen noch erbärmlicheren Trunkenbold – wird sie los, weil sie den Werbern des Königs einen Wink gab … Der desertierte zwar, hatte aber seitdem gute Gründe, preußischen Boden nicht mehr zu betreten. Die Rede ist von Anna Louisa Karsch. Am 1. Dezember könnte Berlin den 300. Geburtstag seiner wahrscheinlich interessantesten Dichterin begehen. Halberstadt am Harz hat am Beispiel der Karschin der Hauptstadt einiges an Achtsamkeit im Umgang mit Menschen, in deren historischer Schuld wir stehen, voraus. Das dortige Gleimhaus widmete ihr 2022 ein ganzes Themenjahr „Frauen und Künste“. Die Karschin lernte Johann Wilhelm Gleim im Mai 1761 – sie war erst Ende Januar völlig mittellos in der Stadt angekommen – in Berlin persönlich kennen. Man traf sich ausgerechnet am Venusbecken im Tiergarten. Aber Gleim, der ihr zuvor den Anakreontiker-Namen „Sappho“ verpasste, stand nicht auf Frauen. Er hielt auf körperliche Distanz. Man blieb aber eng befreundet. Aus dem geplanten Umzug der Dichterin nach Halberstadt wurde nichts, sie lebte bis zu ihrem Tod in Berlin. Aber Gleim war es, der 1802 den noch immer an der Sophienkirche angebrachten Gedenkstein an die Freundin initiierte und bezahlte. Im Blättchen hatte ich vor einiger Zeit die Romanbiografie der Karschin von Waltraud Naumann-Beyer empfohlen, da kann man én detail die vorberliner Geschichte der Dichterin nachlesen. Annett Gröschner konzentriert sich im jüngsten Heft der „Frankfurter Buntbücher“ auf die Berliner Jahre der Poetin, vor der immerhin Kollegen wie Goethe, Herder, Mendelssohn und Heine den Hut zogen … Auch Gröschner nimmt die reimende Kollegin sehr ernst und entdeckt im 1761er Zyklus „Die Spazier-Gaenge von Berlin“ höchst Aktuelles, „eine Antikriegsdemonstration“. Und das bei einer Poetin, die Jubelgedichte auf die Schlachten des Königs geschrieben hatte und vom Potsdamer Geizkragen die Finanzierung eines eigenen Hauses erwartete. Fridericus Rex, der ansonsten die deutschen Dichter verabscheute, hatte ihr die Lösung ihrer Wohnungsnot in die Hand versprochen. Angesichts der brieflichen Beschreibung des täglichen Ringens Anna Louisa Karschs oft um die nackte Existenz bemerkt die Autorin: „Solche Sätze könnte auch heute noch jede alleinerziehende freischaffende Schriftstellerin schreiben, ohne dass die 250 Jahre, die seitdem vergangen sind, großartig ins Gewicht fallen würden.“

Genießen Sie dieses bemerkenswerte Büchlein – und bringen Sie der Karschin am 1. Dezember eine Rose vorbei. Vielleicht sehen wir uns …

Annett Gröschner: „Die Spazier-Gaenge von Berlin“ Anna Louisa Karsch (1722–1791). Frankfurter Buntbücher 71, Kleist-Museum / Verlag für Berlin – Brandenburg, Frankfurt (Oder) / Berlin 2022, 32 Seiten, 8,00 Euro.