Vor zwei Jahren publizierte Das Blättchen eine ausführliche Besprechung über ein Buch zur DDR-Geschichte, das 2020 in Paris erschienen war (Das Blättchen 25/2020). Das war an sich eher ungewöhnlich, behandelte jedoch ein auch für Blättchen-Leser wichtiges Thema. Vermittelt hatte den Text Detlef Nakath, einer der kundigsten Zeithistoriker zum Thema DDR, der leider im vergangenen Jahr viel zu früh gestorben ist. Die beiden Autorinnen, Agnès Arp und Élisa Goudin-Steinmann, nannten ihr Buch: „La RDA après la RDA. Des Allemands de l’Est racontent“ (deutsch: „Die DDR nach der DDR. Ostdeutsche erzählen“). Die Rezensentin, Sonia Combe, ebenfalls Historikerin und Mitglied des deutsch-französischen Forschungszentrums Marc Bloch in Berlin, schrieb damals: „Seit dreißig Jahren wird die Geschichte der DDR hauptsächlich von westdeutschen Historikern erzählt. Sie sagen den Ostdeutschen, was sie erlebt haben.“ Das Buch von Arp und Goudin-Steinmann habe das Zeug, ein „großes Narrativ“ der Deutschen in der DDR zu werden. Das gilt auch für den Band von Sonia Combe, der kürzlich herausgekommen ist.
Bereits damals wurde im Blättchen mitgeteilt, Combes Buch über „die kommunistischen Remigranten in die DDR“ sei 2019 in Frankreich erschienen und werde im Ch. Links Verlag eine deutsche Ausgabe erhalten. Das ist nunmehr geschehen. Die Übersetzerin, Dorothee Röseberg, merkt allerdings an, dass Combes Buch in Frankreich ein „zustimmendes und neugieriges Interesse“ fand, in Deutschland jedoch, so in der FAZ und auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung, „in einem antikommunistischen Tonfall in die Ecke der DDR-Nostalgie verbannt“ worden sei. Die Verwalter der heutigen bundesdeutschen Staatsideologie wollten das Werk offenbar nicht. So erklärt sich auch die dreijährige Verzögerung. Finanziert wurde das Erscheinen am Ende im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums. Also, im Klartext: Die französische Regierung finanziert die deutsche Ausgabe eines Buches über einen zentralen Gegenstand der deutschen Nachkriegsgeschichte, weil es den deutschen Ideologie-Verwesern nicht in den Kram passte. Und die Übersetzung wurde unterstützt durch die „Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V.“, was die vereinsrechtlich verfasste Fortsetzerin der Akademie der Wissenschaften der DDR ist.
Das Forschungsinteresse Combes richtete sich seit den 1980er Jahren auf Persönlichkeiten, die nach 1945 nach Deutschland zurückgekehrt waren, „um dort einen sozialistischen Staat aufzubauen“, sowie auf deren biologische und geistige Nachkommen. Es sei nicht schwer gewesen, „solche Menschen zu treffen. Viele von ihnen waren jüdischer Herkunft, sie bildeten eine Schicksalsgemeinschaft als Parias des Nationalsozialismus, sie gehörten zu den Verfolgten des ‚Dritten Reiches‘ und zu jenen, die es bekämpft hatten.“ Sie schwiegen meist, „aber nicht etwa aus Angst oder Feigheit, sondern weil sie ihrem Ideal treu geblieben sind“. Biographisch betrachtet verteidigten sie damit ihre Entscheidung für die DDR. Sie wollten „nicht dorthin gehen, wo die Gehlen und Globke sind“.
Die Persönlichkeiten, um die es Combe geht, betrachtet sie idealtypisch als marxistische Intellektuelle, die nicht Parteifunktionäre im ursprünglichen Sinne oder „Apparatschiks“ sind, wohl aber für die Partei, der sie angehören, und den Sozialismus eintreten. „Ohne den Einfluss dieser Intellektuellen, die zumeist charismatische Persönlichkeiten waren und als moralische Instanzen in der Gesellschaft galten, ist die beeindruckende Stabilität des Systems nicht zu verstehen, die für die DDR über so viele Jahre hinweg, bis zu ihrem letzten Atemzug, so charakteristisch war.“ Dies wiederum nachzuvollziehen, müsse man sich in das 20. Jahrhundert zurückversetzen, „als die großen Ideologien noch lebendig waren und Überzeugungen das psychische Fundament der engagierten Intellektuellen bildeten“.
Mehr oder weniger ausführlich behandelt werden einzelne bekannte Personen, die Parteimitglieder waren oder dem Kommunismus zugerechnet wurden, so Max Schroeder, in der Gründungszeit Cheflektor des Aufbau-Verlages, der Dramatiker Bertolt Brecht, die Schriftstellerin Anna Seghers, der Philosoph Georg Lukács, der Ungar war, aber in der intellektuellen Szenerie der DDR in den 1950er Jahren eine wichtige Rolle spielte, der Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski, Hanns Eisler, Komponist der Opern Brechts, und sein Bruder Gerhart Eisler, in der DDR Chef des Staatlichen Rundfunkkomitees.
Zugleich hat Combe eine Fülle autobiographischer Texte ausgewertet von nicht so prominenten Personen. Interessant sind auch Nebenstränge, hierzulande oft unbekannt. So sind in den USA von der deutschen Emigration insgesamt die meisten nach dem Kriege nicht nach Deutschland zurückgekehrt, die Kommunisten jedoch remigrierten, weil sie befürchteten, durch die antikommunistische Hysterie der McCarthy-Zeit wieder zu Staatenlosen gemacht zu werden. In Deutschland fühlten sie sich zunächst oft nicht wohl, weil die Einheimischen sich bereits seit den 1940er Jahren selbst als Opfer ansahen und von Mitschuld für Hitler nichts wissen wollten. Aber in der DDR hatten – im Unterschied zur BRD – die Antifaschisten wenigstens die Macht.
„Die Entzauberung“ der DDR-Realisation des Sozialismus aus der Perspektive der kommunistischen Remigranten verortet Combe zwischen den stalinistischen Schauprozessen in Budapest und Prag Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre und dem „Manifest“ einer Opposition innerhalb der SED, das Der Spiegel 1978 publizierte – einer Opposition, von der damals allerdings niemand wusste, ob es sie wirklich gab oder ob dies eine westdeutsche Erfindung war.
Als die „Erben“ bezeichnet Combe vor allem die „Übergangsgeneration“, die meist in den 1920er Jahren Geborenen – wie Heiner Müller, Christa Wolf, Franz Fühmann, Volker Braun oder Hermann Kant, für die Remigranten wie Brecht, seine Frau Helene Weigel, Anna Seghers, Arnold Zweig oder der Sänger und Schauspieler Ernst Busch in einem unmittelbaren oder auch geistigen Sinne Mentoren, respektive Bezugspersonen waren. In diesem Sinne zitiert Combe Heiner Müller: „Dieses Parteiergreifen für die DDR hing mit Brecht zusammen, Brecht war die Legitimation, warum man für die DDR sein konnte. Das war ganz wichtig. Weil Brecht da war, musste man dableiben. […] Ein Beweis für die Überlegenheit des Systems war die bessere Literatur.“
Längere Passagen des Buches befassen sich mit dem Schicksal der Familie von Horst Brasch, der gleich nach dem Krieg aus Großbritannien nach Deutschland zurückkehrte, stellvertretender Kulturminister wurde, als „Betonkopf“ galt und wegen der kritischen politischen Aktivitäten seines Sohnes Thomas Brasch gemaßregelt wurde. Jürgen Kuczynskis Weg dagegen gilt als „exemplarisch“.
Die Rolle der jüdischen Intellektuellen sieht Combe als Moment „der deutsch-jüdischen Symbiose“: „Anders als die Zionisten dachten, war für diese Marxisten der Antisemitismus weder ewig noch natürlich, und sie trugen die Überzeugung in sich, dass der Kommunismus ihn überwinden würde.“ Daher das Fazit: „Die Remigranten waren in den Ostteil Deutschlands mit Erwartungen gegangen – nicht ohne Befürchtungen –, aber sie fanden hier Gleichgesinnte, ihre Sprache, ihre Kultur und sie bauten, als höhere Revanche der Geschichte, ein Deutschland auf, das dem ‚Dritten Reich‘ entgegenstand. Für die Remigranten jüdischer Herkunft war es eine Revanche in doppelter Hinsicht. In der DDR setzten sie nicht nur den Kampf gegen das kapitalistische System fort, sondern auch gegen jenes Deutschland, das ihren Tod als Juden beschlossen hatte, ein Deutschland, dessen Erbe für sie die Bundesrepublik repräsentierte.“
Am Ende kommt die Autorin nochmals auf Kuczynski zurück und macht geltend: „Die kritischen Marxisten waren innerhalb der Partei sozusagen die Stoßdämpfer latenter Konflikte. Sie verlegten sich darauf, auf bessere Zeiten zu warten. Auch das, was offensichtlich war, wollten sie nicht anerkennen: die Unmöglichkeit, die Partei von innen heraus zu reformieren. Diese Haltung war Teil der Irrationalität und Grund ihres Scheiterns.“ Letztlich seien diese Frauen und Männer aber „von der Geschichte betrogen worden“.
Wer mehr über die DDR erfahren will, als in der westdeutsch bestimmten Geschichtsinterpretation seit 30 Jahren vorgegeben wird, findet in diesem Band hilfreiche Anregungen.
Sonia Combe: Loyal um jeden Preis. „Linientreue Dissidenten“ im Sozialismus, Ch. Links Verlag, Berlin 2022, 270 Seiten, 25,00 Euro.
Schlagwörter: DDR, Dissident, Emigration, Erhard Crome, jüdisch, Loyalität, Sonia Combe, Sozialismus