23. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2020

Die DDR nach der DDR

von Sonia Combe

Seit dreißig Jahren wird die Geschichte der DDR hauptsächlich von westdeutschen Historikern erzählt. Sie sagen den Ostdeutschen, was sie erlebt haben. Zwei französische Forscherinnen, Agnès Arp und Elisa Goudin-Steinmann, haben jetzt ein Buch vorgelegt, das „das große Narrativ“ der Deutschen in der DDR sein könnte. Basierend auf Zeugnissen, die auf Distanz zu dem dominierenden negativen Diskurs gehen, bekräftigt das Buch La RDA après la RDA (Die DDR nach der DDR), wie fruchtbar die Methode der Oral History sowie die eines Blicks von außen auf ein Untersuchungsobjekt sind.

Dreißig Jahre nach der Vereinigung ist Deutschland zweifellos immer noch geteilt zwischen Ostdeutschen, den „Ossis“, und Westdeutschen, den „Wessis“. Das Wort „Wiedervereinigung“ wird von den Autorinnen in Frage gestellt, da es sich nicht darum handelte, Deutschland in seinen Grenzen vor dem Zweiten Weltkrieg wieder zu vereinigen, sondern nur das, was davon übriggeblieben war. Das Wort Wiedervereinigung wird jedoch im allgemeinen Sprachgebrauch benutzt, weil die Deutschen das Ende der Teilung am 3. Oktober 1990 so empfanden.

Die Kluft zwischen Ossis und Wessis, die weiterhin besteht und auch auf die nach 1989 geborene Generation wirkt, ist darauf zurückzuführen, dass die DDR von der BRD kurzerhand „absorbiert“ und ihre Geschichte von den Entscheidern pauschal verworfen wurde. Eine der befragten Personen gebrauchte dafür den bildlichen Ausdruck: „Man ist mit dem Mähdrescher darübergefahren.“ Wenngleich die vor einem Jahr von Christoph Hein und Daniela Dahn beschriebenen Prozesse der methodischen Zerstörung des industriellen Gewebes der DDR, die Nivellierung all ihrer Institutionen, angefangen von den Universitäten über das Gesundheitswesen bis zu den Kultureinrichtungen, bekannt sind, so weiß man über die im vorliegenden Buch live erzählten Aspekte weit weniger; Auswirkungen, die mit der Auflösung sozialer Bindungen, aber auch von Paarbeziehungen, der beruflichen Dequalifizierung und dem dadurch ausgelösten Frustrationsgefühl zusammenhingen. Das Buch sprudelt über von anschaulichen Details, etwa das Einstampfen von einer halben Million 1989 frisch gedruckter Bücher, die auf den Müll geworfen wurden. Darunter waren deutsche Klassiker, Werke der Exilliteratur oder Bach-Partituren. Man wollte mit der Vergangenheit Tabula rasa machen.

Zunächst wurden die Strukturen des kommunistischen Machtapparates und in der Hauptsache dessen Unterdrückungs- und Überwachungsmechanismen untersucht, und zwar dank eines noch nie dagewesenen Zugangs zu den Archiven der politischen Polizei, der Stasi, was dazu führte, dass man die „einfachen“ Leute vergaß. Einzig die Literatur, Schriftsteller wie Ingo Schulze, oder das Kino, Regisseure wie Andreas Dresen, die der wissenschaftlichen Historiographie voraus waren, hatten bisher den Alltag der Bürger behandelt. Die Essayistin Jana Hensel meint, die Ostdeutschen müssten sich seit dreißig Jahren dauernd rechtfertigen. Im Kollektiv und als Individuum wurden sie als Komplizen einer Willkürherrschaft eingestuft. Dabei wurde vergessen, dass die SED-Herrschaft nicht nur und vor allem nicht zu jedem Zeitpunkt eine solche Willkürherrschaft war. Wenn man genauer hinsieht, zeigen die Archive der Stasi, dass weit mehr Menschen die Kollaboration verweigert als ihr zugestimmt hatten.

Seit kurzem – spät, aber immerhin – interessieren sich die Forscher vorsichtig für das, was sie als das „Intime“ bezeichnen. Ein Thema, das Agnès Arp und Elisa Goudin-Steinmann offensiv angehen: „Indem wir den Lebensgeschichten der Ostdeutschen, also derjenigen, die in der DDR sozialisiert wurden, zuhören, geben wir ihnen einen Gesprächsraum, der bis vor kurzem noch nicht existierte. So erreicht ihr Erlebtes den öffentlichen Raum. Sie werden anerkannt und legitimiert und sie können sich in ein allgemein geteiltes Kollektivgedächtnis integrieren.“ Man muss es laut sagen: In der DDR konnte man glücklich sein. Vor allem wenn man sich aus der Politik heraus- und von der Macht fernhielt.

Nachdem man das Ende des von Dissidenten und kritischen Intellektuellen, deren Wortführerin die Schriftstellerin Christa Wolf war, vorgeschlagenen „Dritten Wegs“ verschmerzt hatte, war das Aufwachen umso brutaler: Der „Dritte Weg“ war der Traum von einem wirklich sozialistischen Deutschland im Rahmen eines Deutschen Bundes, in den jeder Teil das jeweils Beste von sich eingebracht hätte, mithin westliche Meinungs- und Redefreiheit und ostdeutsche Sozialpolitik. Die danach entstandenen biographischen Brüche führten zu Orientierungslosigkeit und Verlust des Selbstvertrauens. So etwa berichtet die 70 Jahre alte Erika, die mit ihrem Mann in den bekannten Carl-Zeiss-Werken in Jena gearbeitet hatte – beide hatten gleich nach der Vereinigung ihren Arbeitsplatz verloren: „Eines Tages meinte mein Mann zu mir, ich habe hier viele Jahre als Handwerker gearbeitet, ich habe alles aufgebaut und jetzt… jetzt muss ich alles kaputt machen, alles abbauen, und dann hat er angefangen zu weinen.“ Dazu schreiben die Autorinnen des Buches, dass für viele die Tatsache, dass „man eine Fabrik, die man mit aufgebaut hatte, nun demontieren musste, eine Metapher gewesen ist für die Wende“. Liest man diese Zeugnisse, wird klar, wie sehr die dichotomische Vorstellung von einer zweigeteilten Gesellschaft – hier diejenigen, die für die Stasi spionierten, dort diejenigen, die bespitzelt wurden – eine Vereinfachung ist. Es gab unendlich viele Schattierungen „zwischen radikaler und wirklich militanter Opposition, die natürlich mit großer Gefahr verbunden war, und der totalen und vollständigen Akzeptanz des Regimes“. Das Konzept des „Eigensinns“ ist passgenau zu diesen breitgefächerten individuellen Verhaltensmöglichkeiten und erlaubt es, die Dichotomie Täter/ Opfer hinter sich zu lassen.

Natürlich könnte man in vielen Gesprächen das klassische Phänomen der Vergangenheitsverklärung erkennen, zum Beispiel, wenn man sich an die Solidarität am Arbeitsplatz erinnert und dabei den Verdacht vergisst, den man gegen den einen oder anderen Kollegen hegte, er könnte für die Stasi arbeiten. Oder wenn man dieses Gefühl der Geborgenheit anspricht, des sozialen Schutzes, und man deshalb „eine Familie gründen konnte, in der Gewissheit, sie ohne Schwierigkeiten ernähren zu können“, trotz Versorgungslücken. Und doch steht man fassungslos vor der von Arp und Goudin-Steinmann beschriebenen Tatsache, dass in den ersten Monaten der „Wende“ die Zahl der zur Adoption freigegebenen Kinder durch junge Paare anstieg, die von den brutalen Folgen der Wiedervereinigung aus dem Gleichgewicht geworfen worden waren.

Was den Antifaschismus anbelangt, die Gründungsideologie der DDR, die mit dem Mauerfall als Mythos beschrieben wurde und heute angeklagt wird, dazu beigetragen zu haben, die Shoah zu verschleiern und dem Antisemitismus Vorschub zu leisten (sic!), so liest man hier eine weit differenziertere Interpretation der Erinnerungskonstruktion der Nazivergangenheit. Der Antifaschismus wurde in das familiäre und kollektive Gedächtnis integriert und vermittelte das Gefühl, auf der guten Seite gestanden zu haben. Gewiss erlaubte er es auch, in öffentlichen Debatten die Konfrontation mit der eigenen Verantwortung zu vermeiden, indem die DDR, wie Österreich, als „das erste Opfer Hitlers“ erschien. Und trotzdem: Von Heiner Müller bis Christa Wolf über Franz Fühmann und viele andere wurde dieses Thema in der ostdeutschen Literatur breit behandelt. Ich möchte an dieser Stelle nur auf ein Gedicht von Johannes R. Becher hinweisen, des ersten ostdeutschen Kulturministers, und zwar Die Kinderschuhe von Lublin. Damit thematisierte Becher die Schuhe, die die Kinder vor dem Betreten der Gaskammern ausziehen mussten. In der DDR lernten alle Kinder dieses Gedicht in der Schule, und zwar in der 8. oder 9. Klasse – ein Gedicht, das in der BRD völlig unbekannt war.

Heute wissen wir, dass es an den Universitäten nach der Wiedervereinigung zu einer, man muss es wohl so nennen, „Säuberung“ kam: Drei Viertel der ostdeutschen Hochschullehrer verloren ihre Stelle, obwohl nicht alle Stasispitzel oder Zensoren waren, die kritische Studenten von der Universität vertrieben hatten, wenngleich es auch solche gab. Gerüchte wurden lanciert, um störende Stimmen zu disqualifizieren. Die Rede des Schriftstellers Stefan Heym, Antifaschist und Jude, der als Alterspräsident 1994 den neuen Bundestag eröffnete, wurde boykottiert, da ein vom rechten Flügel der CDU in Umlauf gebrachtes Gerücht ihn als Stasiinformanten diffamiert hatte. Er erstattete Anzeige und wurde von jedem Verdacht freigesprochen. Die Presse aber erwähnte dies mit keinem Wort. (Man kann auch an die Intrige gegen Christa Wolf denken, die in den Medien ein großes Echo fand, während der Inhalt der „belastenden” Akte verschwiegen wurde, weil er so geringfügig war.)

Allenthalben Tiefschläge gegen die intellektuelle Elite eines zu Boden geworfenen Landes! Den Ostdeutschen blieb nichts erspart, das sie entwerten konnte. Und all das, nachdem der Großteil seinen Arbeitsplatz eingebüßt hatte und sich mit „Gelegenheitsjobs“ begnügen musste. Ihnen wurde ein unreifer Geist unterstellt, ideologisch mobilisiert, überprotegiert durch ihren Staat, eine „paternalistische“ Diktatur, die von der Wiege bis zur Bahre alles regelte. Heute sind die Ostdeutschen auf Grund der Wahlerfolge der extremen Rechten in den „neuen Ländern“ zu einem bevorzugten Ziel des aggressiven Diskurses gegen die DDR geworden.

Die lächerlichste These war vor Jahren von dem Kriminologen Christian Pfeiffer in Umlauf gebracht worden, der zufolge die Tatsache, dass die Kinder in den Krippen in der DDR zusammen und zur selben Zeit auf den Topf geschickt wurden, die faschistischen Tendenzen in Ostdeutschland erklären würde. Im Westen hatten die Kinderkrippen einen schlechten Ruf, da westdeutsche Frauen lieber ihren Beruf aufgaben, um sich der Erziehung ihrer Kinder zu widmen. Bei den befragten Personen findet man nicht nur positive Erinnerungen an das alte Regime, wenngleich diese dominieren; meist sind sie ambivalent. Was etwa die Krippen betrifft, so erinnern sich einige Mütter daran, dass es viel Militärspielzeug gab, und sie teilen mit den westdeutschen Frauen den Wunsch, sich um ihre Kinder zu kümmern. Andererseits haben auch viele westdeutsche Frauen die Vorteile von Kinderkrippen für sich entdeckt.

Man sagt, dass Deutschland „die Mauer durch eine soziale Kluft“ ersetzt habe. Würde dies das Wahlverhalten der Deutschen erklären? Zum Teil sicherlich. Frustration, Deklassierung und Erniedrigung, mehr noch vielleicht als ein niedriger Lebensstandard, bilden den Nährboden, auf dem rechtsextreme Parteien gedeihen. Aber der Anstieg von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, die man gerne auf Ostdeutschland beschränken möchte, ist auch in Westdeutschland Wirklichkeit, wo er aber weniger untersucht wird. So hat die Amadeu Antonio-Stiftung etwa, die Untersuchungen zu diesem Thema finanziert, diese auf die ehemalige DDR beschränkt. Geld erhält man für Studien über Ostdeutschland, nicht über Westdeutschland – weshalb ein Vergleich unmöglich ist.

In ihrem sehr erfolgreichen Buch mit dem Titel Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten, hat die sozialdemokratische Sozialministerin des Landes Sachsen, Petra Köpping, zu erklären versucht, warum die Unterschiede im Wahlverhalten nicht so sehr auf einen von der DDR ererbten Habitus zurückzuführen sind, sondern auf die Geschehnisse nach 1990. Agnès Arp und Elisa Goudin-Steinmann kommen auch zu dem Schluss, dass die Wahlerfolge der AfD im Osten nicht so sehr mit der DDR-Vergangenheit zusammenhängen als vielmehr mit den wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen nach der Wiedervereinigung.

Das gegenwärtige Phänomen der „Wiederaneignung“ der eigenen Geschichte durch die Ostdeutschen, das in einem eigenen Kapitel untersucht wird, setzt mit der Bestätigung dessen ein, was die Medien als „ostdeutsche Identität“ bezeichnen – eine Identität, die nach und wegen der Wiedervereinigung entstanden ist. Obwohl sie zunächst in einer Art Umkehrschluss als negative Identität definiert wurde, würde sich die Wahrnehmung dieser Identität durch die auch im Westen immer häufigere Hervorhebung des von der DDR inspirierten alternativen Sozialmodells nun ändern. Nicht wenige ehemalige Opfer des kommunistischen Regimes sagen heute, sie seien sich dessen bewusst, was der Staat damals auf dem Gebiet der sozialen Sicherung geleistet hat. Die Tatsache, dass man unter der Willkür eines Regimes gelitten hat, hindert nicht daran, die Fallstricke der neoliberalen Gesellschaft kenntlich zu machen. Das soziale Sicherungssystem der DDR galt nicht nur für den Arbeitsplatz – Arbeitslosigkeit existierte nicht –, sondern auch für das Wohnen, die Gesundheit und die Erziehung.

Vor kurzem wurde eine für den Osten positive Entdeckung gemacht: Das Niveau ostdeutscher Mädchen in Mathematik ist höher als das westdeutscher! Unverdächtige Forscher haben gezeigt, in Bezug auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist die Ungleichheit der Geschlechter heute in den ehemaligen Ländern des Ostblocks weniger stark ausgeprägt als im Rest Europas. Was das Schulsystem anbelangt, so schlussfolgern Arp und Goudin-Steinmann, schien die DDR auch da ein alternatives Modell verfolgt zu haben, „und zwar die Wahrscheinlichkeit, in den naturwissenschaftlichen Fächern – gleich ob Junge oder Mädchen – Erfolg zu haben“. Von Kindheit an wurden sie den Jungen gleichgestellt – eine Folge des progressiven Denkens in der kommunistischen Ideologie – und waren dadurch kompetitiver als die Männer. Auch wenn Ostdeutsche in wichtigen Positionen an Universitäten, in Parteien und Verwaltung unterrepräsentiert sind, gibt es heute in Deutschland mehr ostdeutsche Frauen in wichtigen gesellschaftlichen Funktionen als ostdeutsche Männer.

Hinzu kommt: Im Osten, so scheint es, war die sexuelle Freiheit der Frauen größer als im Westen. Hier war die Dominanz der Männer wohl auch aus finanziellen Gründen weniger drückend als im Westen. Zudem erfährt man durch diese Untersuchungen auch von einem einzigartigen Faktum in der Geschichte der DDR und der kommunistischen Welt insgesamt: In der DDR (wo die Pille bereits seit 1966 kostenlos zu erhalten war) wurde das Gesetz zur Legalisierung der Abtreibung zwar 1972 verabschiedet, jedoch nicht einstimmig. 14 Abgeordnete der Volkskammer hatten sich aus religiösen Gründen widersetzt und acht der Stimme enthalten.

Wenn auch die hier erzählten Lebenswege nicht homogen sind, so wurden sie doch alle von dem historisch einmaligen Vorfall mit voller Wucht getroffen, dass ein Land von einem anderen einverleibt wurde. Diese Tatsache unterscheidet die DDR von den anderen ehemals kommunistischen Gesellschaften, deren Geschichte von denen, die sie selbst erlebt hatten, geschrieben wurde. Oder, um es anders auszudrücken: Es sind nicht die Sieger der Geschichte, die das Monopol der historischen Deutungshoheit haben. Die DDR ist nunmehr zu einem „Erbschaftsobjekt“ herabgesunken. Nachdem ihre Spuren verwischt wurden, tauchen sie wieder auf, auch wenn das im Zweiten Weltkrieg zerbombte und von der DDR abgerissene Hohenzollernschloss auf dem Schutt der einstigen Volkskammer der DDR wieder aufgebaut wurde.

Diese Arbeit kann man in Bezug auf ihren Faktenreichtum sowie die Aufbereitung der Inhalte nur loben: Nie wird darauf verzichtet, hoch komplexe Zusammenhänge zu erklären. Lediglich das letzte Kapitel scheint mir zu vertrauensvoll in die Zukunft zu blicken. Könnte es sein, dass die Forscher, nachdem sie zunächst die DDR verteufelt hatten, im Wissen um die Folgen einer solchen Diabolisierung einen „turn“ vollziehen? Das jedenfalls lassen die beiden Autorinnen anklingen. „Vom epistemologischen Dogma des Totalitarismus befreit, betrachten heute zahlreiche Forscher die Rückwendung zu biografischen Interviews als unabdingbar für das Studium der ostdeutschen Vergangenheit.“ Warum um alles in der Welt haben sie denn nicht schon früher daran gedacht? Zu ihrer Entlastung kann man vorbringen, dass es vor allem die Geschichtsschreibung von oben war, also die Arbeit mit Quellen aus Parteiarchiven oder aus den Archiven der Ministerien und der Stasi, die eine Finanzierung ermöglichte. Und von derartigen Drittmitteln sind die Universitäten und Forschungseinrichtungen heute in Deutschland weit mehr als in Frankreich abhängig.

Diese Fokussierung auf die Macht hat dazu geführt, das DDR-Regime nur mit der nationalsozialistischen Diktatur zu vergleichen, nicht aber mit der Bundesrepublik. Wenn auch die meisten Forscher die Ansicht verwerfen, beide Systeme seien gleich gewesen, so haben sie doch nolens volens dazu beigetragen, dass diese ein Gemeinplatz im öffentlichen Diskurs geworden ist. Ganz zu Recht räumen die beiden Forscherinnen der Kritik des aus Ostdeutschland gebürtigen Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk an den „Geschichtspolitikern“ des außeruniversitären Personals der „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ breiten Raum ein. In ihrem Glauben daran, dass „das Wissen um das Funktionieren der Diktatur die Identifikation der Deutschen mit der Demokratie verstärken könnte“, hat diese Stiftung den gegenteiligen Effekt produziert. Dieser machtvollen Stiftung verdankt sich das einseitige Bild der DDR und die These von der zweiten deutschen Diktatur. Eine parallel durchgeführte Erforschung der beiden deutschen Republiken in Zeiten des Kalten Krieges würde die Möglichkeit bieten, das heutige Gesamtdeutschland besser zu verstehen.

Kürzlich hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung 40 Millionen Euro freigegeben, und zwar um allein die Erforschung zur DDR wieder anzukurbeln, mit dem Fokus auf Untersuchungen zu deren Opfern. Es ist tatsächlich höchste Zeit, sich auch für die „Opfer der Wiedervereinigung“ zu interessieren, wie es Agnès Arp und Elisa Goudin-Steinmann getan haben. Sie lassen mit Blick auf 30 Jahre deutsche Vereinigung die Schlussfolgerung zu, dass ein anderer Weg nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert gewesen wäre.

Agnès Arp et Élisa Goudin-Steinmann: La RDA après la RDA. Des Allemands de l’Est racontent (Die DDR nach der DDR. Ostdeutsche erzählen), Nouveau Monde Éditions, Paris 2020, 404 Seiten, 19,90 Euro.

Sonia Combe, Historikerin, Mitglied des deutsch-französischen Forschungszentrums Marc Bloch in Berlin; ihr jüngstes Buch über die kommunistischen Remigranten in die DDR „La loyauté à tout prix. Les floués du socialisme réel“ (2019) wird im Christoph Links Verlag auf Deutsch herauskommen. Die Originalfassung dieses Artikels erschien in der Pariser Online-Zeitschrift En attendant Nadeau. (https://www.en-attendant-nadeau.fr/2020/10/09/rda-apres-rda/). Der Text wurde von Markus Hiltl in Zusammenarbeit mit Hélène Roussel und Rudolf Dieckmann übersetzt. Die Redaktion dankt der Autorin und En attendant Nadeau für die Nachnutzungsgenehmigung.