Mit der Beendigung des Ankaufs von Wertpapieren und der Anhebung der Leitzinsen um 0,5 Prozent im Juli hat die Europäische Zentralbank (EZB) einen wichtigen Schritt in Richtung Wiederherstellung geldpolitischer Normalität vollzogen. Sie hatte lange gezögert, bis sie sich endlich dazu entschlossen hat. Aber es gab auch gute Gründe dafür, nicht übereilt zu handeln, sondern die „Zinswende“ umsichtig und maßvoll zu vollziehen. Letztlich ließ ihr der anhaltend hohe Anstieg der Verbraucherpreise in der Eurozone aber keine Wahl. Die jährliche Inflationsrate im Euroraum betrug im August 2022 satte 9,1 Prozent. Die für die Geldpolitik relevante Kerninflationsrate (ohne Energie, Nahrungs- und Genussmittel) lag bei 4,3 Prozent. Das ist deutlich mehr als die Zielinflationsrate von 2,0 Prozent vorgibt. Bemerkenswert ist auch die regionale Differenzierung: Betrug der Preisniveauanstieg in Frankreich 6,1 Prozent, so liegt er in Estland aktuell bei 25,0 Prozent. In Deutschland waren es zuletzt 8,8 Prozent (HVPI = Harmonisierter Verbraucherpreisindex) bzw. 3,2 Prozent (Kerninflationsrate).
Mit der anhaltenden Verfestigung der Inflation auf hohem Niveau hat der politische Druck auf die EZB zugenommen, dagegen geldpolitisch vorzugehen. Nicht nur die Medien haben die EZB zur „Retterin“ vor dem Übel der Inflation stilisiert. Auch von Politikberatern und Fachleuten wird inzwischen ein Ende der ultralockeren Geldpolitik gefordert. Dabei liegt es auf der Hand, dass die gegenwärtige Teuerung kein Resultat der expansiven Geldpolitik ist. Da trotz sich eintrübender Konjunkturaussichten und teilweise bröckelnder Rohstoffpreise die Aufwärtsrisiken für die Verbraucherpreise weiter hoch sind, verstärkte sich zuletzt der Druck auf die EZB noch, die Leitzinsen abermals anzuheben. Die Notenbank kam dem am 8. September nach, indem sie eine zweite Leitzinserhöhung beschloss, diesmal um 0,75 Prozent. Damit steigen der Hauptrefinanzierungszinssatz und der Zins für die Spitzenrefinanzierungsfazilität, zu dem sich Banken bei der EZB Geld borgen, auf 1,25 Prozent bzw. 1,5 Prozent und der Zins für die Einlagefazilität, der bis Juli negativ war, auf 0,75 Prozent. Diese deutliche Zinsanhebung ist zweifellos ein mutiger Schritt, aber es ist der Mut der Verzweiflung, der hier das Handeln der EZB bestimmt.
Hatte die erste Zinsanhebung vor allem Signalwirkung, während der ökonomische Effekt eher gering war, so sind diesmal durchaus ökonomische Effekte zu erwarten. Wohl kaum aber ein schnelles Ende der Inflation. Denn erstens betreibt die EZB keine Preispolitik und hat mithin auf das vor allem spekulations- und gewinngetriebene Preissetzungsverhalten der Konzerne keinerlei Einfluss (siehe Blättchen 13/2022). Zweitens ist der Wirkungszusammenhang einer Leitzinsänderung derart komplex, dass nur eine zeitlich stark verzögerte und vielfach modifizierte Wirkung auf die Preisentwicklung zu erwarteten ist. Und drittens gilt es zu beachten, dass es sich bei der momentanen Teuerung um eine „Angebotsinflation“ handelt, deren Dynamik von steigenden Kosten und Gewinnen, nicht aber von einer überbordenden Nachfrage, bestimmt wird. Die Hauptursache der Inflation sind die spekulationsbedingt steigenden Importpreise für fossile Energieträger. Diese sind systemische Preise, die nach und nach die gesamte Wirtschaft durchdringen. Ihre Dynamik lässt sich mit geldpolitischen Instrumenten nicht beeinflussen. Die Geldpolitik ist hier also ziemlich machtlos.
Eine restriktive Geldpolitik, wie die EZB sie jetzt beginnt zu betreiben, wirkt reduzierend auf die ohnehin schwächelnde Kreditnachfrage und damit auf das Investitionsgeschehen. Bei den Bauinvestitionen ist dies bereits spürbar. In Bezug auf die Verbraucherpreisentwicklung jedoch muss sie wirkungslos bleiben. Es gibt nur zwei Effekte, die sich hier mittelbar positiv bemerkbar machen werden: Erstens wird dadurch die weitere Abwertung des Euro gebremst, was die importierte Inflation (im Maße einer Aufwertung) verringern könnte. Da es vor allem die Preise für importierte Energieträger und Rohstoffe sind, welche die Inflation treiben, ist dieses Faktum nicht zu unterschätzen. Und zweitens bewirkt oder befördert die restriktive Geldpolitik in den Volkswirtschaften der Eurozone eine Rezession. Dies ist mit einem Verfall der Rohstoffpreise, Tarife und Unternehmensgewinne verbunden, welcher letztlich auf die Verbraucherpreise durchschlägt und sich damit dämpfend auf die Inflation auswirken wird. Insofern wäre damit der Effekt einer Brechung der Inflationsdynamik erreicht – allerdings um den Preis einer Rezession, negativen Wirtschaftswachstums und steigender Arbeitslosigkeit!
Abgesehen vom preissenkenden Effekt durch die Euro-Aufwertung kann die Notenbank die Angebotspreise und damit die Inflation nicht beeinflussen, mit ihrer Zinspolitik aber die Gesamtwirtschaft schwer belasten. Dies weiß natürlich auch die EZB. Vorsichtshalber wurde deshalb ein neues Instrument installiert (TPI = Transmission Protection Instrument), womit sichergestellt werden soll, dass die Umsetzung der nunmehr restriktiven Geldpolitik in finanzschwachen Ländern wir Italien oder Griechenland nicht zu einem finanziellen Kollaps führt. Beachtliche Risiken bleiben jedoch bestehen.
Die Risiken nehmen noch zu, sollten die inflationsbedingten Kaufkraftverluste im Herbst in die Lohnforderungen der Gewerkschaften einfließen und sich schließlich vollumfänglich in den Lohnabschlüssen niederschlagen. In diesem Fall käme es zu einer Lohn-Preis-Spirale und die Inflation würde 2023/24 nicht zurückgehen, sondern eine gesteigerte Fortsetzung finden. Bislang haben wir es vor allem mit einer Teuerung bei Energie, Rohstoffen sowie Nahrungs- und Genussmitteln zu tun. Die Gründe hierfür sind die Spekulation auf den entsprechenden Märkten, die auf eine Gewinnmaximierung ausgerichtete Preispolitik der Konzerne, Corona-bedingte Lieferengpässe und Produktionsausfälle, bestimmte Knappheiten und der Krieg in der Ukraine. Würde es nun aber zu einem kräftigen Anstieg der Löhne kommen, wobei diese um mehr als die Zielinflationsrate und den Produktivitätszuwachs zulegten, so würde dies die Inflation weiter anheizen. Dies wäre das denkbar ungünstigste Szenario für Deutschland und für die Eurozone. Daher ist allen Vorschlägen zu folgen, die davon ausgehen, dass die Kaufkraftverluste, die die Bevölkerung infolge der Teuerung erleidet, vor allem durch Einmalzahlungen und direkte staatliche Zuwendungen, weniger aber durch Lohnsteigerungen, die in die Kosten künftiger Produktion eingehen, auszugleichen sind. – Wer mehr darüber lesen möchte, dem sei als weiterführende Lektüre das aktuelle Heft 238 der „Pankower Vorträge“ („Zwischen Inflation und Rezession. Die Europäische Zentralbank im Dilemma zwischen Inflationsbekämpfung und Stabilisierung der Euro-Zone“) empfohlen.
Schlagwörter: EZB, Geldpolitik, Inflation, Preispolitik, Ulrich Busch