Die Würfel sind gefallen: Der EZB-Rat fasste auf seiner Sitzung am 9. Juni 2022 weitreichende geldpolitische Beschlüsse, so die Einstellung des Ankaufs von Wertpapieren im Rahmen des APP (Asset Purchase Programme) zum 1. Juli 2022 und die Wiederanlage der Tilgungsbeträge des bereits am 31. März ausgelaufenen Pandemie-Notfallankaufprogramms (PEPP). Damit ist der Weg frei für eine Erhöhung der Leitzinsen. Eine solche beabsichtigt der EZB-Rat im Juli zu beschließen. Zunächst in Höhe von 0,25 Prozent. Im September dann voraussichtlich um weitere 0,25 oder 0,5 Prozent. Ausschlaggebend dafür seien, so die Europäische Zentralbank (EZB), „die mittelfristigen Inflationsaussichten“. Zudem betont die EZB, dass sie ihr Möglichstes tun wird, um sicherzustellen, dass sich die gegenwärtig hohe Inflation mittelfristig wieder bei ihrem „Zielwert von 2,0 Prozent“ stabilisiert. Diese Einschätzung wird in den Medien als zu vorsichtig und der Lage nicht angemessen beurteilt. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass eine Notenbank, die Zinserhöhungen beschließt, die sie kurze Zeit später wieder kassieren muss, weil sie mit ihrer Konjunktur- und Inflationsprognose danebenlag, ihre Reputation verlieren würde. Heiner Flassbeck befürchtet in diesem Fall einen geldpolitischen „Super-Gau“, den die EZB keinesfalls riskieren dürfe.
Liest man die Kommentare, die unmittelbar nach der Sitzung des EZB-Rates abgegeben wurden, so wird sehr schnell klar, dass die Beschlüssen vor dem Hintergrund und in direkter Reaktion auf den zunehmenden Inflationsdruck zustande gekommen sind. Vor allem aber auf Druck der öffentlichen Meinung und einiger Politiker, die nicht müde werden, der EZB angesichts ihres vorsichtigen Agierens Untätigkeit und Versagen vorzuwerfen. Seit Monaten dem Trommelfeuer einschlägiger Medien ausgesetzt und mit immer neuen Hiobsmeldungen der Preisstatistik konfrontiert, blieb der EZB zuletzt nichts anderes übrig, als eine Anhebung der Leitzinsen in die Wege zu leiten. Dabei sind die Argumente, die für eine solche Maßnahme ins Feld geführt werden, außerordentlich dürftig. Dies beginnt mit der Beschreibung und begrifflichen Fassung dessen, was wir seit Herbst letzten Jahres beobachten: Zweifellos gibt es in der Eurozone und in Deutschland seit dem zweiten Halbjahr 2021 verstärkt Preissteigerungen und einen Anstieg des Preisniveaus, gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI). Die Teuerung ist jedoch nicht allgemeiner Natur, sondern wird ganz wesentlich vom Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise getragen. Dieser wiederum ist eindeutig angebotsbedingt, also auf Produktions- und Lieferengpässe, Kostensteigerungen oder das Spekulationsverhalten von Anbietern zurückzuführen, nicht aber auf eine überhöhte Nachfrage. Er lässt sich folglich auch nicht durch geldpolitische Maßnahmen wie die Anhebung der Leitzinsen, welche über eine Verteuerung von Bankkrediten die Nachfrage reduzieren würde, beheben.
Rechnet man die sehr volatilen Energie- und Lebensmittelpreise bei der Bestimmung des Preisniveaus heraus, so erhält man die „Kerninflationsrate“. Diese aber ist kaum halb so hoch wie der HVPI. Dies lässt darauf schließen, dass es derzeit in Deutschland und im Euroraum (noch) keine allgemeine, mehr oder weniger alle Produkte erfassende Teuerung gibt und auch (noch) keine „Lohn-Preis-Spirale“, wie sie für eine nachfrageinduzierte Inflation typisch wäre. Noch nicht, muss hier betont werden, denn wenn die Erwartungen an die künftige Preisentwicklung von Inflationsängsten, wie sie einige Medien schüren, bestimmt werden, dann wird sich ein allgemeiner Preisanstieg bald kaum mehr abwenden lassen. Noch aber ist davon nicht viel zu sehen. Insofern erscheinen die Prognosen zur Entwicklung des Preisniveaus, wie sie die Deutsche Bundesbank jetzt veröffentlicht hat, durchaus plausibel: Danach wird die Teuerungsrate im zweiten Halbjahr 2022 nicht weiter steigen und werden 2023 „die Rohstoffpreise für Energie deutlich sinken“ (Monatsbericht Juni 2022). Da die 2021/22 stattgefundene Verteuerungen an den Märkten für Erdgas und Elektrizität teilweise aber verzögert an die Endverbraucher weitergegeben werden, ist hier auch 2023 noch mit überdurchschnittlichen Steigerungsraten zu rechnen. Trotzdem soll die Inflationsrate im Jahr 2023 auf 3,5 Prozent zurückgehen und 2024 wieder den Zielwert von etwa zwei Prozent erreichen.
Bei der Diskussion der Ursachen für den exorbitanten Preisanstieg bei Energie und bestimmten Lebensmitteln gilt es zu beachten, dass es sich hier teils um unkalkulierbare Angebotsschocks infolge von Kriegen und Krisen handelt, teils um Besonderheiten der Preisbildung bei Monopolen und Oligopolen, welche den Anbietern hohe Extragewinne garantieren, teilweise aber auch um die Auswirkungen einer spekulativen Zurückhaltung von Gütern. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, hält letzteren Aspekt sogar für den entscheidenden.
All das hat mit marktwirtschaftlicher Logik nichts zu tun, sondern ist Ausdruck tiefgreifender Marktverzerrungen, eines Marktversagens oder akuter Störungen im Reproduktionsprozess. Teilweise sind die Preisveränderungen aber auch Vorboten der Energiewende und der sozial-ökologischen Transformation. Denn wie soll ein struktureller Umbau der Wirtschaft unter marktwirtschaftlichen Bedingungen anders funktionieren als derart, dass Einsparungen über negative Anreize und höhere Preise durchgesetzt werden? Insofern ist es geradezu kontraproduktiv, wenn der den PKW-Verkehr verteuernde und damit unattraktiv machende Preisanstieg für Kraftstoffe durch Ausgleichszahlungen, Tankrabatte und Steuervorteile kompensiert wird. Die richtige Antwort hierauf wären die Festlegung von Preisobergrenzen und/oder eine höhere Besteuerung der Mineralölkonzerne sowie der Einsatz dieser Einnahmen für den Ausbau des ÖPNV. Keineswegs aber ist zu erwarten, dass die EZB durch Leitzinsänderungen hier Abhilfe schaffen könnte. Die EZB betreibt keine Preispolitik und hat keinen direkten Einfluss auf die Preissetzung der Unternehmen. Eine minimale Leitzinssenkung, wie für den Juli angedacht, wird daher ohne nennenswerte Preiseffekte verpuffen. Eine größere und durch andere geldpolitische und fiskalische Maßnahmen flankierte Leitzinsänderung aber, wie in einigen Medien gefordert, würde die Investitionen verteuern und mithin die wirtschaftliche Entwicklung bremsen. Wem wäre damit geholfen?
Der vielleicht größte positive Effekt einer solchen Politik wäre in einer Rückkehr zur „Normalität“ zu sehen, in einer „Normalisierung der Geldpolitik“, wie es Bundesbankpräsident Joachim Nagel (28. Mai 2022) ausdrückte. Die EZB würde dadurch wieder handlungsfähiger werden – für den Fall künftiger konjunktureller Flauten und Krisen.
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