25. Jahrgang | Nummer 17 | 15. August 2022

Vom Unglück eitler Träume

von Detlef Jena

Trotzig motiviert Russlands Präsident den Krieg gegen die Ukraine mit einem Geschichtsgemälde, das seinen imperialen Träumen entspricht. Trotzig negieren die westlichen Freunde der Freiheit aus Feindschaft gegen Russland alle Erfahrungen der tragischen ukrainischen Geschichte. Trotzig klammert sich Präsident Selenskyj an das Glück einer historisch begründeten baldigen Mitgliedschaft im mit sich selbst zufriedenen atlantischen Friedenszirkel. Als vorausblickenden Dank hält er schon Geschenke aus der ukrainisch-polnischen Geschichte bereit.

Im Jahre 1992 haben die unabhängige Ukraine und Polen einen „Vertrag über gute Nachbarschaft, freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit“ unterzeichnet. Auf dessen Grundlage ist am 22. Mai 1997 in Kiew eine spezielle polnisch-ukrainische „Erklärung über Verständigung und Versöhnung“ unterzeichnet worden. Darin wurde der „unschuldig Ermordeten, der Gefallenen und der gewaltsam umgesiedelten Polen und Ukrainer“ gedacht.

Die polnisch-ukrainischen Beziehungen sind seit Jahrhunderten mit historischen Lasten beschwert, die in Aufständen der Kosaken, osmanischer und russischer Expansion oder Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung gipfelten, bis sie am Ende des 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts durch die drei polnischen Teilungen von den Großmächten Russland, Preußen und Österreich überlagert, aber keineswegs beendet wurden.

Die Erklärung von 1997 berief sich unter Berücksichtigung der langen Vorgeschichte konkret auf die polnisch-ukrainischen Feindseligkeiten, die aus der Zeit des polnisch-sowjetischen Krieges nach 1920 (Stichwort: Curzon-Linie), aus den Folgen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts von 1939, aus dem Verlauf des Zweiten Weltkriegs und aus der Regelung der Nachkriegsgrenzen von 1944/45 resultieren. Alle Maßnahmen staatlicher Willkür, namentlich die von Stalin diktierte Verschiebung der polnischen Grenzen von Ost nach West, haben in den beiden Völkern so tiefe mentale Vorbehalte und gegenseitiges Misstrauen hervorgerufen, dass es für die nach 1991 frei gewählten demokratischen Institutionen und Parteien um ihrer selbst willen lebensnotwendig war, die Verbrechen der Vergangenheit auszuräumen. Sie resultierten namentlich daraus, dass Stalin das Ziel verfolgt hatte, in seinem Machtblock nicht nur alle Ukrainer in einer Sowjetrepublik zu vereinen, sondern auch den traditionell multiethnischen Charakter der Ukraine zu „nationalisieren“ – ohne zu verstehen, dass er damit einen ukrainischen Nationalismus förderte, der den machtpolitischen Interessen der UdSSR schadete.

Von 1944 bis 1946 wurde die Ukraine mit einer „ethnischen Säuberung“ überzogen: Über 800.000 Polen wurden vor allem in die ehemals deutschen Gebiete im Westen Polens ausgesiedelt. Umgekehrt wechselten über 500.000 Ukrainer zwangsweise aus Polen in die Westukraine. Mit ihnen verschwanden auch die Polen, die seit dem Spätmittelalter in Galizien und Wolhynien gelebt hatten, aus diesen Gebieten. Die Bevölkerung Galiziens wurde erstmals fast geschlossen ukrainisch. Von 1946 bis 1949 deportierte die Sowjetregierung 200.000 Westukrainer nach Sibirien und gleichzeitig begann die Einwanderung von Russen in die Westukraine. Nachdem der größte Teil der Juden von den deutschen Eroberern ermordet, die Vertreter der polnischen Elite getötet oder deportiert worden waren und auch die Ukraine-Deutschen das Land zwangsweise verlassen mussten oder ausgewandert waren, hatte die Ukraine den polyethnischen Charakter, der ihre Geschichte seit Jahrhunderten geprägt hatte, weitgehend eingebüßt. Die einzige größere nichtukrainische Gruppe stellten die Russen, deren Anzahl systematisch vergrößert wurde. Gleichzeitig eröffneten die sowjetischen Behörden noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Kampf gegen die verschiedenen Ströme der national-ukrainischen Kräfte in der Westukraine, die zum Teil mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten.

Die wichtigste geistlich-nationale Organisation, die Griechisch-Katholische oder Unierte Kirche, galt im Unterschied zu den Griechisch-Orthodoxen Gläubigen, die dem Moskauer Patriarchat folgten, als besonders militante Gegnerin der Sowjetmacht. Deren Metropolit Josif Slipyj und zahlreiche andere Geistliche wurden nach Sibirien deportiert. Der Druck auf den Klerus, die Union mit dem Vatikan aufzukündigen, wurde immer größer, und im März 1946 annullierte eine inszenierte Synode die 1596 abgeschlossene Union von Brest. In der Karpato-Ukraine wurde die Union im Jahre 1949 aufgehoben. Trotz massiver Repression gelang es jedoch nicht, die Unierte Kirche ganz zum Schweigen zu bringen. Sie konnte sich im Untergrund behaupten und schöpfte ihre moralische und materielle Kraft vor allem aus den in die USA emigrierten Mitgliedern.

Noch gefährlicher für die sowjetischen Behörden war die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA), die ihre Aktionen in der Westukraine nach Kriegsende fortsetzte. Die mehreren zehntausend Partisanen verübten Sabotageaktionen und Attentate auf sowjetische Funktionäre, die Tausende von Opfern forderten. Die UPA kontrollierte Gebiete vor allem in den Wäldern Galiziens und in den Karpaten, wo sie auf den Rückhalt der ukrainischen Bevölkerung zählen konnte. Die sowjetische politische Polizei führte einen erbitterten Kleinkrieg gegen die ukrainischen Partisanen. 1947 schlossen die Sowjetunion, Polen und die Tschechoslowakei ein Geheimabkommen, um die UPA gemeinsam zu bekämpfen. Erst seit 1948 gelang es, die UPA entscheidend zu schwächen. Kleinere Abteilungen setzten den Guerillakrieg bis in die Mitte der fünfziger Jahre fort. Die UPA hatte nach dem Krieg auch in den östlichen Gebieten Polens ihren Kampf gegen die polnischen Behörden weitergeführt. In der sogenannten „Operation Weichsel“ führte die polnische Armee im Jahre 1947 den entscheidenden Schlag gegen die ukrainischen Partisanen und deportierte gleichzeitig etwa 150.000 Ukrainer in andere Gebiete Polens. Das sind die reinen Zahlen, die das millionenfache Leid der Menschen nicht erzählen können.

Das Bemühen um die gegenseitige Aufarbeitung der Probleme begann schon vor dem Abschluss des Freundschaftsvertrags von 1992. Zunächst vereinbarten beide Seiten am 13. Oktober 1990 eine gemeinsame Erklärung über die „Grundsätze und Grundlinien für die Entfaltung gutnachbarlicher Beziehungen“. Sie wollten für alle Zeiten auf gegenseitige territoriale Ansprüche verzichten. Die Ukraine gehörte damals noch zur Sowjetunion. Polens Außenpolitik der „zwei Gleise“ erhielt durch die Erklärung Festigkeit gegenüber Moskau. Dennoch agierten die beiden Regierungen vorsichtig. Polen zögerte die Aufnahme offizieller diplomatischer Beziehungen mit Rücksicht auf Moskau noch lange hinaus.

Als zweiter Normalisierungsschritt  folgte der Vertrag vom 18. Mai 1992. Er bekräftigte den gegenseitigen Verzicht auf territoriale Forderungen. In diesem Falle drängte die Ukraine stärker als Polen auf eine schnelle Unterzeichnung. Seit 1991 war sie unabhängig, konnte sich ihrer Souveränität aber noch lange nicht sicher sein, zumal sie von Russland durch den latent schwelenden Konflikt um die Herrschaft über die Krim bedroht wurde. Außerdem beklagten die Ukrainer unablässig, dass sie vom Westen politisch und wirtschaftlich im Stich gelassen würden. Ihr Versuch, mit Hilfe des Vertrags von 1992 Anschluss an dieVisegrád-Staaten (Polen, Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn) zu finden, misslang.

Im Juli 1993 trafen sich die beiden Präsidenten Lech Wałęsa und Leonid Krawtschuk, um über die polnisch-ukrainischen Beziehungen im Rahmen einer von der Ukraine gewünschten ostmitteleuropäischen „Zone der Stabilität“ zu beraten und Vereinbarungen über die stärkere Zusammenarbeit, auch in der Militärpolitik, zu unterzeichnen. Das Treffen wurde ein glatter Fehlschlag. Wałęsa bekam Angst vor Boris Jelzin und zog sich zurück. Es gab zum Abschluss nicht einmal eine gemeinsame Erklärung. In getrennten „Informationen“ wurde lediglich festgestellt, dass die Vereinbarungen von 1990 und 1992 kaum Resultate erbracht hätten. Zwischen Warschau und Kiew begann eine regelrechte Eiszeit.

Die Erklärung von 1997 markierte dann den Versuch eines neuen Anfangs. Er zeugte allerdings nicht davon, dass zwischenzeitlich die Probleme aus Vergangenheit und Gegenwart gelöst worden wären. Das Dokument war nur deshalb zwingend notwendig, weil beide Staaten ihre Integration in die Europäische Union anstrebten und sich darum in einer „strategischen Partnerschaft“ verbunden sahen.Ganz pragmatisch hoffte man in Warschau und Kiew, die Mitgliedschaft in der europäischen Gemeinschaft werde schon helfen, auch die zwischenstaatlichen Probleme zu lösen.

Aber historische, nationale und mentale gegenseitige Vorbehalte können sehr zählebig sein und gerade in dieser Region zum Hindernis für multinationale Einigungsbestrebungen werden. Und ob sich die Europäische Union mit dieser historischen Erblast bei gleichzeitiger Stärkung der kritisch betrachteten Visegrád-Staaten beschweren möchte, ist fraglich.

Russlands Krieg gegen die Ukraine überlagert viele Probleme und erlaubt kaum Einblicke in das aktuelle innere Gesellschaftsgefüge der Ukraine. Doch die Beurteilung der UPA – entweder als Unabhängigkeitskämpfer oder als Handlanger des Faschismus und Kriegsverbrecher – spaltet seit dem Ende der Sowjetunion und der Unabhängigkeitserklärung die Ukrainer selbst und belastet die Beziehungen zu Polen, Russland und Israel.

Während in der offiziellen ukrainischen Geschichtsschreibung seit einigen Jahren die vor allem von nationalistischen Westukrainern getragene Heroisierung der UPA dominiert und Gedenkstätten errichtet werden, sehen viele russischsprachige Bewohner sowie jüdische Bürger der Ostukraine die Kämpfer der UPA als Verbrecher an. Es gibt keinen gesamtgesellschaftlichen Konsens über die Bewertung der UPA. Große Teile der ukrainischen Bevölkerung lehnen eine Würdigung der Organisation ab. In einigen östlichen Landesteilen wurden Gedenktafeln und Mahnmale errichtet, die an die Opfer der UPA erinnern. Für die Haltung des Staates ist charakteristisch, dass sich das ukrainische Parlament 2015 entschied, Mitglieder der UPA als Unabhängigkeitskämpfer anzuerkennen.

Und in Polen? Die Beurteilung der UPA spielt eine große Rolle in den polnisch-ukrainischen Beziehungen. Der polnische Staat betrachtet die UPA als „verbrecherische Organisation“ und verantwortlich für einen „Genozid an der polnischen Bevölkerung“ in Wolhynien sowie Teilen Ostgaliziens. Die polnische Bevölkerung überlebte nur in den Großstädten, teilweise gab es aber auch dort schwere Ausschreitungen. Die Provinzbevölkerung war der UPA zumeist schutzlos ausgeliefert und hatte Tausende von Opfern zu beklagen.

Niemand will heute voraussagen, wann und wie Russlands Krieg gegen die Ukraine endet. Es gibt nur die historische Erfahrung, dass die Konflikte zwischen Russland und Westeuropa seit einem halben Jahrtausend immer wieder zu Kriegen und Gewaltausbrüchen geführt haben. Und die Ukraine stand stets an der Grenzlinie. – als Opfer! Da half keine Vernunft und keine Aufklärung. Russland wird auch in Zukunft nicht von der Landkarte verschwinden. Und nicht nur ganz nebenbei: Die Weltordnung der Menschheit macht jetzt gegen den Klimawandel mobil. Doch das Konzept allen menschlichen Fortschritts wird auf der Grundlage der Marktwirtschaft auch in der Zukunft nicht auf die Ausbeutung fossiler Brennstoffe verzichten, von denen Russland so viel besitzt.