25. Jahrgang | Nummer 15 | 18. Juli 2022

Scheinkorrelation Madrid

von Erhard Crome

Zu den Eigentümlichkeiten historischer Betrachtungen gehören die Scheinkorrelationen. Eine ist: Wenn in Deutschland die Sozialdemokraten mit den Grünen regieren, gibt es Krieg. Das war 1999 so, als Schröder mit Fischer regierte und der Jugoslawienkrieg der NATO geführt wurde, und das ist heute so, da Russland in der Ukraine Krieg führt und Deutschland sich als kriegsunterstützende Macht der Ukraine versteht. Eine andere Scheinkorrelation: Wenn in Madrid ein NATO-Gipfel stattfindet, werden verschärfende Beschlüsse gefasst. Das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der NATO am 8. und 9. Juli 1997 in Madrid war das erste, das Spanien als Gastgeber ausrichten durfte. Dort wurde beschlossen, Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik den NATO-Beitritt anzubieten. Der Erweiterungsreigen begann. George F. Kennan, früherer Spitzendiplomat der USA, Konstrukteur des Marshall-Plans und Erfinder der „Containment-Doktrin“ Washingtons, galt als Nestor der US-amerikanischen Russland-Kenntnis. Er warnte damals dringend vor einer Osterweiterung der NATO und betonte, das würde „der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg“ sein.

Vom 28. bis 30. Juni fand in Madrid nun wieder ein NATO-Gipfel statt. Er beschloss eine Aufstockung der Schnellen Eingreiftruppe des Paktes von derzeit 40.000 auf 300.000 Mann, eine weitere Erhöhung der Militärausgaben sowie eine neue NATO-Doktrin für die nächsten zehn Jahre, in deren Mittelpunkt Russland als Feind steht. Ferner die Aufnahme von Finnland und Schweden.

Im Mittelpunkt stand selbstredend der russische Ukraine-Krieg. Gleichwohl wiederholte der Gipfel die üblichen Lebenslügen und Propagandafloskeln des Westens. So heißt es im Strategischen Konzept 2022 der NATO, der „Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine hat den Frieden zunichtegemacht“. Richtig wäre gewesen, dass Russland einen offenen heißen Krieg gegen die Ukraine führt. Der nach dem Kalten Krieg erhoffte Weltfrieden allerdings ist bereits durch die Kriege des Westens gegen den Irak, Jugoslawien, Afghanistan, Libyen et cetera zunichtegemacht worden, und Russland reiht sich in diese Aggressorenphalanx jetzt ein. Der Frieden in der Ukraine selbst wurde im Übrigen schon mit dem Putsch auf dem Maidan zunichtegemacht, mit der Verbrennung von Demonstranten in Odessa am 2. Mai 2014 und dem Krieg an der Demarkationslinie im Donbass zwischen ukrainischen Truppen und denen der selbsternannten Volksrepubliken, dem zwischen 2014 und Februar 2022 mindestens 15.000 Menschen zum Opfer gefallen sind.

An anderer Stelle heißt es in dem neuen NATO-Konzept: „Die Aushöhlung der Rüstungskontroll-, Abrüstungs- und Nichtweiterverbreitungsarchitektur hat sich negativ auf die strategische Stabilität ausgewirkt.“ Ehrlicherweise hätte es heißen müssen: Die Aushöhlung dieser Architektur, zunächst im konventionellen Bereich in Europa durch die NATO (Nichtratifizierung des angepassten KSE-Vertrages), dann durch die USA in Gestalt der Aufkündigung des ABM-Vertrages zur Begrenzung der Raketenabwehrsysteme, des Vertrages zum Verbot der atomaren Mittelstreckenwaffen (INF-Vertrag) sowie des Open Skys-Vertrages war ein strategischer Fehler des Westens. Der hat die Sicherheit der ganzen Welt, darunter auch die der NATO-Länder, erheblich beeinträchtigt.

Als Kernaufgaben der NATO fixiert das Konzept 2022: „Abschreckung und Verteidigung, Krisenprävention und -bewältigung sowie kooperative Sicherheit“. Das Bekenntnis zur Beibehaltung der Atomwaffen wurde bekräftigt. Eine „nationale und kollektive Resilienz“ soll stärker gewährleistet werden. Das meint im Klatrtext die Widerstandsfähigkeit im Sinne von Kriegsführungsfähigkeit. Zum Klimawandel und den anderen globalen Bedrohungen werden Lippenbekenntnisse abgegeben, die militärischen Kapazitäten, insbesondere auch im Hinblick auf „unseren technologischen Vorsprung“ und seinen Ausbau, stehen jedoch im Zentrum. „Die technologische Vorherrschaft bestimmt zunehmend den Erfolg auf dem Schlachtfeld“, heißt es wörtlich, und den sieht der Westen auf seiner Seite.

Die „kooperative Sicherheit“ meint „unser festes Bekenntnis zum Nordatlantikvertrag und zur gegenseitigen Verteidigung gegen alle Bedrohungen unabhängig ihres Ursprungs“. Die Pointe des Kalten Krieges dagegen lautete, dass es Sicherheit nicht mehr gegeneinander geben konnte, sondern nur noch miteinander. Damals war klar, dass es im Atomzeitalter keinen politischen Zweck mehr geben konnte, der mit den Mitteln des Krieges zu verwirklichen wäre. Deshalb gab es nur noch gleiche und gemeinsame Sicherheit für beide Seiten oder keine. Vor diesem Hintergrund ist der jetzige Terminus „kooperative Sicherheit“ nur eine Umschreibung des alten Verständnisses der „kollektiven Verteidigung“ und bricht mit dem Konzept der „gemeinsamen Sicherheit“.

Realpolitisch hatten die NATO und die USA das ja bereits dadurch getan, dass sie seit den 1990er Jahren nicht bereit waren, mit Russland über die geopolitischen Konsequenzen der NATO-Osterweiterung und dessen Bedrohungsperzeptionen zu reden. Jetzt also auch konzeptionell. Die Idee der „gemeinsamen Sicherheit“ wurde ausradiert und durch eine Bekräftigung der militärischen und insbesondere der nuklearen Abschreckung ersetzt, die direkt aus den 1950er Jahren stammt. Noch ist der Ukraine-Krieg Russlands auf seiner derzeitigen Eskalationsstufe eher einer jener Regionalkriege, wie sie der Westen im Irak und gegen Jugoslawien ebenfalls geführt hat (wenngleich die Ukraine an Territorium und Bevölkerung größer ist). Da hätte eine Initiative zur diplomatischen Beendigung des Krieges einen Weg weisen können, dessen weitere Eskalation zu vermeiden. Dergleichen ist in Madrid jedoch unterblieben.

Während Russland im Konzept 2022 als „die größte und unmittelbarste Bedrohung“ für die NATO gilt, wird China zu einer „systemischen Herausforderung“ erklärt. Das ist insofern besonders bemerkenswert, als dass die Beistands-Klausel der Vertragsstaaten im derzeit immer wieder gern zitierten Artikel 5 des NATO-Vertrages aus dem Jahre 1949 lautet, „dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika“ als Bündnisfall gilt. China liegt jedoch schon rein geographisch außerhalb des Bündnisgebietes. Gleichwohl treiben die USA-Regierungen seit mindestens 15 Jahren den Umbau der NATO in eine globale Interventionsorganisation voran. Die maritimen Aktivitäten Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands in den vergangenen Jahren in der Indo-Pazifischen Region waren real-militärische Schritte in diese Richtung. Am Ende heißt es: „Die immer enger werdende strategische Partnerschaft“ zwischen China und Russland laufe „unseren Werten und Interessen zuwider“.

In diesem Sinne wurden die Staats- und Regierungschefs von Australien und Neuseeland sowie von Japan und Südkorea zum NATO-Gipfel nach Madrid einbestellt. Strategisch gesehen werden so auch die beiden angelsächsischen Staaten vom anderen Ende der Welt eingebunden, außerdem jene beiden fernöstlichen Partner, die ohnehin seit dem zweiten Weltkrieg der US-amerikanischen Globalstrategie subordiniert sind.

In China wurde dazu der frühere NATO-Generalsekretär Javier Solana zitiert, der geäußert hat, dass der Eingriff der NATO auf der ganzen Welt zu einer gespaltenen Welt führen werde. Zugleich wurde in China betont, das sei nur ein weiterer Ausdruck der „America First“-Politik. Den USA zu folgen, um China einzudämmen, schade den Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen von Tokio und Seoul und sei „nicht klug“. Die NATO sei ein Produkt des Kalten Krieges, sagte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums, und ein Instrument, das die USA benutzten, um ihre Vorherrschaft zu erhalten.