Stagflation ist ein Kunstwort, das für das Zusammentreffen zweier normalerweise nicht gleichzeitig auftretender Phänomene steht, für wirtschaftliche Stagnation und Inflation. Eine derartige Koinzidenz ist höchst ungewöhnlich, da ein Anstieg des Preisniveaus, ein Anziehen der Inflation, üblicherweise als Begleiterscheinung einer konjunkturellen Überhitzung auftritt, nicht aber in Verbindung mit einem konjunkturellen Abschwung, mit Stagnation oder Rezession. In diesem Fall wäre eher das Gegenteil zu erwarten, also ein Rückgang der Inflationsraten oder ein Absinken der Preise, in der Sprache der Ökonomie: Disinflation oder Deflation. Das letzte Mal verzeichnete die Wirtschaft der BRD 1974 eine Stagnationsperiode – mit anschließender Rezession. Bekanntlich wiederholt sich die Geschichte nicht; mitunter aber ähneln sich die Verlaufsmuster. Dies könnte auch diesmal der Fall sein.
Ein Stagflationsszenario, also eine Situation, in der es bei einem Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität zu einem inflationären Anstieg des Preisniveaus kommt, fordert eine besondere Erklärung. Ausschlaggebend für eine solche ist die Analyse der konkreten Ursachen für den Preisanstieg wie für das nachlassende Wirtschaftswachstum. Schaut man sich daraufhin die einschlägigen Analysen an, so kommt man zu dem Ergebnis, dass in beiden Fällen, also für den Preisauftrieb wie für die nachlassende Konjunktur, Angebotsfaktoren eine zentrale Rolle spielen. Beim Anstieg des Preisniveaus ist es vor allem die Verteuerung von Energie sowie bestimmter Rohstoffe und Agrarerzeugnisse, die sich über die gesamte Wertschöpfungskette bis hin zu vielen Endprodukten preistreibend auswirkt. Hinzu kommen die Spekulation und die Zunahme der Gewinnmargen von Unternehmen als wesentliche Ursachen. Bei der Produktion sind es Lieferengpässe, das Fehlen wichtiger Vorprodukte, die Zunahme diverser Knappheiten, Personalmangel und Logistikprobleme, die das Wachstum bremsen und eine Stagnation bewirken.
Die meisten dieser Probleme zeichneten sich schon vor der Corona-Krise ab. Eine Reihe von Konjunkturforschern prognostizierte deshalb bereits 2019 das baldige Ende der seit 2010 andauernden Wachstumsphase. Es war hier bereits von „konjunktureller Abkühlung“, „Wachstumsverlangsamung“ und „schwächelnder Konjunktur“ die Rede. Diese Entwicklung hätte sich im Laufe des Jahres 2020 vermutlich auch ohne Corona weiter verstärkt. Der pandemiebedingte Lockdown im Frühjahr 2020, der die Wirtschaft kurzzeitig abstürzen ließ, hat diesen Prozess lediglich abgekürzt und ein wenig dramatisiert. Die bald auf den Einbruch einsetzende Erholung verlief dann jedoch ziemlich schleppend, so dass heute das gesamtwirtschaftliche Produktionsniveau (preisbereinigt) noch immer um 0,9 Prozent unter dem Vorkrisenniveau liegt. 2021 wuchs das Bruttoinlandsprodukt um 2,9 Prozent, im ersten Quartal 2022 aber stagnierte die Wirtschaft. Das Wachstum betrug gegenüber dem Vorquartal lediglich 0,2 Prozent. Das heißt, die deutsche Volkswirtschaft weist derzeit kaum Wachstum auf, sie tritt auf der Stelle. Der Einfluss, den der Krieg in der Ukraine hierauf nimmt, ist zwiespältig: Während der Anstieg der Rüstungsausgaben und die steigenden Rüstungsexporte die Konjunktur stützen, verstärken die Einsparungen beim Energieverbrauch und die Embargomaßnahmen der Europäischen Union die Tendenzen zu Stagnation und Rezession.
Demgegenüber hat die Inflation in den zurückliegenden Monaten verstärkt Fahrt aufgenommen. Folgte die Preisentwicklung bis zum Sommer 2021 durchaus dem üblichen Muster, indem sie eher in Richtung Deflation als in Richtung Inflation tendierte, so änderte sich dies im zweiten Halbjahr signifikant. Seit Januar 2022 ist das Preisniveau weiter angestiegen, im April um 7,4 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat, und hat damit alle diesbezüglichen Befürchtungen der Konjunkturforscher übertroffen. In der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion wird in diesem Zusammenhang die Europäische Zentralbank (EZB) kritisiert und deren zögerliche Haltung bei einer Änderung der Geldpolitik für den Anstieg der Inflation mitverantwortlich gemacht.
Die damit verbundene Schuldzuweisung ist jedoch falsch. Zwar hat die EZB die Lage anfangs falsch eingeschätzt, indem sie die Inflation als ein nur temporäres Phänomen beurteilte und die Inflationserwartungen unterschätzt hat. Andererseits aber war ihre Haltung durchaus nachvollziehbar, da sie mit den ihr zur Verfügung stehenden geldpolitischen Instrumenten die inflationäre Preisentwicklung nicht stoppen kann. Eine „Zinswende“, wie sie lautstark gefordert wird, würde kaum helfen, die Inflationserwartungen zu brechen und den Preisauftrieb zu beenden. Zudem orientiert sich die EZB an der „Kerninflationsrate“ im Euroraum, worin weder die Energiepreise noch die Rohstoff- und Nahrungsmittelpreise erfasst sind. Eine Anhebung des Leitzinses würde sich als wirksam erweisen, wenn es darum ginge, eine überbordende Nachfrage zu bremsen und die Wirtschaft durch eine Verteuerung des Konsums und der Investitionen vor einer konjunkturellen Überhitzung zu bewahren. Darum aber geht es gegenwärtig gerade nicht, da die Wirtschaft „schwächelt“ und trotz niedriger Zinsen kaum mehr wächst. Zudem sind die aktuellen Preissteigerungen nicht das Ergebnis einer zu hohen Nachfrage, die man geldpolitisch über die Kreditkosten und den Zins beeinflussen könnte, sondern, wie oben ausgeführt, überwiegend angebotsbedingt. Auf Lieferengpässe, Produktionslücken, Preiskartelle und eine globale Spekulation hat die Geldpolitik der EZB aber keinen Einfluss.
Kommt es aber, angetrieben durch die Politik, demnächst trotzdem zu einer geldpolitischen Intervention der EZB, zu einer Umorientierung in der Geldpolitik von einem expansiven auf einen kontraktiven Kurs, so wird dies an der Entwicklung des Preisniveaus kaum etwas ändern. Die Investitionen aber würden dadurch teurer werden, wodurch sich die Tendenz zur Stagnation verstärkt. Das Ergebnis wäre vermutlich ein Stagflationsszenario, ähnlich dem der 1970er Jahre. Und selbst ein Eintritt in eine Rezession könnte dann nicht mehr ausgeschlossen werden, was neue Probleme mit sich bringen würde.
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