Frank-Walter Steinmeiers Besuch in Warschau kurz vor Ostern stand unter keinem besonders glücklichen Stern. Zwar nennt er jetzt seinen Amtskollegen Andrzej Duda „einen Freund“, doch musste er der versammelten Presse zugleich erklären, in den schweren Kriegstagen nun nicht an einer größeren Staatsreise nach Kiew teilnehmen zu dürfen, zu der ihn der polnische Staatspräsident eigentlich eingeladen hatte. Dass der Schlammassel überhaupt an die Öffentlichkeit drang und dann in Deutschland für helle Empörung sorgte, zeugt nicht von bester Diplomatie – nicht auf der deutschen, auch nicht auf der polnischen oder der ukrainischen Seite. Hinterher waren zwar alle Seiten um schnelle Schadensbegrenzung bemüht, doch das Kind war längst in den Brunnen gefallen.
Der polnische Präsidentenpalast hatte die Kiew-Reise der Staatsoberhäupter aus Estland, Lettland, Litauen und Polen wohl weitgehend klug eingefädelt – von der polnisch-ukrainischen Staatsgrenze wurde, wie derzeit üblich, mit dem Zug in die ukrainische Hauptstadt gefahren. Dort erwartete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die vier Ankömmlinge, die als die höchsten Vertreter jener Länder begrüßt wurden, an deren entschiedener Unterstützung für den Verteidigungskrieg der Ukraine es nicht die leiseste Spur eines Zweifels gebe. Wenn das ehrenwerte Motto „Für eure und unsere Freiheit“ einen handfesten Sinn mache, so in erster Linie für diese vier Länder. Von den anderen EU-Staaten könnte höchstens noch Finnland genannt werden. Womit Selenskyj im besonderen Maße auf die unmittelbare Nachbarschaft zu Russland, auf die einstige Zugehörigkeit zum Zarenreich sowie die durchgemachten bitteren Erfahrungen mit sowjetischer Großmachtpolitik anspielte. So gesehen hätte der Bundespräsident gar nicht so gut in die Reihe dort in Kiew gepasst.
Hinterher ist dann meistens die Rede gewesen von der Erdgaspipeline Nord Stream 2, hatte Steinmeier doch zu deren entschiedensten Befürwortern in der deutschen Politik gezählt – gleich ob nun als Außenminister oder als Staatsoberhaupt. Erst nach dem Ausbruch des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hatte er öffentlich bekannt, dass die Entscheidung für den Bau der Gastrasse quer durch die Ostsee ein schwerer politischer Fehler gewesen sei, für den auch er selbst geradezustehen habe. Die vier Länder indes, die mit höchstem Aufgebot nach Kiew kamen, hatten von Anfang an zu den entschiedensten Kritikern von Nord Stream 2 gezählt – quer durch alle politischen Lager wohlgemerkt. Nicht von ungefähr hatte die öffentliche Meinung in diesen Ländern stets auf die von Wladimir Putin durchgesetzte Krim-Annexion verwiesen, die eine solche Investition – abwägende wirtschaftliche Gründe hin oder her – von vornherein verboten hätte. Auch in dieser Hinsicht wäre Steinmeier wohl fehl am Platze gewesen.
Freilich hätten solche Dissonanzen vorher ausreichend geklärt werden müssen, um den Vorschlag Dudas, Steinmeier möge die vier Amtskollegen auf der nicht ganz gewöhnlichen Reise begleiten, höflich und korrekt auf entsprechenden Kanälen zurückzuweisen, bevor stattdessen – für alle Welt sichtbar – wertvolles diplomatisches Porzellan zerschlagen wurde.
Außerdem gibt es noch einen polnischen Hintergrund an der Sache, denn Duda spricht jetzt, wenn er öffentlich auftritt, gar nicht mehr unbedingt für das gesamte nationalkonservative Regierungslager. Ein wenig emanzipiert er sich vom vielzitierten „Präsidenten aller Polen“, PiS-Chef Jarosław Kaczyński, jedenfalls versucht Duda es nach Kräften. Am wenigsten passt das übrigens Kaczyński in den Kram, wobei der sich einigermaßen entschieden zeigt, den ein wenig von der Leine gelösten Duda in dessen letzten Amtsjahren ruhig zappeln zu lassen. Es gibt ganz andere Probleme, die zu bewältigen sein werden, indes wird sich so manch einflussreicher Regierungspolitiker in Warschau ins Fäustchen gelacht haben, als nun ausgerechnet aus Kiew das Signal nach Berlin gesendet wurde, Steinmeier sei in der jetzigen Stunde dort gar nicht willkommen.
Putins sinnloser Krieg gegen die Ukraine hat nun auch den vielbeschworenen Westen eingeholt, die ersten Risse im insgesamt doch festgefügten Solidaritätslager werden sichtbar. Wer klug beraten sein will, der sollte im weiteren Verlauf des Geschehens in der Ukraine wieder ein wenig stärker auf die Dinge achten, die vor dem Kriegsausbruch in den Korrelationen zwischen den europäischen Hauptstädten so offensichtlich waren. Die tiefen Gräben, die über die Jahre von verschiedener Seite fleißig geschaufelt worden waren, sind ja nicht plötzlich zugeschüttet. Und die verblüffende Leichtigkeit, mit der nach dem 24. Februar darüber hinweggesprungen wurde, muss künftig wieder festeren Grund finden.
Am Warschauer Zentralbahnhof kündet ein riesiges Plakat nun jeden Tag davon, dass die Hilfeleistung für die sich verteidigende Ukraine keinem kurzen Sprint, sondern vielmehr einer langen Marathonstrecke gleiche. Wenn das stimmt, dann gilt das aber ebenso für die große Politik, für die Außenpolitik insbesondere. Schnellschüsse mögen in der Stunde der Not angeraten scheinen, jetzt aber heißt es, der Ukraine in deren unbeschreiblicher Notsituation mit den geeigneten Mitteln wirksam zu helfen, um Putins eingefallene Truppen wieder außer Landes zu bekommen.
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