25. Jahrgang | Nummer 7 | 28. März 2022

Überzogene Erwartungen an die EZB

von Ulrich Busch

Steigende Preise und Inflation, Geldentwertung und Euro-Verfall sind gegenwärtig die Hauptthemen der ökonomischen Berichterstattung. Und der Krieg in der Ukraine trägt dazu bei, dass die Teuerung auch weiterhin ein zentrales Thema bleiben wird. Mit dieser Entwicklung sind für die privaten Haushalte und für viele Unternehmen höhere Kosten und Belastungen, Vermögensverluste und Wohlstandseinbußen verbunden. Dies wird in den Medien breit diskutiert und lautstark beklagt. Häufig jedoch, ohne dass die dafür Verantwortlichen korrekt benannt werden. So ist vom „Griff nach den Vermögen“ der Deutschen die Rede, von einer „Enteignung der Sparer“, vom „Raub an der Zapfsäule“ und von „organisiertem Betrug“. Schuld daran seien, so der Tenor, neben Putin vor allem die Europäische Zentralbank (EZB) und deren Präsidentin Christine Lagarde. Indem sie die von ihrem Vorgänger Mario Draghi eingeschlagene Geldpolitik des „Quantitative Easing“ fortsetzt, heize sie die Inflation an und sei daher hauptverantwortlich für den Kaufkraftverlust des Euro und die spürbar steigenden Preise in Deutschland und im Euroraum. Das diesem überall zu hörenden Vorwurf zugrunde liegende Argumentationsmuster scheint schlüssig und sachlich begründet zu sein. Die tatsächlichen Wirkungszusammenhänge sind jedoch komplexer und komplizierter, was die Schuldzuweisung an die EZB als fragwürdig erscheinen lässt. Es ist daher geboten, sich kritisch mit dieser Problematik auseinanderzusetzen (siehe Blättchen 4/2022).

Richtig ist, dass bestimmte Preise im Euroraum zuletzt stark angestiegen sind und dass sich dadurch das Preisniveau insgesamt, gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), spürbar erhöht hat. Betrug die Zunahme des HVPI 2020 noch nur 0,3 Prozent, so waren dies 2021 bereits 2,6 Prozent. Berücksichtigt man zudem die Prognose von 5,2 Prozent für 2022 und zieht diese in die Betrachtung mit ein, so ist eine bemerkenswerte Aufwärtsdynamik der Preise zu erkennen. Eine Berechnung der jährlichen Veränderungsraten des HVPI auf Monatsbasis verstärkt diesen Eindruck noch, denn diese weisen seit Juli 2021 durchweg Werte oberhalb von 2,0 Prozent auf. Zuletzt sind sie zudem stark angestiegen: im Januar betrug der Anstieg 5,1 Prozent und im Februar 5,8 Prozent. Im März wird er kaum geringer ausfallen. Trotz dieser alarmierenden Daten hat die EZB hierauf bisher kaum reagiert, sondern sich vielmehr in Beschwichtigungsversuchen geübt oder auf Zeit gespielt.

Dies wirft die Frage nach ihren Motiven und Handlungsmaximen auf, nach dem „Warum“ ihrer Zurückhaltung. Bei der Beantwortung dieser Frage ist davon auszugehen, dass die EZB im Euroraum mittelfristig ein Inflationsziel von 2,0 Prozent anstrebt. Im Zeitraum 2019 bis 2021 aber betrug die Inflationsrate im Dreijahresdurchschnitt nur 1,4 Prozent. Folglich bestand hier kein Handlungsbedarf. Geht man nun aber ein Jahr weiter und berechnet (unter Einbeziehung der Prognose für 2022) für den Zeitraum 2020 bis 2022 eine jahresdurchschnittliche Inflationsrate, so kommt man auf einen Wert von 2,7 Prozent. Dies signalisiert nunmehr einen klaren Handlungsbedarf für die EZB. Der deutliche Anstieg der monatlich berechneten Inflationsraten von 2,2 Prozent (Juli 2021) auf zuletzt 5,8 Prozent unterstreicht dies, indem er auf eine beunruhigende Tendenz hinweist, der geldpolitisch begegnet werden muss.

Trotzdem zögert die EZB immer noch und scheut sich offensichtlich, radikale Maßnahmen zur Eindämmung der Inflation zu ergreifen. Dies wird in der Öffentlichkeit heftig kritisiert, hat aber handfeste Gründe, wovon einige hier diskutiert werden sollen.

Erstens gilt, dass die EZB ihre Politik auf alle neunzehn Volkswirtschaften im Euroraum ausrichten muss, wobei sie es hier mit außerordentlich differenzierten Bedingungen zu tun hat. Eine abrupte und konsequente Stabilisierungspolitik würde für starke Volkswirtschaften wie Deutschland lediglich einen konjunkturellen Dämpfer bewirken, andere Volkswirtschaften aber würden dadurch in eine tiefe Rezession gestürzt werden. Dies aber kann nicht Anliegen der EZB sein!

Zweitens geben die momentan zu konstatierenden Preiserhöhungen einige Rätsel auf. So ist es fraglich, ob es sich hierbei definitionsgemäß tatsächlich um eine allgemeine und dauerhafte Erhöhung des Preisniveaus handelt oder ob es dafür nicht spezifische Ursachen gibt: Monopole, oligopolistische Preisabsprachen, Lieferengpässe, Knappheiten, Spekulation, Naturkatastrophen und nun auch noch den Krieg in der Ukraine. Diese Ursachen beträfen allesamt das Angebot und die Preissetzung am Markt. Darauf aber hat die EZB überhaupt keinen Einfluss, weshalb ihre Maßnahmen ohne Effekt verpuffen würden. Hinzu kommt, dass eine „echte“ Inflation mit hohen Lohnsteigerungen einhergeht, welche schließlich in einer sogenannten Lohn-Preis-Spirale zur maßgebenden Inflationsursache würden. Davon aber kann gegenwärtig keine Rede sein. Ganz im Gegenteil: die nominalen Lohnsteigerungen im Euroraum blieben zuletzt sichtlich hinter der Preisentwicklung zurück, so dass die Realeinkommen gesunken sind. Dies aber wirkt eher dämpfend auf die Preise und nicht inflationär.

Drittens gilt es zu prüfen, was die EZB überhaupt tun kann, wenn sie sich entschließt, zu handeln. Hierfür gibt es drei Optionen: a) Sie könnte ihre im Gefolge der Finanzkrise von 2008 und der Corona-Krise 2020 begonnenen Wertpapierkäufe reduzieren oder gänzlich einstellen. Teilweise hat sie damit bereits begonnen; weitere Rückführungen wurden für den Herbst in Aussicht gestellt. Der Effekt ist eine Verknappung von Liquidität bei den Banken, wodurch das Kreditangebot geringer wird. b) Eine weitere Option wäre die Anhebung der Leitzinsen und die Abschaffung der Negativverzinsung für Guthaben von Banken bei der EZB. Die Folgen wären ähnlich, bloß dass die Wirkungskette über eine Verteuerung der Kredite geht. Die Banken würden die zusätzlichen Kosten an die Kreditnehmer weiterreichen. Ob auch die Sparer davon profitieren würden, ist hingegen fraglich. Hier steht eine Entscheidung der EZB aus. c) Die dritte Maßnahme wäre eine Bilanzverkürzung, das heißt die EZB würde versuchen, zuvor erworbene Wertpapiere am Markt wieder abzustoßen, wodurch die Geldmenge sinken würde.

Wie man sieht, betreffen diese Maßnahmen die Nachfrage und deren monetäre Unterfütterung.

Die Folge wäre deshalb neben der Stabilisierung der Währung ein Rückgang der Investitionen, der ökonomischen Dynamik und der Beschäftigung. Würden die geldpolitischen Maßnahmen abrupt getroffen werden, so hätten sie eine Rezession im Euroraum zur Folge. Ob dadurch aber auch die Preise fallen würden, insbesondere für Öl, Gas, Kohle, Aluminium und Getreide, ist ungewiss. Da die gegenwärtigen Preissteigerungen größtenteils andere Ursachen haben als eine überhöhte Nachfrage, ist dies kaum zu erwarten. Am deutlichsten zeigt sich dies beim Benzinpreis, der vor allem wegen des exorbitanten Anstiegs der Gewinnmargen der Mineralölkonzerne gestiegen ist, nicht aber wegen einer erhöhten Nachfrage. Das wahrscheinlichste Szenario eines energischen geldpolitischen Eingriffs der EZB wäre daher eine „Stagflation“. Das heißt, die Inflation bliebe bestehen, infolge des Rückgangs der Investitionen würde sich jedoch das Wirtschaftswachstum verringern, bis unter null.

Die EZB befindet sich hier in einem doppelten Dilemma: Einerseits wächst angesichts steigender Inflationsraten der politische Druck auf die EZB, im Rahmen ihres Mandats geldpolitisch aktiv zu werden. Andererseits weiß sie, dass sie dadurch einige Volkswirtschaften der Eurozone in eine tiefe und schmerzliche Rezession stürzen würde, was sie zögern lässt. Gleichzeitig mehren sich die Zweifel darüber, ob die gegenwärtigen Preissteigerungen überhaupt den Kriterien einer Inflation genügen. Sollte dies nicht der Fall sein, so würde ein energisches geldpolitisches Gegensteuern die Preissteigerungen nicht aufhalten, die Konjunktur im Euroraum aber „abwürgen“, was Stagflation bedeuten würde. In einer solchen Lage ist es manchmal besser, vorerst nicht zu handeln als das Falsche zu tun. Zumindest aber ist extreme Vorsicht angesagt. Interessanterweise ist bei der ansonsten eher forsch agierenden Zentralbank der USA, der FED, gegenwärtig eine trotz ungleich besserer Voraussetzungen ähnlich vorsichtige Haltung zu beobachten. Auch sie handelte mit ihrem jüngsten Zinsschritt extrem vorsichtig und hat damit so manche Erwartung enttäuscht.