25. Jahrgang | Nummer 4 | 14. Februar 2022

Inflationsphobie und Medienhysterie

von Ulrich Busch

Es vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht in Funk und Fernsehen, in der Presse und in den sozialen Medien über die Preisentwicklung in Deutschland, im Euroraum und in der Welt informiert werden. Nicht immer jedoch geschieht dies sachlich und in einer dem Gegenstand angemessenen Form, sondern häufig eher in einem alarmierenden und hysterischen Ton, dabei oftmals die Tatsachen verzerrend und, was die Ursachen anbetrifft, in denunziatorischer Art und Weise. Die Inflation, die jahrelang in Europa überhaupt kein Thema war, wird dadurch für die Bevölkerung wieder zu einer vermeintlichen Bedrohung, zu einem Angstfaktor, und die Europäische Zentralbank (EZB) zu einer Art Enteignungs- und Vernichtungsmaschine für Ersparnisse und Geldvermögen. Eine solche Darstellung aber wird den Fakten nicht gerecht, verzerrt die Realität und stellt die Ursachen der Preisentwicklung und die Handlungsoptionen der Zentralbank einseitig bis unzutreffend dar.

Was aber sind die Fakten? Und welche Ziele verfolgt die EZB in Bezug auf die Inflation? Tatsache ist, dass die Preise in Deutschland und im Euroraum seit dem letzten Herbst spürbar angestiegen sind. So verzeichnet der Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) als Maßstab für die allgemeine Preisentwicklung und damit als Grundlage für die vergleichbare Messung der Inflation und für die Bewertung der Geldwertstabilität innerhalb der Euro-Zone in den Monaten Oktober bis Dezember 2021 einen auf das Jahr hochgerechneten Anstieg von 4,1, 4,9 und 5,0 Prozent. Betrachtet man jedoch das gesamte Jahr 2021, so lag die Preissteigerungsrate bei 2,6 Prozent. In den Jahren davor waren es sogar nur 1,2 Prozent (2019) und 0,3 Prozent (2020). Dies ergibt im Dreijahresdurchschnitt einen Wert von knapp 1,4 Prozent, also deutlich weniger als die Zielmarke von 2,0 Prozent, die für Geldwertstabilität steht und welche die EZB mittelfristig anstrebt. Schaut man sich die Entwicklung des Preisniveaus in Deutschland an, so stellt diese sich nicht grundsätzlich anders dar: 2019 betrug der HVPI hier 1,4 Prozent, 2020 waren es 0,4 Prozent und zuletzt 3,2 Prozent. Als dreijähriges Mittel für 2019–2021 ergibt sich hieraus ein Wert von knapp 1,7 Prozent, also etwas mehr als im Euroraum, aber immer noch weniger als die von der EZB angestrebten 2,0 Prozent. Es ist daher nur logisch, wenn angesichts der vorliegenden Daten die EZB zunächst keinen Handlungsbedarf sieht.

Die beschleunigte Preisentwicklung in den letzten Monaten wurde ganz überwiegend von den Energiepreisen, den Mieten und einigen Lebensmittelpreisen getragen. Sie war folglich kein Reflex einer überhitzten Konjunktur, exorbitanter Lohnsteigerungen oder gestiegener Staatsausgaben. Damit stellt sich die Frage, ob die Geldpolitik hierauf überhaupt Einfluss nehmen kann. Die Antwort ist ein klares Nein, denn die Energiepreise, Mieten und Lebensmittelpreise sind zu einem großen Teil Monopol- oder Oligopolpreise, die außerhalb der EU festgelegt werden und zudem der Spekulation unterliegen. So bestimmt den Öl- und Gaspreis das Kartell der Öl-Milliardäre in Verbindung mit den Energiekonzernen. Nicht viel anders verhält es sich mit den Mieten und den Preisen für bestimmte Rohstoffe und Lebensmittel, sofern es hier marktbeherrschende Unternehmen gibt. Zu glauben, Zinserhöhungen im Euroraum könnten die Knappheit einzelner Güter beseitigen, die Öl-Multis bewegen, mehr Öl zu fördern oder die Spekulation mit Wohnraum stoppen, ist naiv.

Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang diskutiert wird, ist das niedrige Zinsniveau. Auf Grund der Nullzinspolitik der Zentralbanken, so die Argumentation, sind auch die Zinsen für Sparguthaben, Festgelder, Versicherungen und ähnliche Geldanlagen bei Banken in den Keller gerutscht. Teilweise wird von diesen für Guthaben inzwischen sogar ein Verwahrentgelt verlangt, während dafür früher Zinsen gezahlt worden sind. Richtig hieran ist, dass die Zinsen seit der großen Finanzkrise und dem nachfolgenden historischen Konjunktureinbruch im Jahr 2009 spürbar gesunken sind, die Kredit- wie die Guthabenzinsen, und dass dies etwas mit der ultralockeren Geldpolitik („Quantitative Easing“) der Zentralbanken zu tun hat. Falsch ist jedoch, wenn hier vereinfacht eine direkte Kausalität unterstellt wird. Dabei wird dann nämlich übersehen, dass das Zinsniveau auch deshalb gesunken ist, weil sich das Geldausgabe- und das Sparverhalten der Bevölkerung sowie das Finanzierungsverhalten der Unternehmen und Staaten (Stichwort: Schuldenbremse) nachhaltig verändert hat. So ist beispielsweise die Sparquote in Deutschland von den bislang üblichen 9 bis 10 Prozent zuletzt auf über 16 Prozent angestiegen. Dadurch hat sich das Nettogeldvermögen der privaten Haushalte (bei rasanter Zunahme der Differenziertheit) auf rund 5,4 Billionen Euro erhöht.

Ein weiterer, bei der Kritik an der Geldpolitik der Zentralbank oftmals vernachlässigter Punkt ist der Zusammenhang zwischen Verzinsung und Inflation. Fachleute sprechen hier von der Differenz zwischen Nominal- und Realgrößen. So ist es wenig überzeugend, wenn wütende Sparer heute darauf verweisen, dass sie vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren für Geldanlagen auf ihren Sparkonten drei, vier oder fünf Prozent Zinsen bekommen haben. Ja, das haben sie, aber nominal! Da damals nicht nur die Verzinsung höher ausfiel, sondern auch die Inflationsrate höher lag, nämlich bei vier, fünf oder mehr Prozent, war die reale Verzinsung entsprechend gering. Für Guthaben auf Sparkonten oder Girokonten lag sie auch früher schon nicht viel höher als null. Heute liegt sie im negativen Bereich. Der Unterschied ist aber bei weitem nicht so groß wie häufig unterstellt. Da viele Menschen jedoch nicht in realen Größen rechnen, sondern nur nominal, ist ihnen das nicht bewusst.

Berücksichtigt man diese Fakten und Überlegungen, so gelangt man zu dem Schluss, dass es gegenwärtig zwar einen Anstieg der Inflationsrate gibt, dieser aber, auf das Jahr bezogen, durchaus noch als moderat anzusehen ist. Im Mittel der letzten drei, fünf oder zehn Jahre war die Preisniveauveränderung eher zu gering als zu hoch, so dass eine mögliche Deflation eine weit größere Gefahr darstellte als die Inflation. In den zurückliegenden dreizehn Jahren betrug die durchschnittliche Inflationsrate im Euroraum 1,3 Prozent. In Deutschland waren es 1,4 Prozent. Der Anstieg des Preisniveaus wird erst dann zu einer wirklichen Gefahr, wenn die Preise dauerhaft ansteigen und mit ihnen die Löhne und sich die Erwartungen der Akteure an den Märkten darauf einstellen, indem sie von vornherein einen immer größeren Preisanstieg einkalkulieren. Dies aber setzt normalerweise eine robuste und sich dem Zustand der Überhitzung nähernde gesamtwirtschaftliche Konjunktur voraus. Ist eine derartiger Entwicklung erkennbar, so kann und muss die Zentralbank geldpolitisch gegensteuern, um die Geldwertstabilität, das heißt die Einhaltung des Zwei-Prozent-Inflationsziels zu garantieren. Davon aber kann gegenwärtig in Deutschland und in Europa überhaupt keine Rede sein. Hier geht es vielmehr immer noch um die Erholung der Wirtschaft nach dem pandemiebedingten Wachstumseinbruch von 2020. Obwohl auch im Januar der Preisanstieg die Marke von zwei Prozent deutlich überstieg, wäre ein massives Eingreifen der Zentralbank mit Leitzinserhöhungen, wie es in den Medien gefordert wird, zu früh und für die konjunkturelle Erholung kontraproduktiv. Insofern erscheint die Entscheidung der EZB vom 03.02.2022, das Pandemie-Notfall-Ankaufprogramm von Wertpapieren im Verlaufe des ersten Quartals allmählich zurückzuführen und im März zu beenden, die Leitzinsen aber vorläufig unverändert zu lassen, gegenwärtig der Lage angemessen. Sollte das Preisniveau entgegen den Erwartungen aber weiter steigen, so wird die EZB spätestens 2023 Zinsmaßnahmen in Erwägung ziehen. Dies alles aber sehr vorsichtig und maßvoll, ohne Hektik und Aktionismus.