25. Jahrgang | Nummer 6 | 14. März 2022

Russischer Imperialismus

von Erhard Crome

Der Oligarchen-Kapitalismus führt Krieg gegen die Ukraine, nicht die russische Bevölkerung“, hatte Sevim Dagdelen, Linken-Abgeordnete im Deutschen Bundestag, am 1. März auf einer Friedenskundgebung gesagt. Das ist richtig, aber nur ein Teil der Wahrheit. Schauen wir nochmals auf die Geschichte Russlands. Die Revolution von 1905 hatte die zaristische Selbstherrschaft erschüttert, sie aber nicht gestürzt. Mit brutalen Mitteln waren die Macht gesichert und das Land wieder unter Kontrolle genommen worden. 1914 fühlten sich der Zar und die Regierung schon wieder stark genug, sich an dem Großen Krieg der Mächte zu beteiligen, der als der erste Weltkrieg in die Geschichte einging. Die Hoffnung im Volk auf eine epochale Veränderung aber blieb. Mit den riesigen Verlusten an der Front nahm die Unzufriedenheit im Lande schließlich systemsprengende Formen an.

Lenin charakterisierte den Imperialismus nicht einfach als Grundcharakteristikum des kapitalistischen Weltsystems, das auf kolonialer Ausbeutung großer Teile der Welt beruht, sondern als „höchstes Stadium“ und „sterbenden Kapitalismus“. Verstärkt durch den allgemeinen Ruin, den der Krieg hervorgerufen hatte, diagnostizierte er eine „weltweite revolutionäre Krise“, die nicht anders enden könne „als mit der proletarischen Revolution und deren Sieg“. Er meinte, die „Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung“ des Kapitalismus werde den „Sieg des Sozialismus zunächst in wenigen kapitalistischen Ländern oder sogar in einem einzeln genommenen Land möglich“ machen. Hier sah er Russland als das „schwächste Glied“ in der Kette des Imperialismus an.

Dass Russland für eine sozialistische Gesellschaft im Sinne Marxens nicht reif war, wurde ausgeklammert. Der Zusammenbruch des Kapitalismus war aus dem Weltzustand, wie er im Weltkrieg zum Ausdruck kam, nicht aus einer Hochentwicklung kapitalistischer Verhältnisse in Russland abgeleitet. Eine rein russische Revolution, als nachholende der französischen von 1789, hätte eine globale Wirkung niemals erreicht. Insofern war die Frage, ob die von Lenin geführte Revolution die im Sinne der Marxschen Lehre „richtige“ sozialistische war, völlig verfehlt, aber eine wirkungsvolle Verkleidung für die tatsächlich 1917 gemachte.

Die Sowjetunion wurde jahrzehntelang in aller Welt als Gegenmacht zu der des Imperialismus unterstützt. Sie hatte bleibende Veränderungen im Weltsystem bewirkt. Dazu gehörten: (1) Der maßgebliche Anteil am Sieg über den Hitlerfaschismus im Zweiten Weltkrieg. (2) Die industrielle Modernisierung Russland, ohne die die Sowjetunion diesen Sieg nicht hätte erringen können. Der wesentliche Grund für die Unterlegenheit Russlands gegenüber Deutschland im ersten Weltkrieg war der wirtschaftlichen und zivilisatorischen Rückständigkeit geschuldet. (3) Die zentrale Rolle bei der Schaffung eines Völkerrechts in Gestalt der UN-Charta, das auf dem Prinzip des Friedens beruht und ein „Recht auf Krieg“ ablehnt. (4) Die indirekte Wirkung des „Arbeiterstaates“ auf die westlichen Länder, ohne die der moderne Wohlfahrtsstaat nicht hätte erkämpft werden können. (5) Die direkte Unterstützung des Kampfes der kolonial unterdrückten Völker zur Zerschlagung des Kolonialjochs.

Die Rücknahme der Revolution in ein kapitalistisches Russland nach dem Ende der Sowjetunion, das einige Attribute des westlichen Parlamentarismus und die Wahl des Präsidenten übernommen hatte, machte deutlich, dass Russland von 1917 bis 1991 am Ende den längstmöglichen Weg des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus zurückgelegt hat.

Bei der Charakterisierung des imperialistischen Weltsystems am Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Lenin die moderne Industrie als Eigenheit des deutschen Imperialismus ausgemacht, während er den britischen einen „Kolonialimperialismus“ und den französischen „Wucherimperialismus“ nannte. Unter den sechs damals wichtigsten imperialistischen Staaten machte er „einerseits junge kapitalistische Länder, die ungewöhnlich rasch vorangeschritten sind (Amerika, Deutschland, Japan)“ aus, „anderseits Länder alter kapitalistischer Entwicklung, die sich in letzter Zeit viel langsamer entwickelt haben als die ersteren (Frankreich und England); und schließlich ein Land, das in ökonomischer Hinsicht am meisten zurückgeblieben ist (Russland), in dem der moderne kapitalistische Imperialismus sozusagen mit einem besonders dichten Netz vorkapitalistischer Verhältnisse überzogen ist.“ In Anlehnung an Lenin konnte daher resümiert werden: Nach dem Ende der Sowjetunion und des Realsozialismus im Osten Europas befinden wir uns wieder in einer Epoche des Imperialismus, in einem weltweiten imperialistischen System. Das gilt ungeachtet dessen, welche Länder historisch im Aufschwung oder historisch im Abschwung sind, auf Krieg und Militär oder eher auf eine friedliche Entwicklung setzen.

Für diese 2015 vorgenommene Charakterisierung des Weltsystems im ersten Abschnitt des 21. Jahrhunderts wurde ich von etlichen Linken kritisiert. Die einen meinten, die EU sei nicht imperialistisch und der nette Präsident Barack Obama auch nicht – was schon von den Realitäten des Jugoslawien-Krieges 1999, dem Irak-Krieg, dem Libyen-Krieg und dem Drohnenkrieg der USA im Nahen und Mittleren Osten, dem nicht wenige unschuldige Hochzeitsgesellschaften zum Opfer fielen, widerlegt war. Die anderen meinten, meine Einschätzung tue Russland Unrecht, es sei doch nur Opfer der imperialistischen Politik des Westens, die NATO immer weiter nach Osten auszudehnen, und es müsse sich verteidigen. Russland halte das atomare Patt aufrecht und zwinge daher die NATO zum Frieden.

Das wurde durch den russischen Krieg gegen die Ukraine jetzt gründlich widerlegt. Es macht keinen Unterschied, dass sie alle Akteure in diesem globalen imperialistischen System sind. Es handelt sich auch nicht nur um die Konkurrenz von Mächten um Macht und Einfluss, sondern auch um Konkurrenz unterschiedlicher kapitalistischer Systeme, mit mehr privatem Finanzkapitalismus in den USA und der EU und mehr Staat und Staatseigentum – wenngleich je unterschiedlich ausgeformt – in China, Russland und Indien. Für die Charakterisierung des Weltsystems nach dem Realsozialismus als imperialistische Welt ist das irrelevant.

Kommen wir nochmals auf Lenin zurück. Er schrieb 1916, es gebe nicht nur etwas, „worum die Kapitalisten Krieg zu führen haben“, sondern sie könnten auch nicht anders, als Krieg zu führen, „wenn sie den Kapitalismus erhalten wollen, denn ohne eine gewaltsame Neuverteilung der Kolonien können die neuen imperialistischen Länder nicht die Privilegien erlangen, die die älteren […] imperialistischen Mächte genießen“. In diesem Sinne führt der oben genannte „Oligarchen-Kapitalismus“ Russlands Krieg gegen den „Oligarchen-Kapitalismus“ der Ukraine, um diesen nicht den alten imperialistischen Mächten des Westens zu überlassen. Zugleich ist es ein Krieg um die Umverteilung der geopolitischen und wirtschaftlichen Macht auf dem Gebiet der einstigen Sowjetunion, unter Aufkündigung der Nomenklatura-Kompromisse von 1991. Die Gewinner des neuen Kapitalismus wurden, auch in Verbindung mit den nachgewachsenen Neureichen in beiden Ländern zu einer neuen „Oligarchen“-Klasse, die sich gegeneinander ausrichten. Zugleich wird die nationale Konstituierung in beiden Staaten verstärkt. Der Nationalismus auf beiden Seiten ist die ideologische Gestalt dessen. Eine Position des Friedens jedoch muss sich gegen beide Nationalismen stellen.

Seit dem Kriegsächtungspakt von 1928 ist es geltendes Völkerrecht, Krieg „als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle“ zu verurteilen und „auf ihn als Werkzeug nationaler Politik“ zu verzichten. Die Sowjetunion war ihm bereits kurz nach den Erstunterzeichnern beigetreten. Die UN-Charta von 1945 fixiert das Friedensgebot als für die internationalen Staatenbeziehungen zentral. Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine bricht mit diesem sowjetischen Erbe und kann nur als offener Bruch des Völkerrechts qualifiziert werden, als Versuch Russlands, Krieg „als Werkzeug nationaler Politik“ zu benutzen. Auch das offen feindliche Bestehen der US-Regierung und der NATO auf Fortsetzung der militärischen Einkreisung Russlands, das Ende 2021 und Anfang 2022 definitiv erklärt wurde, spricht Moskau von dieser Verantwortung nicht frei.

Der Westen antwortet jetzt mit Zerstörung der seit 1990 gewachsenen Verflechtungen der Finanz- und Warenströme des Weltkapitalismus. Wenn sich das wie nach 1914 verstetigt, wird es langfristige Folgen haben, die auf den Westen und seine Positionen im imperialistischen Weltsystem zurückschlagen. Sofern das Leben auf der Erde nicht vorher durch Atomkrieg oder eine umkippende Ökosphäre zerstört wird.