Die „ukrainische Frage“ schien mit dem 2. Weltkrieg gelöst. Es war die Frage nach ihrer Einheit, nachdem die Ukrainer jahrhundertelang in mehreren Staaten, seit dem 18. Jahrhundert in zwei – Österreich und Russland – und in der Zwischenkriegszeit in vier Staaten gelebt hatten – Sowjetunion, Polen, Tschechoslowakei und Rumänien. In Gestalt der Ukrainischen Sowjetrepublik war sie gelöst.
Ihr Wiederauftauchen nach dem Ende der Blockkonfrontation und der Sowjetunion hat nun zu einem Krieg geführt, mit dem in Europa niemand gerechnet hatte. Womöglich außer den üblichen Kriegsanzettlern in Washington. Naheliegend scheint es für manchen, Putin sei in eine ähnliche Brzezinski-Falle getappt wie einst Breshnew mit dem Einmarsch in Afghanistan. Es ist jedoch zu früh, darüber ernsthaft zu diskutieren. Selbst wenn es so wäre, entschuldigt das den Entscheidungsträger im Kreml in keiner Weise. Und: Im Moment ist die Beendigung des Krieges und die Rettung des Lebens vieler das Wichtigste.
Gleichwohl sollten die geistigen und kulturellen Dimensionen nationalstaatlicher Identitätsbildung nicht aus den Augen verloren werden. Der Soziologe und Osteuropakenner Erhard Stölting schrieb 1990, am Ausgang der bereits zerfallenden, aber noch existierenden Sowjetunion ein kenntnisreiches Buch über deren Bestandteile: „Eine Weltmacht zerbricht“. Das Kapitel über die Ukraine beginnt so: „Es bedarf goldener Frühzeiten, um historische Identität und gegenwärtige Ansprüche einer Nation zu begründen. Unglücklicherweise beanspruchen der russische und der ukrainische Nationalismus dieselben Ursprünge: die 989 christianisierte ‚Kiewer Rus‘. Angesichts der glänzenden Kultur dieses mittelalterlichen Reiches ließe sich denken, dass es zwei oder mehrere Nachkommen mit Traditionen hätte versorgen können. Aber in diesem Falle schließen die Ansprüche einander tendenziell aus. Für den russischen Nationalismus ist Kiew die ‘Mutter der russischen Städte’, die Ukraine ein besonderer Teil Russlands mit einer eigenen Folklore und das Ukrainische ein russischer Dialekt. Dem ukrainischen Nationalismus zufolge hat sich Russland das symbolische Erbe der Rus ebenso unrechtmäßig angeeignet wie das Land; und einer der Beweise dafür, dass die ukrainische Nation ein Recht auf souveräne staatliche Existenz hat, ist ihre voll ausgebildete und literarisch erprobte Sprache.“
Tatsächlich haben wir es bei allen Nationsbildungen im Osten Europas mit fließenden Entwicklungen und Übergängen zu tun. Aus Sicht entschlossener Nationalisten jedoch soll in Bezug auf die eigene Nation alles „festgemauert in der Erden“ sein; linear, folgerichtig und seit goldenen Frühzeiten bestehend. Auffällig ist, dass sich die deutschen Großmedien inzwischen auf die Seite des ukrainischen Nationalismus geschlagen hat. So wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.02.2022) behauptet, Putin habe gesagt, „die Ukraine sei eine Erfindung Lenins“. Es liegt mir fern, Putin zu verteidigen. Aber diese Aussage ist falsch. Putin hat gesagt, die Ukraine in den Grenzen, wie sie unter der Sowjetmacht gezogen wurden, sei eine Erfindung Lenins gewesen, und vor allem die Entscheidung, dass die Unionsrepubliken ein Recht auf Lostrennung von Russland haben sollten – was unter Stalin als Recht auf Austritt aus der Sowjetunion in die Verfassung geschrieben wurde. Der wurde dann bekanntlich 1991 vollzogen. Insofern ist auch die Behauptung: „Putin trauert der Sowjetunion nach“, die immer mal wieder von einer Zeitung in Deutschland von einer anderen abgeschrieben wurde, Mumpitz. Putin wollte nie Ersatz-Generalsekretär im Kreml sein, sondern der Ersatz-Zar. Davon zeugen der Pomp des Hofzeremoniells, die altertümlichen Uniformen der Soldaten, die die goldenen Türen im Kreml öffnen, die Möbel im Stile des 19. Jahrhunderts und die lebensgroße Zarenfigur in dem Saal, in dem neuerdings die hohen Gäste empfangen werden.
In jenem FAZ-Text nun wurde versucht, ausgerechnet Rosa Luxemburg für Putins Krieg gegen die Ukraine in Haftung zu nehmen. Zitiert wurde: „Der ukrainische Nationalismus war […]“. An dieser Stelle wird in der FAZ etwas weggelassen, nämlich: „in Russland ganz anders als etwa der tschechische, polnische oder finnische“, gemeint: Nationalismus. Luxemburg schreibt nicht gesondert über die Ukraine, aber die tendenziös vorgenommene Kürzung will genau das unterstellen. Weiter geht es, im Original wie in der FAZ: „nichts als eine einfache Schrulle, eine Fatzkerei von ein paar Dutzend kleinbürgerlichen Intelligenzlern, ohne die geringsten Wurzeln in den wirtschaftlichen, politischen oder geistigen Verhältnissen des Landes, ohne jegliche historische Tradition, da die Ukraine niemals eine Nation oder einen Staat gebildet hatte, ohne irgendeine nationale Kultur […]. Und diese lächerliche Posse von ein paar Universitätsprofessoren und Studenten bauschten Lenin und Genossen durch ihre doktrinäre Agitation mit dem ‚Selbstbestimmungsrecht bis einschließlich‘ usw. künstlich zu einem politischen Faktor auf.“ Der Text, der in der FAZ hier abbricht, geht im Original so weiter: „Sie verliehen der anfänglichen Posse eine Wichtigkeit, bis die Posse zum blutigen Ernst wurde: nämlich nicht zu einer ernsten nationalen Bewegung, für die es nach wie vor gar keine Wurzeln gibt, sondern zum Aushängeschild und zur Sammelfahne der Konterrevolution. Aus diesem Windei krochen in Brest die deutschen Bajonette.“
In der anti-linken Greuelpropaganda der FAZ wird weiter behauptet: „Diese unlängst von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unkommentiert wiederaufgelegte Hetzschrift liest sich besonders schräg in der Zeit, in der man alle historischen Figuren im Hinblick auf ihre kolonialen oder rassistischen Ansichten infrage stellt.“ Die polnische Jüdin, von deutschen Rechten ermordet, soll nun den ukrainischen National-Propagandisten nicht im Wege stehen. Eine solche politische Korrektheit folgt nicht nur stromlinienförmig dem spätbürgerlichen Mainstream, sondern ist zutiefst reaktionär. Oder mit der Heiligen Schrift: Das ist falsch Zeugnis geredet.
Tatsächlich ist festzustellen: Erstens, es handelt sich nicht um eine „Hetzschrift“, sondern um den berühmten Text: „Zur russischen Revolution“ aus dem Jahre 1918, in dem sie die Chancen, Perspektiven und Probleme der russischen Revolution vor dem Hintergrund der Machtausübung durch die Bolschewiki analysiert und deutlich macht, dass die Abschaffung der Demokratie dazu führt, dass eine Diktatur, nicht des Prolatariats, sondern die einer Handvoll Politiker entsteht, die das politische Leben im Lande erdrückt. Zweitens ist dieser Text weltweit unzählige Male kommentiert worden. Das ist auch in den deutschen Werksausgaben Luxemburgs geschehen und vielfach nachzulesen. Dieses Fahrrad muss der politisch korrekte Kleinbürger von heute nicht neu erfinden. Drittens bildet Luxemburgs Darstellung des Nationalismus-Problems, darunter des ukrainischen Nationalismus, nur eine Facette ihrer Gesamtanalyse der problematischen Ergebnisse der Herrschaft der Bolschewiki.
Luxemburgs Standpunkt war immer und ist auch hier der der sozialistischen Revolution. Und hier erklärt sie, dass das Eingehen der Bolschewiki auf die Wünsche des „kleinbürgerlichen Intellektuellen-Nationalismus“ die Einheit der Arbeiter im Kampf um die Revolution geschwächt habe, und dass wegen dieser Schwächung der konterrevolutionäre Nationalismus Oberwasser bekommen konnte. Am Ende kritisiert sie – als ordentliche Internationalistin – vor allem den deutschen Imperialismus. Der hatte – das konnte sie ja auch im Gefängnis anhand der Landkarte sehen – nach dem Frieden von Brest-Litowsk mit Sowjetrussland (März 1918) nochmals große Teile der Ukraine und Russlands besetzt. Hier war, so ihr Argument, die nationale Zersplitterung ein Moment der Schwächung Sowjetrusslands: das „Windei“, aus dem die deutschen Bajonette krochen. Ein linker Standpunkt ist auch heute nicht, sich dem einen oder dem anderen Nationalismus anzudienen, sondern die Ablehnung eines jeden Nationalismus.
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