25. Jahrgang | Nummer 5 | 28. Februar 2022

Zurück zu „Treu und Glauben“ – besser: neu beginnen?

von Herbert Bertsch

Hast Du Sicherheiten?
Genügt nicht das Wort eines Ehrenmannes?
Gewiß: Bring einen!

Mag es der Teilduplizität des Datums geschuldet sein oder unbegründetem Zufall – wir beginnen mit dem Bericht des Handelsblatt vom 2. Februar 2014 über ein Treffen, mit Pausen, beim „Besuch der alten Herren“ anlässlich „50 Jahre Münchner Sicherheitskonferenz“: Ex-US-Außenminister Henry Kissinger (90), Frankreichs Ex-Präsident Valery Giscard d’Estaing (87), Egon Bahr (91), angeführt von Helmut Schmidt (95), die vom Moderator befragt wurden, ob es die NATO in zehn Jahren noch gibt. Antwort im Schmidt-Format: „Das ist mir ziemlich gleichgültig“. Egon Bahr machte die Sachaussage dann mittendrin: „Die Grundstruktur der transatlantischen Sicherheit ist unverändert geblieben.“

Das ist Schicksal der NATO und davon Betroffener in einer Zeitgenossenschaft, deren historisches Merkmal vornehmlich Veränderungen sind. Den freundlich Plaudernden war gewiss gewärtig, was sich in der Welt ereignet hatte; zum Beispiel der Untergang der Sowjetunion und der von ihr dominierten Halbwelt. (Das in solchem Zusammenhang üblicherweise benutzte Zitat mit der Quelle: „Putin vor der Bundesversammlung der Russischen Föderation am 25. April 2005“ lautet richtig: „Vor allem sollten wir anerkennen, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion eine große geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts war; häufig verfälscht zu „die größte“.)

Die „unveränderte Grundstruktur“ begründet wohl auch, warum die NATO sowohl die mehrfachen Angebote der Sowjetunion zum Beitritt ohne Dank dafür ausgeschlossen hat, als auch nur widerwillig dem Helsinki-Prozess zustimmte. Dies erst, nachdem in der zweijährigen Vorbereitung von echten Europäern zugestanden worden war, dass auch die USA und Kanada nicht nur als „Gast“, sondern gleichberechtigt als Staaten mitwirken und die Schlussakte unterzeichnen könnten. Ein schönes Beispiel für das Prinzip diplomatischer Regelungen: Wenn Wille da ist, finden sich auch Wege.

Seitens der als sozialistisch deklarierten Staaten, von denen Idee, Konzept und die materielle Vorbereitung ausgingen, wurde Helsinki zwar eine starke, wenngleich nicht vertragliche Anerkennung und Sicherung der friedlichen Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftssysteme in Europa: Befestigung des Status quo. Aber praktisch ohne vergleichsweise Möglichkeit der Aus- und Einwirkung „Europas“ einschließlich der Sowjetunion auf den „Rest der Welt“. Dafür verblieben eigentlich nur die Bezüge auf den „Prinzipien-Katalog“, in Sonderheit unter X. : „Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben“; womit, dort undefiniert, auch Patt-Situationen gemeint sind, die vermittels des „Gleichgewichts des Schreckens“ geschaffen und länger erhalten werden konnten. Ein zwar belastungsfähiger, aber labiler Zustand, der bei fortwährender Abwesenheit oder Verlust von Vertrauen ständig in Gefahr schwebt, zur „Politik der Stärke“ umzuschlagen. Und Versuchungen kann man bekanntlich nur selten widerstehen.

In der Runde mahnte Kissinger („Ich habe schon von die Kennedy- Regierung gearbeitet“ – Originalzitat!) mit schmerzlicher Erfahrung aus Afghanistan und Irak zur Vorsicht: Wer irgendwie interveniert, müsse auch wissen, was er tut. Amerika habe Kriege begonnen, sei aber nicht in der Lage gewesen, sie zu einem stabilen Ende zu bringen. Deshalb, so der Amerikaner, müsse man daraus Lehren ziehen. „Wir dürfen uns nicht vom Augenblick der Wut verleiten lassen, wenn wir nicht darauf vorbereitet sind, den Krieg bis zum Ende durchzustehen.“ Das ist nun nicht die Absage an Gewalt; aber zumindest die Anregung, nicht ohne hinreichende Abwägung von Aufwand und Nutzen bei der Durchsetzung von Interessen tätig zu werden. In Zeiten von Krieg oder Kriegsgeschrei immerhin beachtenswert.

Um die Jahreswende zu 2022 erschien die so genannte „Streitschrift“ von Klaus von Dohnanyi „Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche“. Ein Plädoyer für deutsche außenpolitische und internationale Interessen. Dazu Theo Sommer in Die Zeit vom 11. Januar: „Das Antriebselement der US-Politik sieht er weder im humanitären Engagement noch im Eintreten für Demokratie, sondern im nackten Verfolgen amerikanischer Großmachtinteressen. Aus innenpolitischen Gründen wolle Washington die Spannung mit Russland aufrechterhalten und versuche ferner, Europa als Teil einer westlichen Wertegemeinschaft in einen Weltmachtkonflikt mit dem erstarkenden China hineinzuziehen. Beides könne weder europäisches noch deutsches Interesse sein. […] Die Verschlechterung des westlichen Verhältnisses zu Russland führt Dohnanyi auf die unbegrenzte Osterweiterung der NATO bis an die russische Türschwelle zurück.“

Am 2. Februar 2022 (acht Jahre auf den Tag nach der Unterhaltung in München), sah sich Mary Elise Sarotte spontan zu einem Twitter-Beitrag veranlasst, weil in El Pais Auszüge aus der US-Antwort an die russische Regierung vorab erschienen waren. „Wenn diese zutreffen“, so die Fachfrau, „bedeutet das die Wiedereröffnung der damaligen Auseinandersetzungen (‘battles’), die ich in meinem Buch ‚Not one inch: America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate‘ dargestellt habe“. Die Rede ist von ihrer jüngsten Publikation, auf dem dortigen Markt seit 30. November 2021.

Die Professorin Sarotte gilt als profilierte Historikerin zu Fragen des Kalten Krieges wie auch der Zeit danach bis in die unmittelbare Gegenwart mit Zugang zu US-amerikanischen Regierungsakten. Vermutlich hat sie auch länger in Beständen bei der Stasi-Unterlagenbehörde und anderen Standorten in Berlin gearbeitet. In ihren Veröffentlichungen finden sich auch die entscheidenden Texte des Ex-Außenministers Baker von seiner Begegnung mit Gorbatschow Anfang Februar 1990 in Moskau und deren Auswirkungen und Entscheidungen in Washington mit weltpolitischen Konsequenzen bis auf den heutigen Tag. Deren Kern:

„Baker: Ich möchte Sie fragen, und Sie müssen nicht gleich darauf antworten: Nehmen wir an, die Vereinigung findet statt, was würden Sie bevorzugen: ein vereinigtes Deutschland außerhalb der NATO, absolut unabhängig und ohne amerikanische Truppen; oder ein vereinigtes Deutschland bei Beibehaltung der Verbindung zur NATO, aber mit der Garantie, dass deren Jurisprudenz (Rechtsordnung – H.B.) oder Truppen der NATO nicht weiter ostwärts über die gegenwärtigen Grenzen ausgedehnt werden? Gorbachev: Wir werden alles überdenken.“ Baker notierte: „End result: Unified Ger. anchored in a changed (polit.) NATO – whose juris. would not move eastward.”

Die Einbeziehung des ehemaligen DDR-Territoriums wurde die erste erhebliche Erweiterung der NATO in Richtung der sowjetischen Staatsgrenze als „Duldung“ ohne strategische Gegenleistung. Im „Westen“ wird als Erfolg gefeiert, dass dieses Ergebnis erzielt wurde, „ohne einen Schuss abgefeuert“ zu haben. Dabei wird übersehen, dass dieses Ergebnis für USA das eigentliche Ziel war; die deutsche Einheit nur mit dieser Hauptwirkung. Manche „Unterstützer“ dieses Kurses, der die NATO strategisch bis zur russischen Staatsgrenze geführt hat, interpretieren das als Nachweis der Friedfertigkeit der NATO in Vergangenheit, Gegenwart und mit Lizenz für Erweiterungen

Gibt es wirklich Grund für solche hehren Wertungen? Am 20. November 2019 wurde M.E. Sarotte in einem Podcast der Körber Foundation danach befragt, ob man nicht diesen ganzen Prozess unter „The winner takes it all“ rubrizieren sollte, was sie so bejahte: „Wie Präsident George H. W. Bush wörtlich sagte: Wir haben gewonnen, sie nicht. Wir haben uns durchgesetzt, sie nicht. Also machen wir, was wir wollen.“ Da passte die Baker-Variante nicht mehr. „Baker hörte auf, diesen Satz zu verwenden. Baker hörte auf, Gorbatschow zu sagen, die NATO bewegt sich keinen Zentimeter. […] Es gibt mehrere Autoren, die behaupten irreführender Weise, das Thema sei nie aufgekommen. Das sei eine Erfindung von Moskau. Das stimmt nicht. Das Thema kam definitiv auf und zwar in mehreren Zusammenhängen, ist besprochen, ist erwähnt worden, ist bloß nichts vereinbart worden.“

Was wäre aber dann anders verlaufen, gäbe es Texte mit Unterschriften? Wäre die NATO dann wenigstens zum Disziplinierungsinstrument „maßgeschneidert“ zur internationalen Sicherheit „vor Deutschland mit Deutschland“ geworden, wie Bahr sich dies am Lebensende als wünschenswert vorstellte?

Am 18. November 2021 hielt Botschafter Frank Elbe, als Büroleiter und Redenschreiber von Außenminister Genscher war er Teilnehmer aller hier in Rede stehenden Verhandlungen, vor Bonner Studenten einen Vortrag „Zum Umgang mit Russland – Rückkehr zu bewährten Strategien“. Als Zustandsbeschreibung zitierte er „den bekannten amerikanischen Journalisten der New York Times, Tom Friedman“, auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2008 so: „Wir erwarten von Euch Russen, dass Ihr Euch wie eine westliche Demokratie verhaltet, aber wir werden Euch behandeln, als wäret Ihr weiterhin die Sowjetunion. Der Kalte Krieg ist für Euch vorbei, aber nicht für uns.“

Und mit diesem Anspruch sollte es auch hinsichtlich einer noch größeren NATO weiter gehen?

„Es ist verrückt, die Dinge immer gleich zu machen und dabei auf andere Ergebnisse zu hoffen.“ Deshalb riet Albert Einstein von diesen Verfahren ab und empfahl statt dessen: Neu beginnen!