Wenn du in den Krieg ziehst, bereite zwei Särge vor.
Für den Feind und, nur für den Fall,
für dich selbst.
Russisches Sprichwort
Ein Berliner Grundschüler schreibt – wie in dieser Klasse auch an anderen Tagen üblich – an jenem Donnerstag das Datum an die Tafel: „24. 2. 2022“. Darunter setzt er jedoch „Beginn des 3. Weltkrieges“. Panikmache? Entsetzen war wohl die häufigste Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine. Wir erleben ein in seinen Folgen unabsehbares völliges Versagen von Politik und Diplomatie. Einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine hat man ebenso wenig für möglich gehalten wie den Fall der Mauer oder gar den Zusammenbruch der Sowjetunion.
„Trauer und Scham“ bekennt Dmitri Muratow, Chefredakteur der Nowaja Gasjeta. „Unser Land hat auf Befehl von Präsident Putin einen Krieg mit der Ukraine begonnen“, sagt der Friedensnobelpreisträger. In seinen Händen halte der Oberbefehlshaber den „Nuklearknopf“, der wie der Schlüsselanhänger eines teuren Autos aussehe. „Ist der nächste Schritt eine nukleare Salve?“ Seine Zeitung erscheine an diesem Tag in Ukrainisch und Russisch. „Denn wir erkennen die Ukraine nicht als Feind und das Ukrainische nicht als feindliche Sprache an.“
Der Segen der Kirche bleibt aus. „Es ist ein Unglück geschehen“, klagt Metropolit Onufry von Kiew und der ganzen Ukraine, Oberhaupt der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats. „In tiefem Schmerz“ erinnert Kirill, Patriarch von Moskau und ganz Russland, das russische und das ukrainische Volk verbinde eine jahrhundertealte Geschichte. Diese gehe auf die Taufe Russlands durch den heiligen Fürsten Wladimir zurück. „Ich glaube, dass diese von Gott geschenkte Gemeinschaft dazu beitragen wird, die Spaltungen und Widersprüche zu überwinden, die zu dem gegenwärtigen Konflikt geführt haben.“
Zum Auftakt der Sitzung des Sicherheitsrates bekennt der UN-Generalsekretär, der Tag sei voller Gerüchte und Hinweisen auf eine Offensive gegen die Ukraine gewesen. Aber er habe nicht daran geglaubt, sei überzeugt gewesen, dass nichts Ernstes geschehen werde. „Ich habe mich geirrt“, räumt António Guterres ein. Wir alle konnten dem Truppenaufmarsch an den Grenzen zusehen. Aber jetzt erst, da der Überfall erfolgt ist, erweist sich das Undenkbare als denkbar.
Auch ich hatte es zunächst nicht glauben wollen und erinnere mich einer Autofahrt als Korrespondent Anfang der 90er aus Moskau in den Urlaub nach Berlin. An der ukrainischen Grenze wird die Auflösung der Sowjetunion sichtbar: Ein Tisch am Straßenrand, Grenzer spielen Karten, winken uns durch. Keine weiße, schon gar keine dicke rote Linie oder gar Panzersperren. Damals lud uns der Partner im Moskauer Außenministerium noch auf seine Datscha ein. „Das ist nicht so weit, die liegt aber schon in der Ukraine.“
„Meinst Du, die Russen wollen…?“ – das Nein auf die Frage im Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko, ob die Russen Krieg wollen, gehörte in der DDR zum Erbgut. Über deren Untergang sowie die Kriege in Afghanistan und Tschetschenien erstaunlich hinaus. Aber jetzt? Vertrauen ist zerstört. Wer stets noch um Verständnis für Russland bemüht war und es damit nicht immer leicht hatte, wurde bös überrascht. Wie viel Freunde sich nun abwenden, lässt sich nicht einmal ahnen. Ende der Gewissheiten. Alles scheint möglich. „Die russischen Panzer werden nicht mit Blumen begrüßt“, bestätigt der Kommandeur des Bataillons „Wostok“ vor dem Angriff auf Mariupol. „Die Menschen sind verängstigt, sie verstehen nicht, was vor sich geht. Das Auftauchen der russischen Armee hat sie schockiert.“
„Die Zukunft Russlands wird im Feuer dieses Krieges verbrennen, und es wird für lange Zeit zu einem Schurkenstaat in der Welt werden“, orakelt bitter der Petersburger Jabloko-Abgeordnete Boris Wischnewski. „Dieser fatale Schritt führt zu enormen Verlusten an Menschenleben und untergräbt die Grundlagen des etablierten Systems der internationalen Sicherheit“, schreiben in einem Offenen Brief hunderte russische Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten. „Die Verantwortung für die Entfesselung eines neuen Krieges in Europa liegt allein bei Russland.“
Mit einem „Kurzen Abriss der Geschichte für die Tik-Tok-Kinder“ hält die Komsomolskaja Prawda dagegen: „2014 stürzten vom Westen finanzierte nationalistische Gangstergruppen in der Ukraine gewaltsam den ukrainischen Präsidenten. Sie ergriffen die Macht unter dem Motto: Für alles, was gut ist, gegen alles, was russisch ist. Sie haben die russische Sprache verboten. Die russischsprachige Bevölkerung in der Ostukraine rebellierte gegen die Nazis, weil sie nicht Ukrainisch sprechen und mit Russland verfeindet sein wollte. Daraufhin brach ein Krieg aus.“ Russland habe lange gezögert „unseren“ zu helfen und sich am 24. Februar endlich entschieden: „Direkte Online-Übertragung kp.ru“.
In seiner Ansprache an die Nation versuchte Wladimir Putin Erklärungen: „Dies ist eine Frage von Leben und Tod, eine Frage unserer historischen Zukunft als Nation. Die Bedrohung geht vom ukrainischen Territorium aus, das ‚russlandfeindlich‘ geworden ist und unter vollständiger äußerer Kontrolle steht.“ Was dem Westen recht ist, kann Russland billig sein, so die fatale Logik des Chefs im Kreml. Das Völkerrecht habe der Westen durch die Bombardierung von Belgrad, Libyen, Irak und Syrien mit Aggression und Einmischung ja auch gebrochen. Die Übernahme der Krim erfolgte nach russischer Lesart unter Berufung auf eine Volksabstimmung und den Westen – der habe mit dem NATO-Krieg auf dem Balkan und der Abtrennung des Kosovo von Serbien das Beispiel gegeben.
Der Westen müsse immer mehr Druck ausüben und zugleich den Dialog erhalten, lautete das gängige Allheilmittel für die Krise. Aber wahrlich nicht alles, was der Westen tat, war wohlgetan. Versäumt wurden im Überschwang des Triumphes im Kalten Krieg und auf dem Kiewer Majdan tragfähige Lösungen für die Zukunft. Die Ukraine als Brücke zwischen Ost und West zum Beispiel. Niemals ernst genommen wurden Moskauer Besorgnisse. Das ignorierte seinerseits arrogant den Präsidenten des slawischen Nachbarn. Dabei hat Wolodymyr Selenskyj deutliche Zeichen gesendet: seine erste Pressekonferenz zur Hälfte demonstrativ in russischer Sprache gehörte dazu.
Wenn Forderungen wie nach Sicherheitsgarantien und dem Ende der NATO-Osterweiterung schon vor der Verhandlung als unerfüllbar und unsinnig abgetan werden, kommt niemand weit. Maximalforderungen wie ein NATO-Rückzug auf die Positionen von 1997 wiederum laden zur Zurückweisung ein. Zwischendurch schmeißt man sich seine Diplomaten gegenseitig raus. Sanktionen gebe es sowieso, Gründe fänden sich immer, hatte Putin kürzlich fast nebenbei vermerkt. Der Publizist Konstantin Remtschukow kommentierte, „das kann auch ein Auslöser für manche Entscheidungen sein.“ Im Kreml wurden Emissäre höchster Ränge zu Gesprächen empfangen, als die Marschbefehle offenbar schon längst bereit lagen.
Я больше ни с кем не спорю, Правда у всех своя… Кому-то и лужа — море… , schreibt die russische Poetin Swetlana Tschekulowa. „Ich streite mit niemandem mehr, / Jeder hat seine eigene Wahrheit… / Des einen Teich ist dem anderen ein Meer…»
Die Moderatorin Tatjana Lasarewa berichtet: „Die Ukrainer schreiben: ‚Sagt den Russen, dass wir gegen den Krieg sind‘. Die Russen schreiben: ‚Sagt allen Ukrainern, dass wir gegen den Krieg sind‘.“ Noch gebe es keine Mobilisierung, beruhigen uns Moskauer Freunde. Doch sei es „schrecklich, dass anstelle von Stimmen Schüsse und Explosionen zu hören sind“. Aber niemand im Westen oder in Amerika habe über den ständigen Beschuss des Donbass und den Tod von Zivilisten gesprochen. „Lasst uns friedlich leben, lasst uns arbeiten, lasst uns gleichen Handel treiben! Nein, sie wollen uns wieder in die Knie zwingen, wie unter Jelzin.“ Der Künstler Dmitri Shagin erinnert, dass jeder zweite Mensch in Russland ukrainische Wurzeln habe. „Deshalb denke ich, dass wir uns selbst umbringen, wenn wir die Ukrainer töten.“
Die russische Kriegskasse ist prall gefüllt, das spricht für Planung. Nach Einschätzung von Experten hatte Russland im Januar 2022 Reserven von rund 630 Milliarden US-Dollar, davon 498 Milliarden US-Dollar Devisen und für 132 Milliarden US-Dollar Gold. Damit könnte das Land wohl zwei Jahre scharfer Restriktionen gut überstehen. Wäre solcher Reichtum nicht bessere Verwendung wert – Modernisierung der Wirtschaft, Ausbau der Infrastruktur, Anhebung der Gehälter, Renten, Sozialleistungen? Ein attraktives Russland hätte allemal größere Anziehungskraft als ein kriegerisches.
Was soll mit dem Waffengang erreicht werden? Doch wohl mehr als die Sicherung der abgespaltenen Gebiete, also die ganze Ukraine? Wer in ein solches Abenteuer hineingeht, sollte wieder hinaus finden können. Das hat sich schon beim demütigenden sowjetischen Abmarsch aus Afghanistan tragisch erwiesen. Die Flucht der US-geführten Westallianz aus Kabul sah nicht besser aus. Aber wie soll der Sieg aussehen? Ein Marionettenregime, anhaltende Besetzung gegen aktiven und passiven Widerstand der Bevölkerung? Die Welt protestiert, und die NATO rückt derweil zusammen und weiter vor. Die Wehretats werden steigen. US-Präsident Joe Biden versenkt freudig Nord Stream 2 und verschifft künftig sein Frackinggas nach Deutschland. Das alles kann der Kreml nicht wollen.
Direkte Auswirkungen auf die russische Innenpolitik sieht die Njesawissimaja Gasjeta. So komme ein „Wechsel von Putin an der Spitze des Landes unter diesen Umständen nicht in Frage“. Schließlich lasse ein „verantwortungsvoller Politiker sein Volk nicht im Stich, wenn das Land von Feinden und Russenhassern, Sanktionen und Erpressung umgeben ist“. Dessen belarussischer Sportsfreund Alexander Lukaschenko hat das mit dem ihm eigenen Zartgefühl als brutaler Alleinherrscher schon verkündet: „Wenn ihr uns weiterhin so angreift wie im Jahr 2020, werde ich für immer Präsident sein!“
Schlagwörter: Dmitri Muratow, Klaus Joachim Herrmann, NATO-Osterweiterung, Putin, Russland, Sicherheitsrat, Überfall, Ukraine