Ein im starken Maße politisch gefärbter Film wird derzeit in Polens Lichtspieltheatern herumgereicht. Künstlerisch kaum der Rede wert, so zieht der Filmtitel dennoch sein Publikum an – „Gierek“. Der Film zwingt außerdem, im Blätterwald – im Feuilleton oder auf den immer noch vielgelesenen Geschichtsseiten – auf das Jahrzehnt zwischen dem Dezember 1970 und dem August 1980 zurückzukommen. Allgemein fällt auf, dass die Kritik am Kunstwerk im liberalen Teil vernichtend, woanders aber wohlwollender ist.
Neben Władysław Gomułka und Wojciech Jaruzelski gehörte Edward Gierek (1913–2001) zu den drei tonangebenden Gestalten der VR Polen. Den ersten beerbte er nach Arbeiterunruhen in den großen Küstenstädten Ende 1970, den Aufstieg des anderen bereitete er im Sommer 1980 mit einer nahezu vollkommenen politischen Pleite gewissermaßen vor. Gäbe es jetzt Popularitätsumfragen, stellte Gierek die beiden anderen allerdings klar in den Schatten. Noch Anfang dieses Jahrhunderts war er im allgemeinen Ansehen zudem populärer als der legendäre „Solidarność“-Führer Lech Wałęsa. Die Filmemacher nutzten, um ihre politische Botschaft an das Publikum zu bringen, diesen guten Ruf nun noch einmal aus.
Die bewusst naiv gehaltene Fabel des Filmes geht so: Der soeben zum Ersten Sekretär erwählte Gierek fährt an die Küste zu den protestierenden Werftarbeitern, verspricht, dass unter ihm nie wieder auf Arbeiter geschossen werde, erhält zur Antwort das legendäre „Wir helfen Dir!“. Nun geht er ans große Aufbauwerk, ein „zweites Polen“ das große Ziel. Um dem übergroßen politischen und wirtschaftlichen Einfluss des großen Bruders aus dem Osten auszuweichen, werden umfangreiche Kredite im Westen aufgenommen – hier spielen Giereks Westerfahrungen im Zweiten Weltkrieg eine große Rolle. Das nun passt weder den Mächtigen im Kreml noch den im Machtpoker unterlegenen Konkurrenten in der eigenen Partei. An die Spitze der Fieslinge aber setzt sich General Jaruzelski, der im engen Bunde mit dem KGB und mit allen finsteren Mitteln Gierek nun zu Fall zu bringen sucht. Dem Zuschauer bleibt nicht verborgen, wie eng der General es mit den Russen hält. Als nun wieder Arbeitermassen zu streiken und zu protestieren beginnen, hält Gierek sein Versprechen – es wird nicht geschossen. Er wird auf Betreiben Jaruzelskis gestürzt, endet im Film schließlich nach Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 als Internierter.
Die Legende von seinem lange vorbereiteten Sturz hatte Gierek bereits selbst kurz nach dem Ende der VR Polen in Buchform verbreiten lassen. Damals ging indes kaum jemand auf die abenteuerliche Interpretation ein, wofür es viele handfeste Gründe gab, auch jenen, dass alles eben noch viel zu frisch war und die Dinge gleichermaßen auf dem Tisch lagen. Den Zusammenhang zwischen Gierek und Jaruzelski kurzerhand so herzustellen, dass letzterer den anderen aus schnöder Machtgier gestürzt habe, stieß alle Seiten noch vor den Kopf. Jetzt indes fällt diese Behauptung unter künstlerische Freiheit, für die meisten im Kinopublikum sind die auf der Leinwand verhandelten Vorgänge ohnehin dunkle Vorzeit, in der die Kühe allesamt grau sind. Dazu passt nun, dass in der filmischen Umsetzung der einsam-tragische Held inmitten der teils lächerlich, teils äußerst gefährlich wirkenden Sozialismus-Einheitssoße wenigstens als eine zumindest moralisch integre, wiewohl tragische Gestalt herausgehoben wird. Um selber an die politischen Machthebel zu kommen, wurde das Programm des „zweiten Polens“ von dessen Gegnern schmählich an die Sowjets verraten.
Noch immer gibt es Leuchttürme aus der Gierek-Zeit, die sich vorzeigen lassen. Der Zentralbahnhof in Warschau wirkt mit seiner filigran anmutenden Konstruktion des Hauptgebäudes inmitten neuer Hochbauten wie eine architektonische Perle. Die vierspurige Straße zwischen Warschau und Katowice war bis zur Errichtung eines umfänglichen Autobahnnetzes mit den üppig fließenden EU-Mitteln für lange Zeit Polens leistungsfähigste Straßenverbindung. Und die Schienenverbindung zwischen Kraków beziehungsweise Katowice und der Hauptstadt war damals die schnellste Zugstrecke im gesamten Realsozialismus überhaupt. Sie ist heute wegen ihrer hohen Zuverlässigkeit noch immer die mit Abstand beliebteste Eisenbahnmagistrale im Lande. Aber es gibt eben auch die Erinnerung an die vielen Investruinen, die ein Ausdruck waren für das krachend gescheiterte Wirtschaftskonzept. Bestes Beispiel lieferte die Ursus-Fabrik in Warschau, Europas größte Traktorenfabrik damals. Produziert werden sollten Traktoren auf Basis westlicher Lizenz, indes verspätete sich die Inbetriebnahme der Fabrik um etliche Jahre, so dass aus dem erhofften und dringend gebrauchten Exportgeschäft nichts wurde. Niemand im Westen brauchte noch die technisch bereits wieder veraltete Konstruktion aus dem Osten.
Wenn also zwischen Gierek und Jaruzelski ein Zusammenhang herzustellen sei, dann eher der, dass Giereks Nachfolger nie mehr aus dem Schatten der tiefen Wirtschaftskrise herausgekommen ist, in die Polen im Laufe der Gierek-Zeit hineingeschlittert war und die zu jenen Arbeiterprotesten geführt hatte, mit denen die Fundamente der sich sozialistisch wähnenden Gesellschaft schließlich untergraben wurden. Dass Jaruzelski erst Anfang 1989 mit dem Runden Tisch den gordischen Knoten zu zerhauen suchte, hängt mit vielen Dingen, nicht zuletzt mit dem späteren Auftauchen Gorbatschows ab Mitte der 80er Jahre zusammen. Nun aber, so wie im Film weisgemacht, aus Jaruzelski einen heimtückischen wie feigen Verräter an den Interessen Polens zu machen, trifft dann ganz nebenbei auch jene liberal ausgerichtete „Solidarność“-Seite, die am Runden Tisch Platz genommen hatte. Da wird Geschichte kräftig auf den Kopf gestellt, wie es plumpe Regierungspropaganda nicht besser könnte.
„Gierek“, Regie: Michał Węgrzyn, Drehbuch: Rafał Woś und andere, Polen 2021, läuft derzeit in polnischen Kinos.
Schlagwörter: Edward Gierek, Geschichte, Jan Opal, Polen, Solidarnosc, Wojciech Jaruzelski