Am 14. Januar war auf zeit-online ein Brief von 73 „Experten“, die sich mit Osteuropa beschäftigen, nachzulesen, in dem diese eine „Korrektur deutscher Russlandpolitik“ forderten – im Sinne einer aggressiveren Politik, die deutlich über die bisherigen EU-Wirtschaftssanktionen hinausgeht. Initiiert wurde der Brief von dem Politikwissenschaftler Andreas Umland, der schon seit geraumer Zeit als Sachwalter des ukrainischen Nationalismus unterwegs ist. Zu den Unterzeichnern gehören Gerhard Simon, ein Fossil des Kalten Krieges, einst Ostforscher in Köln, der schon immer gegen Moskau war, der ehemalige Grünen-Abgeordnete Volker Beck, die frühere Europa-Abgeordnete der Grünen Rebecca Harms, ein Mitglied der Geschäftsführung des „Zentrums Liberale Moderne“, dem das Grünen-Ehepaar Marieluise Beck und Ralf Fücks vorsteht, der frühere CDU-Abgeordnete Rupert Polenz sowie Mitarbeiter der Friedrich-Naumann-, der Konrad-Adenauer-, der Friedrich-Ebert- sowie der Heinrich-Böll-Stiftung und des German-Marshall-Fund.
Die Autoren wenden sich gegen „den zunehmend aggressiven Kurs“ Russlands, dem Deutschland nicht länger „tatenlos“ zusehen dürfe. Diplomatische Mittel zur friedlichen Beilegung von Konflikten und zur gegenseitigen Vertrauensbildung werden als „lediglich verbale oder symbolische Reaktionen Berlins“ denunziert, die „den Kreml nur zu weiteren Eskapaden verleiten“. Der Brief beginnt mit dem Satz: „Russland stellt in den vergangenen Wochen die seit Ende des Kalten Krieges in Europa geltende Sicherheitsordnung von Grund auf infrage.“
Hier waltet das Prinzip: „Haltet den Dieb!“ Nach der „Charta von Paris“ (1990) ist eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung unter Einschluss Russlands nicht entstanden, weil die USA seit der Bush-Senior-Administration (1989–1993) mit Gefolgschaft der NATO dies zielstrebig verhinderten. Die Sicherheitslage nach dem Kalten Krieg wurde verschlechtert. Zum Vorrücken der NATO gen Osten gehörten der völkerrechtswidrige Krieg gegen Serbien, die Separation des Kosovo, die NATO-Osterweiterungen und die Ratifizierungsverweigerung des modifizierten KSE-Vertrages (über konventionelle Streitkräfte in Europa) durch die NATO-Staaten. 2008 wurde der Ukraine und Georgien ein NATO-Beitritt offeriert; Georgien fühlte sich 2008 zum Krieg ermuntert. Der ABM-Vertrag (zur Begrenzung strategischer Raketenabwehrsysteme) wurde 2002 durch die USA einseitig gekündigt; in Osteuropa wurden Raketenabwehrsysteme der USA errichtet, die auch zu Offensivoperationen fähig sind; der INF-Vertrag (zur Beseitigung atomarer Mittelstreckensysteme) wurde seitens der USA aufgekündigt, ebenso der „Open Skies“-Vertrag. Im Gefolge des von den USA und Verbündeten massiv unterstützten prowestlichen Staatsstreichs in Kiew 2014 sah sich Russland veranlasst, seine Zurückhaltung aufzugeben. Die Übernahme der Krim durch Russland war nicht Ursache, sondern Folge der Spannungen. Die westliche Vorgehensweise hatte objektiv zu einer neuen Bedrohungslage für Russland geführt und bestehendes Vertrauen zerstört.
Bereits auf den 5. Dezember 2021 datiert eine völlig gegensätzliche Erklärung. Sie trägt den Titel: „Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland“. Darin wird „allergrößter Sorge“ Ausdruck gegeben angesichts der sich verstärkenden „Eskalation im Verhältnis zu Russland“: „Wir drohen in eine Lage zu geraten, in der ein Krieg in den Bereich des Möglichen rückt“. Es gebe „keine militärische Lösung“ für die Ukraine-Krise. Es gelte, „Russland und auch die NATO wieder aus einem konfrontativen Kurs herauszuführen“. Die Unterzeichner meinen, die „Drohgebärden Russlands gegenüber der Ukraine und das Imponiergehabe gegenüber NATO-Staaten“ seien „inakzeptabel“. Doch hätten wirtschaftlicher Druck und Sanktionen des Westens keine Änderung der russischen Politik gebracht, „Empörung und formelhafte Verurteilungen“ führten nicht weiter. Deshalb sollte die NATO „aktiv auf Russland zugehen und auf eine Deeskalation der Situation hinwirken“. Dazu werden politische Schritte vorgeschlagen, so eine hochrangige Konferenz im Sinne der KSZE und der „Charta von Paris“, ein Neuansatz für europäische Rüstungskontrolle im Sinne früherer Verträge (wie INF, KSE, Open Skies) sowie ökonomische Kooperationsangebote, um „win-win-Situationen“ zu schaffen.
Zu den 27 Unterzeichnern gehören sechs frühere Generäle der Bundeswehr, darunter Klaus Naumann, ehemals Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, drei Oberste a.D., sechs frühere BRD-Botschafter sowie Professoren der Politikwissenschaft, darunter von der Bundeswehr-Universität Hamburg und vom dortigen Institut für Friedensforschung. Verantwortlich zeichnete der Politikprofessor Johannes Varwick, bis 2021 Präsident der „Gesellschaft für Sicherheitspolitik“. Bei so viel staatstragendem Sachverstand hätte solch eine Erklärung Einfluss auf die tatsächliche deutsche Außenpolitik haben sollen. Die Erklärung erschien jedoch nur auf der Webseite von Professor Varwick, eher versteckt auf der der Bundeswehruniversität Hamburg und auf einigen weiteren Webseiten und wurde in den Fernsehnachrichten erwähnt. Doch die Eskalation ging munter weiter.
Die in Blättchen-Ausgabe 2/2022 bereits zitierte Positionierung von General Harald Kujat, ebenfalls ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, von Ende Dezember 2021 befand sich in inhaltlicher Übereinstimmung mit dieser Erklärung, selbst wenn er sie nicht mitunterzeichnet hat. Auch das änderte nichts an der Fortsetzung der anti-russischen Kampagne in Deutschland.
Die eingangs erwähnte Erklärung vom 14. Januar auf zeit-online wurde zielgerichtet weitaus breiter kommuniziert.
Die Äußerungen des geschassten Chefs der deutschen Marine, Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach, in Indien sind ebenfalls in diesen Kontext zu stellen. Aus Anlass der Ausfahrt der Fregatte „Bayern“ nach Asien hatte er in Mumbai an einer Diskussion des „Manohar Parrikar“-Instituts für Verteidigungsstudien und Analyse teilgenommen Seine Äußerungen gingen in zwei Richtungen.
Die eine zielte nach Deutschland. „Die Halbinsel Krim ist weg, sie wird nicht zurückkommen“, dürfte eine sehr realistische Tatsachenfeststellung sein. Wer sollte eigentlich welchen Krieg führen, um das zu verändern? Dazu bräuchte es die ganze NATO und Atomwaffen. Sollten deutsche und US-Soldaten dafür sterben? Putin, so Schönbach weiter, wolle die Ukraine (in den jetzigen tatsächlichen Grenzen) nicht angreifen, sondern den Respekt des Westens. Das meinte, es gäbe derzeit keine wirkliche Kriegsgefahr, von der alle im Westen derzeit redeten, und nichts, worüber nicht sinnvoll und ergebnisorientiert mit Russland verhandelt werden könnte. In diesem Sinne zeigen Schönbachs Einlassungen einerseits, hohe Militärs verfügen über mehr Sachverstand in den großen Fragen von Krieg und Frieden als die Mehrheit der politischen Klasse und der Medienvertreter in Deutschland. Andererseits hätte es diese Äußerungen gewiss nicht gegeben, wenn letztere den Inhalt der Mahnung vom 5. Dezember und die folgende Erinnerung seitens General Kujat nicht so offensichtlich ignoriert hätten.
Die andere Richtung der Äußerungen Schönbachs war auf indische Befindlichkeiten bezogen. Das Land erlebt einen grandiosen wirtschaftlichen, politischen und auch militärischen Aufstieg und hat, wie China, etwa 1,4 Milliarden Einwohner. Es steht jedoch im Schatten des aufstrebenden Chinas und sieht sich eingeklemmt zwischen China und Pakistan. Im Ost-West-Konflikt war es nichtpaktgebunden, arbeitete aber mit der Sowjetunion eng zusammen, wirtschaftlich und auch militärisch, während Pakistan mit China und den USA verbündet war und blieb. Angesichts des aufstrebenden Chinas ist Indien heute auch zu engerer Zusammenarbeit mit den USA bereit, will sich aber nicht in deren Politik einspannen lassen und misstraut dieser. Zugleich will es auf die fortbestehende Zusammenarbeit mit Russland nicht verzichten. Deshalb wäre Indien globalstrategisch Betroffener eines ernsthaften Konflikts zwischen Russland und dem Westen.
Aus der Sicht des heutigen Westens mit seinen tendenziell schwindenden machtpolitischen Ressourcen ist der Konflikt mit Russland einerseits und der mit China andererseits ein „Zwei-Fronten-Krieg“. Und die Deutschen wissen, solche Kriege gingen stets verloren. In diesem Sinne ist Schönbachs Statement, weil China der eigentliche Gegner sei, dann gehörten der Westen, Indien und Russland zusammen, Wohllaute für die Ohren der indischen Militärs und der dortigen politischen Klasse.
Dass die bessere Variante eine Politik der friedlichen Koexistenz wäre, zwischen Deutschland und der EU, den USA, Russland, Indien, China und allen anderen, geht nun allerdings über den Horizont militärischer Expertise hinaus.
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