Im Forum des Blättchens fand „zwischen den Jahren“ eine Debatte um die zunehmenden Spannungen zwischen den NATO-Staaten und Russland, insbesondere im Zusammenhang mit der Ukraine statt. Erhard Weinholz machte Russland als den eigentlichen Störenfried aus und stellte schließlich die rhetorische Frage: „Wer verteidigt denn […] in Europa sonst noch Putin?“ Und antwortete dann polemisch: „In Frankreich ist es insbesondere die Bewegung Marine Le Pens, in Italien die Lega Nord, aber auch Berlusconi hatte einen guten Draht zu ihm, in Österreich war es längere Zeit die FPÖ.“ Die AfD nannte er hier nicht, aber die meinte er gewiss mit.
Diese Frage aber, wenn es um die Weltfrieden geht, ist falsch gestellt. Gewiss, die Älteren erinnern sich, dass sie gegen den Vietnamkrieg gewirkt hatten, in der DDR wie der BRD mit Demonstrationen und Solidaritätsaktionen. Im Hintergrund stand nicht nur die Ablehnung des als imperialistisch und neokolonialistisch wahrgenommenen Krieges der USA, sondern auch eine Identifikation mit dem heldenhaften vietnamesischen Volk, das all diese Bombardements und Mordaktionen der USA und ihrer Helfershelfer erleiden musste. An der Spitze der bescheidene und kluge Präsident Ho Chi Minh. Auch in Sachen Kuba gab es nicht nur die Ablehnung der aggressiven USA-Politik, sondern eine positive Bezugnahme auf den charismatischen Revolutionär Fidel Castro.
In späteren Lagen wurde jedoch deutlich, dass die solidarische Identifikation und die Ablehnung des Krieges, der Kampf um den Frieden nicht notwendig in eins fallen. Bereits im Protest gegen den Irak-Krieg von 1990 und erst recht 2003 ging es gegen den Krieg der USA und ihrer Föderaten, nicht aber um eine Identifikation etwa mit Saddam Hussein. Analog bei der Ablehnung des libyschen Krieges des Westens 2011: Es ging nicht um eine Parteinahme für Muammar al-Gaddafi, sondern um die Ablehnung des Krieges. In beiden Fällen war Ergebnis der Kriege ein zerfallener Staat, dessen Verschwinden zehntausende Opfer gekostet hatte, Zerstörung der Infrastruktur und Massenarmut, schließlich jahrelange Bürgerkriege und islamistischer Terror. Diese Kriege hatten mehr Opfer zur Folge als sie angeblich verhindern sollten. Schon deshalb war ihre Ablehnung richtig. Auch die schließlich, vor allem durch eine russische Intervention, abgewendete Intervention des Westens in Syrien hätte nur Staatszerfall und noch größere Opfer zur Folge gehabt als der Bürgerkrieg ohnehin bereits gebracht hat.
Die Ablehnung der Kriegspolitik des Westens gegen Russland ist nicht Ausdruck einer positiven Identifikation mit Wladimir Putin, sondern Ausdruck einer realpolitischen Vernunft, dass ein gutes Verhältnis Deutschlands zu Russland nur im beiderseitigen Interesse liegen kann. Das galt bereits zu Zeiten Bismarcks, und es gilt erst recht nach den deutschen Verbrechen an den Völkern Russlands und der Sowjetunion in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Die Frage der inneren Verfasstheit Russlands muss von der russischen Bevölkerung beantwortet werden. Die wird nicht in Berlin oder Washington beantwortet. Und wer zu Julian Assange nichts sagen will, soll zu Alexej Nawalny schweigen.
Um dem moralistischen Fehlschluss zu entkommen, muss über Realpolitik und Interessen geredet werden. Alexander Neu, bis Herbst 2021 für die Linkspartei Mitglied des Deutschen Bundestages, verwies kürzlich im FriedensJournal 1/2022 darauf, dass die Eskalation zwischen dem Westen einerseits und Russland sowie China andererseits immer mehr an Dynamik gewinne. Hintergrund der Verschlechterung der Beziehungen ist der Epochenbruch: „Die unipolare Weltordnung ist passé, die multipolare im Entstehen.“ In der Weltgeschichte sind stets die Übergangsphasen konfliktreich, weil die an Macht verlierenden Akteure ihren Macht- und Gestaltungsverlust nicht hinnehmen wollen und die neuen Kraftzentren immer weniger bereit sind, sich den überkommenen Hegemonialstrukturen weiterhin unterzuordnen.
Im Westen komme es, schreibt Alexander Neu weiter, zu „einer gravierenden Disharmonie von Realitätsperzeption und Realität“. Auf der einen Seite herrschen immer noch die auf Unipolarität ausgerichteten Denkstrukturen der 1990er und Nullerjahre vor, auf der anderen Seite schwächen sich die ökonomischen, militärischen und politischen Machtpotentiale ab, die die materielle Basis westlicher Überheblichkeit bilden. „Der relative Verlust der materiellen Basis wird zu kompensieren versucht mit einer westlichen Hypermoral,“ die „die zivilisatorische Hegemonie absichern“ soll. Sie hat die Funktion, möglichst viele Staaten in das westliche Lager zu ziehen und China und Russland zu isolieren. Derzeit beschuldigen sich beide Seiten der Eskalation durch Truppenverlegung in grenznahe Bereiche und Großmanöver. Beide Seiten argumentieren auf plausible Weise, Truppenverlegungen und Manöver fänden auf eigenem Territorium statt. Das ist zunächst zutreffend. Doch die Ukraine ist nicht Mitglied der NATO; und die hat ihre Zusagen von 1990 gegenüber der damaligen sowjetischen Führung gebrochen. Da Russland „durch die forcierte Osterweiterung bis an die russischen Grenzen, durch die Verlagerung militärischer Infrastruktur und durch Zunahme an Manövern unterschiedlicher Qualität und Quantität sich in die Ecke gedrängt fühlt, fordert die russische Regierung Maßnahmen zur politischen und militärischen Deeskalation, bevor es zu einem tatsächlichen Krieg zwischen der NATO und Russland kommt, dessen Tragweite und Dimension einschließlich nuklearer Einsatzszenarien man sich lieber nicht vorstellen möchte.“
General Harald Kujat, 2000–2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, unterstrich (Deutsche-Wirtschafts-Nachrichten, 24. und 25. Dezember 2021): „Das „gemeinsame Bemühen um einen Interessenausgleich ist der einzige Weg aus einer jahrelangen Sackgasse, an deren Ende ein Konflikt steht, den niemand will. Die NATO, einschließlich der Vereinigten Staaten, sollten mehr Verständnis für die russisch-ukrainische Geschichte aufbringen und Russlands Sicherheitsinteressen respektieren, soweit sie nicht die eigene Sicherheit und die internationale Stabilität gefährden.“ Um die Meinungsverschiedenheiten zu beseitigen, sollten die im NATO-Russland-Grundlagenvertrag vereinbarten Regeln und Verfahren angewendet werden. Dazu gehören nach Kujat: „Die NATO sollte erklären, dass sie für die vorhersehbare Zukunft weder eine Mitgliedschaft der Ukraine noch die Stationierung von NATO-Truppen in der Ukraine beabsichtigt. Die Ukraine sollte sich verpflichten, in Kürze die überfällige Verfassungsreform – wie im Minsk-Abkommen beschlossen – einzuleiten und der russischen Minderheit im Rahmen eines Bundesstaates größere Autonomie einzuräumen.“ Darüber hinaus sollte die Ukraine feststellen, „dass sie weder beabsichtigt, ein Vorposten der NATO noch Russlands zu werden, sondern sich als Brücke zwischen beiden versteht. Sie sollte eine konsolidierte Neutralität, etwa wie Finnland, als ihr Ziel erklären, was übrigens Henry Kissinger schon vor einigen Jahren vorgeschlagen hat.“
Im Gegenzug sollte Russland erklären, „dass es nicht beabsichtigt, die Ukraine anzugreifen oder deren territoriale Integrität auf andere Weise zu verletzen. Russland sollte sich verpflichten, keine regulären Truppen in der Ostukraine einzusetzen und die Unterstützung der Separatisten einzustellen, sobald die ukrainische Verfassungsreform mit den daraus folgenden strukturellen und konstitutionellen Reformen implementiert ist.“ Die NATO und Russland sollten ihre Zusammenarbeit, zu der sie sich im NATO-Russland-Grundlagenvertrag verpflichtet hatten, wieder aufnehmen und ihre Absicht erneuern, „auf der Grundlage gemeinsamen Interesses, der Gegenseitigkeit und der Transparenz eine starke, stabile und dauerhafte Partnerschaft zu entwickeln“. Es geht also nicht darum, Putin zu lieben, sondern den Frieden zu sichern. Aus deutscher Sicht: für Deutschland.
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