24. Jahrgang | Nummer 26 | 20. Dezember 2021

Panta Rhei: Eurasische Konfluenzen

von Peter Linke

Die Botschafter beider Staaten sind sich weitgehend einig: Russland und Indien, so Gleb Iwaschenzow, widersetzten sich Versuchen, eine „unipolare Welt“ zu etablieren, und pflegen zu diesem Zweck eine „privilegierte strategische Partnerschaft“. Sein indischer Kollege Bala Venkatesh Varma spricht sogar von einer „politischen, wirtschaftlichen, hochtechnologischen und zwischenmenschlichem Revolution“ im bilateralen Miteinander. Besonders intensiv seien die Beziehungen auf wehrtechnischem Gebiet. In der Tat: Neben Jagd-, Tank- und Aufklärungsflugzeugen liefert Russland Hubschrauber, Fregatten, U-Boote, Raketenabwehrsysteme und Panzer auf den Subkontinent. Gemeinsam wurde der überschallschnelle Seezielflugkörper BrahMos entwickelt. Schon einige Jahre wird Delhi der Zugang zum russischen Satellitennavigationssystem GLONASS gewährt. Und demnächst wird Indien das Sturmgewehr AK-203 in Lizenz fertigen …

Gleichwohl erfordert laut Botschafter Varma das Streben nach einer „multipolaren Welt“ das Knüpfen neuer partnerschaftlicher Beziehungen. Sein Land versuche dies neben seinem Engagement in der BRICS-Initiative (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) sowie im russisch-indisch-chinesischen Trialogforum (RIC) auch und verstärkt im Rahmen der 2007 initiierten Quadrilateralen Sicherheitsgespräche (QUAD) zwischen den USA, Japan, Australien und Indien. Dies sei selbstverständlich keine neue „Allianz oder Quasiallianz“. Indien habe immer selbstständig gehandelt und werde dies auch in Zukunft tun.

Russische Analysten sehen dies freilich weitaus kritischer. So warnte Viktoria Popowa kurz nach dem QUAD-Gipfel im März dieses Jahres unter der Überschrift „Die ‚asiatische NATO‘ als Gefahr für Eurasien“, QUAD sowie die seit 1992 regelmäßig stattfindenden amerikanisch-indischen Seekriegsmanöver MALABAR bedeuteten eine verhängnisvollen Drift Delhis in Richtung USA und belasteten entsprechend die russisch-indischen Beziehungen. So schwebe über der Beschaffung des russischen S-400-Boden-Luft-Raketen-Systems noch immer das Damoklesschwert Washingtoner Sanktionen. Und bereits 2018 verzichtete die indische Regierung auf die gemeinsame Entwicklung eines modernen Tarnkappen-Mehrzweckkampfflugzeugs und deckte sich dafür lieber mit französischen Rafales ein. Gleichzeitig steigerte Washington sein Waffenexporte nach Indien aus dem Stand auf 17 Milliarden Dollar.

Popowa befürchtet, das Projekt „Asiatische NATO“ unter Beteiligung Indiens (QUAD) könne die weitere Integration Eurasiens und damit die Schaffung einer multipolaren Welt gefährden. Auch bedrohe es Infrastrukturprojekte, an deren Realisierung Indien stark interessiert sei, etwa den Nord-Süd-Transportkorridor unter Beteiligung Russlands, Zentralasiens, des südlichen Kaukasus und Irans, die Gas-Pipeline Iran-Pakistan-Indien, den afghanischen Transportkorridor sowie die gemeinsame Erschließung der Arktis und des Nördlichen Seewegs.

Viktoria Popowa verwies dabei auf die laufende indische Debatte: So warnte der Abgeordnete und ehemalige Minister Subramanian Swamy, sollte es zu einem Konflikt mit China kommen, könne man Russland nicht länger vertrauen; Moskau sei nicht länger ein Freund Indiens im Sinne gemeinsamen Widerstands gegen Peking. Der ehemalige Außenminister Vijay Gokhale bemerkte, Russland laufe reale Gefahr, zu Chinas permanentem „Junior-Partner“ zu werden. Und Außenminister Subrahmanyam Jaishankar forderte in seinem 2020 veröffentlichten Buch „The Indian Way: Strategies for an Uncertain World“, sein Land solle sich aus der Bewegung der Nichtpaktgebundenen verabschieden, da die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Lager Indien in seinen Möglichkeiten beschneide. Schließlich und endlich nannte Premier Narendra Modi im März dieses Jahres QUAD eine „Kraft des globalen Guten“ („a force for global good“).

Für Popowa verfestigt sich danach der Eindruck, der Golem QUAD sei mit dem einzigen Ziel geschaffen worden, Indien gegen seine eurasischen Partner aufzuwiegeln und in einen Krieg mit China hineinzuziehen, da Japan und Australien eh schon treue Verbündete der USA und der NATO seien.

Aber die indische Debatte ist vielschichtiger, als es Popowa scheint. So wendet sich Vijay Gokhale gegen die Meinung des Foreign-Policy-Kolumnisten Sumit Ganguly, der politisch verlässliche Waffenlieferant von einst, der Indiens Bedenken hinsichtlich des chinesischen Drachens teilte, sei durch ein politisch agnostisches und kommerziell motiviertes Russland ersetzt worden, das Delhis Sorge über China nicht länger verstehen könne. Gokhale: Dies träfe zu, wäre China der prinzipielle Faktor in Indiens Beziehungen zu Russland, aber das sei nicht der Fall. Für Indien, so der ehemalige Außenminister, sei eine konfliktfreie Partnerschaft mit Russland und der gemeinsame Glaube an irgendeine Form von Multipolarität besser als jedwede chinesisch-amerikanische Doppelweltherrschaft.

In der Tat: Echter Multilateralismus braucht mehr als gute Beziehungen zu einem Schlüsselpartner. Das gilt für Indien ebenso wie für Russland. Doch während Indien versucht, seine Außenbeziehungen möglichst weit zu streuen, indem es sich in diversen regionalen Strukturen (SOZ, BRICS, RIC) tummelt oder seinen Waffendurst aus diversen Quellen (Russland, US, Frankreich, Israel, Südkorea, Brasilien, Südafrika …) stillt, setzt Russland vor allem auf exklusive Beziehungen zu China.

Jegliche Verbesserung des Verhältnisses zwischen Indien und den USA wird von Russland misstrauisch beäugt. Und der Nachbar Japan sträflich vernachlässigt. Dabei gäbe es nicht zuletzt aufgrund der guten Beziehungen zwischen Japan und Indien exzellente Voraussetzungen für einen innovativen Trialog! Moskau jedoch begreift Tokio unverändert als Satelliten Washingtons. Und hier zeigt sich ein wesentliches Problem gegenwärtiger russischer Geopolitik: ihre fortgesetzte Fixierung auf die Vereinigten Staaten von Amerika.

Fjodor Lukjanow, einflussreicher Kommentator russischer Außen- und Sicherheitspolitik, hat wiederholt vorgeschlagen, in den russisch-amerikanischen Beziehungen eine Pause einzulegen. Natürlich sollte man miteinander im Gespräch bleiben, aber etwas mehr Konzentration auf die eigenen Möglichkeiten und Potenziale könnte durchaus helfen, sich in der Welt von heute neu zu verorten und damit auch das Verhältnis zu den USA nachhaltig zu überdenken.

Vielleicht würde man dann auch Strukturen wie die QUAD weniger eindeutig als „asiatische NATO“ sehen, sondern als verzweifelten Versuch Washingtons, zu retten, was nicht mehr zu retten ist: die eigene weltpolitische Führerschaft. Insbesondere Staaten wie Indien und Japan sind inzwischen viel zu selbstbewusst und potent, um sich dafür herzugeben.

QUAD ist ähnlich wie SOZ, BRICS und RIC eine recht amorphe, widersprüchliche Struktur, nicht zuletzt, weil sie „Partner“ vereinigt, die eigene, ambitionierte Agenden verfolgen.

Für Indien ist QUAD ein weiteres Instrument zur Diversifizierung der eigenen Außenpolitik. Dreh- und Angelpunkt dabei ist die „Indo-Pazifik-Idee“ – formuliert 2007 von Gurpreet S. Khurana, einem indischen Marineoffizier. Der Begriff steht für ein neues geopolitisches Selbstbewusstsein Indiens. Khurana dazu: „Das Konzept des ‚Indo-Pazifiks‘ half den Widerspruch zwischen den Begriffen ‚asiatisch-pazifischer Raum‘, ‚Asien‘ und ‚Region des Indischen Ozeans‘ zu überwinden, indem es Indien in die maritimen Verhältnisse Asiens eingliederte.“

Für Japan, traditionell enger Verbündeter Indiens, war das ein deutliches Signal, selbst in dieser Richtung aktiv zu werden. Mit Shinzo Abe war 2006 ein neue Politikergeneration angetreten, die deutlicher als ihre Vorgänger den schleichenden Machtverlust der USA und die kommende Stärke Chinas registrierte. 2007 sprach Abe im indischen Parlament über die „Konfluenz zweier Meere“, des Indischen und des Pazifischen Ozeans. Eine deutlicher Versuch Tokios, sich aus der „Asia-Pacific“-Ideologie Washingtons freizuschwimmen.

Diese Entwicklung wurde in Moskau komplett verschlafen. Für Moskau war das „Indo-Pazifik“-Konzept von Anfang an nur ein US-amerikanisches Vehikel, um Indien und Japan in eine Allianz gegen China und Russland zu zwingen

Noch im April dieses Jahres räumte der russische Japan-Experte Valeri Kistanow ein, dass sich im bilateralen Dialog Japan stets flexibler als Russland gezeigt habe, allerdings nur, so Kistanow, um dem Eindruck zu starker Abhängigkeit von Washington entgegenzuwirken und Moskau nicht noch stärker in die Arme Pekings zu treiben.

P.S. Raghavan, ehemaliger indischer Diplomat und Nationaler Sicherheitsberater, verweist auf Premier Modis 2019 in Wladiwostok verkündete „Act Far East“-Politik: Die Schaffung eines maritimen Transportkorridors Chennai-Wladiwostok beschränke nicht nur die Dominanz Chinas im Indo-Pazifik, sondern leiste auch einen aktiven Beitrag zu Wladimir Putins „Greater Eurasia“-Idee.

Diese Idee, hinter der letztlich das Bemühen des Kremls steht, Russland als unabhängiges Eurasisches Kraftzentrum zu etablieren, dürfte allein im Bündnis mit China gegen den Rest der Welt kaum zu realisieren sein. Dies umso weniger, als bereits heute erste Gewitter am Himmel der höchsten bilateralen Harmonie aufziehen. So schreitet die Chinaisierung des russischen Wirtschaftsraums zügig voran, findet schleichend die Integration des Nördlichen Seewegs in Chinas Belt and Road Initiative statt, zeigt sich immer deutlicher, dass die eurasischen Transportkorridore durch Kasachstan, Russland und Belarus rein chinesische Projekte sind und Russland nachhaltig aus Zentralasien, vor allem aus Kasachstan und Kirgistan, sowie aus der Mongolei verdrängt wird, während der Drache in Russisch-Transbaikalien zunehmend aggressiv agiert. Ohne enge Kooperation Russland-Indien-Japan bleibt Putins „Greater Eurasia“ ein frommer Traum!

Mit der Delhi-Visite Putins Anfang Dezember demonstrierten beide Seiten ihre feste Absicht, die bilateralen Beziehungen weiter in Richtung einer „privilegierten strategischen Partnerschaft“ zu entwickeln.

Wesentlich schwieriger gestaltet sich das russisch-japanische Verhältnis. Seit Putins Japan-Visite im Dezember 2016 ruht der See. Zentraler Stolperstein ist die „Territorialfrage“ – der Streit um eine Reihe von Inseln, die Russland als „Südliche Kurilen“ und Japan als „Nördliche Territorien“ bezeichnet. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs gehören sie zur Sowjetunion respektive Russland, was Japan nie akzeptiert hat. Während für Moskau eine „Territorialfrage“ als solche nicht existiert, wohl aber die Notwendigkeit eines Friedensvertrages, nach dessen Unterzeichnung über eine Teilrückgabe auf Grundlage einer sowjetisch-japanischen Vereinbarung von 1956 nachgedacht werden könne, möchte Japan zunächst die Inselfrage klären, bevor es einen Friedenvertrag unterzeichnet.

Seit einiger Zeit ventiliert vor allem Russland die Idee einer gemeinsamen wirtschaftlichen Nutzung der Inseln. Solange Moskau jedoch darauf besteht, dass dies auf Grundlage russischen Rechts erfolgt, wird sich wenig bewegen. Innovative rechtliche Formeln tun not – doch ohne entsprechenden politischen Willen wird niemand darüber nachdenken.

Das wiederum wird solange der Fall sein, wie Russland in Japan nicht mehr als einen Vasallen des einstigen Großgegners USA sieht!

Für Alexander Lukin, profilierter russischer China-Beobachter, steht fest, dass Russland ein selbstständiges eurasisches Kraftzentrum nur dann werden kann, wenn seine Führung beginnt, die Region strategisch zu denken. Ebenso dringend brauche das Land eine „Politik beschleunigten wirtschaftlichen Wachstums.“ Dabei sollte Russland insbesondere „gegenüber China eine geschickte, balancierte Politik“ verfolgen, um „einen für das Land wichtigen Partner weder zu verprellen noch abhängig von ihm zu werden“.

Ein erster Schritt in diese Richtung könnte die von Verteidigungsminister Sergej Schoigu seit einiger Zeit propagierte Idee einer infrastrukturellen Entwicklung des russischen Fernen Ostens sein, die Errichtung fünf neuer Städte in Sibirien mit einer Bevölkerung von jeweils einer Million Menschen sowie die Verlegung der russischen Hauptstadt hinter den Ural.

Das wäre ein echtes Jahrhundertprojekt, das mehrere Generationen in Atem halten und neue Kader mit alternativer Weltsicht jenseits der klassischen Europa-Asien-Dichotomie erfordern würde.

Schade nur, dass die neue Bundesregierung so gar kein Interesse an derartigen Projekten hat: Ihr Koalitionsvertrag setzt weiterhin unverdrossen auf Transatlantismus als Grundlage eigener geopolitischer Aktivitäten. Anstatt wirklich Neues zu wagen, hilft sie lieber einer schwindsüchtigen ehemaligen Supermacht bei der Suche nach einem neuen Superfeind.