24. Jahrgang | Nummer 25 | 6. Dezember 2021

Kultureller Rassismus?

von Bruni Butzke

Jubiläen haben Folgen. Im Jahre 2020 wurden nicht nur salbungsvolle Reden auf den Jahrestag der deutschen Einheit von 1990 gehalten, sondern es wurde auch gemeint, es sei nötig, genauer auf die Unterschiede der Lebenserfahrungen und Sichtweisen in Ostdeutschland im Vergleich zum Westen zu schauen. In der Sache passierte nichts. 2021, angesichts unterschiedlichen Wahlverhaltens, verstärkte sich dieses Meinen nochmals. Es blieb jedoch weiter folgenlos. Auch deshalb, weil kaum jemand sich getraute, auf den Punkt zu kommen.

Eine bemerkenswerte Ausnahme ist die Kulturwissenschaftlerin und Soziologin Yana Milev. Sie wurde 1969 in Leipzig geboren als Kind einer deutschen Mutter und eines bulgarischen Vaters, studierte in Dresden, promovierte in Wien und habilitierte sich an der schweizerischen Universität St. Gallen. Sie war Dozentin an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, lehrte in Zürich und St. Gallen. Sie erkannte zunächst auf „Verordnetes Vergessen“ (Berliner Debatte Initial, 2/2021): „Der Umbau erinnerungspolitischer Paradigmen in Ostdeutschland seit 1989/90 war für viele DDR-Sozialisierte mit einer wissenssoziologischen Schocktherapie verbunden, da bisher gültige Geschichtsbilder und Geschichtsdeutungen sowie damit im Zusammenhang stehende Erinnerungsgemeinschaften und kollektive Identitäten systematisch aufgelöst wurden.“

Medien und Zeitungsverlage der alten BRD übernahmen die Erklärungshoheit und implementierten auch im Osten die Sichtweisen des Kalten Krieges. Die DDR galt fortan als „totalitäres Regime“, das mit dem NS-Regime zu vergleichen war und ihm schließlich gleichgesetzt wurde, als „Unrechtsstaat“ – ein Begriff, den die Juristen Gustav Radbruch und Fritz Bauer ausdrücklich auf das NS-Regime hin entwickelt hatten. Daraus wurde dann auch eine analoge Einteilung in „Täter“ (hier: SED, MfS), „Opfer“ und „Mitläufer“ auf die DDR übertragen. Der „Radikalumbau“ der Erinnerungs- und Wissenskultur zielte vor allem darauf, die acht oder zehn Millionen „Mitläufer“ ihrer Geschichtsbilder und Erfahrungen zu berauben. Das „Terror-Regime“ der DDR galt nun als Produkt von Stalinismus und sowjetischem Expansionismus, nicht mehr als Folge des deutsch-faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion, seiner Verbrechen und seiner Niederlage. Die Existenz der DDR wurde als Angriff des Ostens auf den Westen umgedeutet, während in der Tat alle vier Besatzungsmächte ihre Legitimität aus dem Sieg über den Faschismus und den Beschlüssen von Jalta und Potsdam bezogen.

In einem weiteren, kürzlich erschienenen Text mit dem schönen Titel: „Der Ossi hat nix zu lachen“ (Neues Deutschland, 20./21. November 2021) spitzt Milev die Folgerungen nochmals zu. Die „Löschung der gesellschaftlichen und kulturellen Identität“ hinterlässt „in der Mehrheit der DDR-sozialisierten Bevölkerung ein sozialpsychologisches und erinnerungskulturelles Vakuum“. Es ging nicht nur um die Löschung „von Rechtsbeständen und Rechtssubjekten, von Erinnerungskultur und kulturellem Erbe, von sozialem und kulturellem Kapital“, sondern um die Aufhebung der „Identifikation“ der Post-DDR-Bevölkerung „mit ihrer Herkunft aus dem 1990 verschwundenen Staat“.

„Verordnetes Vergessen und Geschichtsrevisionismus“ wurden seit Helmut Kohl als Regierungsauftrag realisiert, der durch Bundesbehörden, zeithistorische Institute und „Gedenkstättenarbeit im Beitrittsgebiet ab 1990 durchgesetzt wurde“. Die Folge: „Millionen Menschen wurden von Meinungsbildung und gesellschaftlicher Partizipation ferngehalten. Durch Elitentransfer, Institutionentransfer, Behördentransfer, Wissenstransfer, Bevölkerungsaustausch, Gentrifizierung, Segregation und vieles andere mehr wurde eine ganze Bevölkerung überflüssig gemacht“. Viele DDR-Bürger waren nach 1990 gern bereit, neue Erfahrungen zu machen – es hatten ja auch viele eine deutsche Einheit gewollt. Was sie jedoch nicht wussten war, „dass sich ihre Herkunft mit jedem weiteren Schritt in den Westen hinein zu einem No-Go der gesellschaftlichen Integration herauskristallisieren würde“.

Nach über dreißig Jahren, so Milev weiter, seien „die Folgen eines verfestigten Ost-West-Konflikts in der deutschen Gesellschaft nicht mehr zu übersehen“. Das zeige sich nicht zuletzt in Wahlergebnissen. Milev bezieht sich zugleich auf Befunde der Kolonialismusforschung: „Infolge des bundesdeutschen Kulturimperialismus (Frantz Fanon, Johan Galtung), der östlich der Elbe Einzug gehalten hat, ist nicht nur der dauerhafte Ausschluss von DDR-sozialisierten Akademiker*innen zu nennen, sondern generell eine Vertreibung und Exilierung eines ‚Volkes‘ im eigenen Land“. Die bezeichnet die Autorin als „Exil-Ostdeutsche“, bei denen es sich um die, soziologisch betrachtet, „Jahrgangskohorten“ der zwischen 1945 und 1975 Geborenen handelt. Allerdings werden solche historischen Hypotheken jedoch intergenerational übertragen. Anders gesagt: Sie verschwinden nicht mit der Zeit von selbst.

Die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung, die gesellschaftliche Gleichstellung und Sozialstaatlichkeit erfahren hatte, erlebte nach 1990 – weiter im Sinne der kolonialen Argumentationsraster gesprochen – einen „Absturz“, der mit ihrer „Inferiorisierung […] zu einer quasi indigenen-tribalen Minderheitsbevölkerung einherging“. Die gesellschaftliche Ungleichheit – Löhne, Renten, geringere Lebenserwartung im Osten, vor allem bei Männern, Geburteneinbruch nach 1990 – ist nicht mit den „blühenden Landschaften“ im Osten verschwunden, „Entwertung und Ungleichbehandlung“ wirken fort und können nur als „kultureller Rassismus“ bezeichnet werden.

Am Ende ihres Initial-Textes betont Milev, hier den Zusammenhang von innenpolitischer und internationaler Dimension betonend, dass das Opfergedenken gegenüber den Völkern der Sowjetunion „nicht dauerhaft in die memoriale Gesinnung der deutschen Demokratie nach 1990 eingebettet“ wurde – im Unterschied zum Holocaust und zu der Darstellung, vor allem die USA hätten 1945 Deutschland befreit. Ein solch ungleiches Vorgehen kränkt „ein memoriales Grundbedürfnis vieler DDR-Sozialisierter“, hat jedoch weitreichende politische Folgen. „Diese Strategie westdeutscher Assimiliations- und Exklusionspolitik ist zutiefst von einer antikommunistischen und russophoben Gesinnung geprägt […] und trägt nachhaltig zur Verfestigung von Gesellschaftsspaltung und Gesellschaftsentkopplung in Ostdeutschland nach der ‚Wiedervereinigung‘ bei“. Sie ist zugleich Teil der Verfeindungspolitik gegenüber Russland. Es geht nicht nur um die Inferiorität, die dauerhafte Unterordnung unter die westdeutsche Dominanz der Bevölkerung im Beitrittsgebiet, sie soll auch den Mund halten. Vor allem, wenn es um die Horrorszenarien geht, „Putins langer Arm“ greife nach Europa, wie einst der Stalins.