24. Jahrgang | Nummer 25 | 6. Dezember 2021

Die NATO und der Geist der Konfrontation

von Wilfried Schreiber

Wer die jährlichen „NATO-Talk“-Veranstaltungen der Deutschen Atlantischen Gesellschaft (DAG) mit der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) kennt, weiß, dass die dort proklamierten Aussagen ziemlich exakt den Grundpositionen der NATO entsprechen. „NATO-Talk 2021“ fand am 19. November als hybride Konferenz auf einem speziell für Medien-Events gebauten Schiff statt, das den symbolhaften Namen „ThePioneer One“ trägt. Das Schiff versteht sich als ein neues Instrument der deutschen Medienbranche, das in sich die Einheit von Redaktion, Verlag, Showbühne, Club, Verkaufsraum und Markt für aktuelle Nachrichten vereint.

Der Dampfer war zu dieser Fahrt prominent besetzt und hatte als Zugpferd der NATO ihren eigenen Generalsekretär Jens Stoltenberg an Bord, der auch als Hauptredner die Werbetrommel rührte. Ihm stand namhaftes Personal aus Politik, Diplomatie, Wissenschaft Militärbereich und Medienbranche zur Seite. Hier soll nicht auf einzelne Reden, sondern auf Tendenzen der Aussagen eingegangen werden – gewissermaßen auf den Geist, der bei dieser Tour über dem Wasser schwebte und die Teilnehmer der Veranstaltung einte.

Um es auf den Punkt zu bringen: Es war der Geist der geostrategischen Konfrontation, der die Fahrt begleitete und zweifellos auch den Kurs der NATO für die nächsten Jahre bestimmen wird. Darüber darf man sich keine Illusionen machen. Dabei geht es nicht um den Vorwurf von blinder Kriegstreiberei, sondern eher um die Frage nach der Verantwortung für eine komplexe Konfliktlage und deren Auflösungsoptionen. Das offizielle Thema der Konferenz lautete „NATO 2030 – eine transnationale Agenda für die Zukunft“. Ziel war die Einstimmung auf eine neue NATO-Strategie, die auf dem nächsten NATO-Gipfel Ende Juni 2022 in Madrid beschlossen werden soll.

Bei diesem „Talk“ wurden schon mal einige Eckpunkte formuliert, die das neue Sicherheitsumfeld und die Anforderungen an die NATO charakterisieren sollten. Beginnend beim Generalsekretär war man sich darüber einig, dass vor allem Russland und China die Bösewichter sind, die neue Waffen entwickeln und die NATO mit aggressiven Aktivitäten bedrohen. Das war auch etwa die Ausgangsprämisse, die alle anderen Redner gebetsmühlenartig wiederholten – ohne sich der Mühe zu unterziehen, diese Unterstellung analytisch zu belegen. So etwas weiß man eben. Russland gilt als prinzipiell gefährlich, weil es unmittelbarer Nachbar der NATO ist. Exakter formuliert, weil es sich gegen eine NATO schützen will, die unmittelbar bis an die russische Landesgrenze vorgerückt ist. Und China ist gefährlich, weil es wirtschaftlich erfolgreich ist und gerade dabei ist, die USA ökonomisch quantitativ zu überholen. Nun gut, so direkt hat man es nicht gesagt. Es wurde aber auch nicht über Provokationen der NATO oder einiger ihrer Mitgliedsländer gegen Russland und China gesprochen. Auch reale geostrategische Interessen und neue globale Probleme, die nur gemeinsam gelöst werden können, spielten faktisch keine Rolle. Im Kern ging es um das militärische Fähigkeitsprofil, das nötig ist, um die „bösen Rivalen“ durch Einschüchterung und übermäßige Rüstungskosten niederzuringen. Im NATO-Deutsch wird das „glaubwürdige Abschreckung“ genannt.

Und „glaubwürdige Abschreckung“ verlangt natürlich reale militärische Fähigkeiten der Streitkräfte. Man war sich darüber einig, dass diese Fähigkeiten noch genauer definiert und vor allem mit entsprechender Technik und entsprechendem Personal aufgebaut werden müssen. Die Zauberformel hierfür heißt „Verbesserung der Zusammenarbeit bei einem höheren Leistungsanteil der Europäer“. Insofern wurde quasi von allen Rednern auch eine höhere Qualität der transatlantischen Kooperation und Solidarität beschworen. Und man war sich auch darüber klar, dass Kernwaffen dabei eine besondere Rolle spielen müssen.

Auch hier wurde vom Generalsekretär die Argumentationslinie in schlichter Logik vorgegeben. Erstens: Wir brauchen Kernwaffen, solange die Russen und Chinesen welche haben. Und zweitens: Da Gemeinsamkeit die Grundlage der Glaubwürdigkeit ist, bedarf es weiterhin der „nuklearen Teilhabe“. Jens Stoltenberg braucht sich da über die Haltung der neuen Bunderegierung keine Sorgen zu machen. Die rot-gelb-grüne „Ampelkoalition der Mitte“ hat sich in ihrem Koalitionsvertrag ausdrücklich dazu bekannt – wahrscheinlich ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass Deutschland für den Fall einer nuklearen Auseinandersetzung nur die Opferrolle zugedacht ist – ohne reales Mitspracherecht.

Den Beweis für diese Einschätzung lieferten die USA während Deutschland blind und taub durch die Pandemie stolperte, ohne dass es von der Öffentlichkeit besonders wahrgenommen wurde. Anfang November dieses Jahres reaktivierten die Amerikaner ihr 56. Artillerie-Kommando im Wiesbadener Stadtteil Mainz-Kastel. Nach Informationen der Deutschen Wirtschafts-Nachrichten (DWN) vom 16. November wurde das 1991 aufgelöste Führungsorgan der US-Armee für Raketen- und Artillerietruppen neu aufgestellt. Dieses Kommando soll die Mittelstreckensysteme einer neuen Generation führen, die ab 2023 im europäischen und afrikanischen Raum einsatzfähig sein sollen – darunter Hyperschallraketen vom Typ „Dark Eagle“ mit einer Reichweite von 2775 km und einer Geschwindigkeit von fünf Mach. Moskau wäre für diese Systeme innerhalb von 21 Minuten ohne Abwehrchance erreichbar.

Man muss kein Militärspezialist sein, um zu wissen, dass Kernwaffenstandorte auch selbst Ziele für Kernwaffen sind. Das war übrigens der Grund für die Implementierung des INF-Vertrags von 1988. Russland verstand die Neuaufstellung dieses Kommandos als Provokation und demonstrierte mit dem Abschuss eines ausgedienten Satelliten militärische Reaktionsmöglichkeiten. Dafür gab es unverzüglich harsche Kritik aus dem Westen. Der monierte, dass durch den Abschuss die – von Russland selbst mit installierte und genutzte – Internationale Raumstation (ISS) gefährdet worden sei. Das Beispiel zeigt, wie schnell die Eskalation einer konfrontativen Situation zur Katastrophe führen kann und wie fragil das bestehende System der wechselseitigen Abschreckung tatsächlich ist.

Die strategische Ausrichtung der NATO auf eine Politik der Stärke und der Konfrontation ist ein Spiel mit dem Feuer. Diese Politik ist vor allem für Deutschland selbstmörderisch. Insofern sollte es für die NATO mit ihrem neuen strategischen Konzept eigentlich vorrangig darum gehen, alle politischen Instrumente und Kanäle zu nutzen, um die Beziehungen mit Russland und China zu entspannen. Dafür gibt es durchaus noch Ansätze, die mit verbalen Bekundungen zum Dialog auch beim NATO-Talk erkennbar waren. Die Doppelstrategie von „Dialog und Abschreckung“ hat in der NATO seit dem Harmel-Bericht von 1967 Tradition und auch Erfolg – wobei sich die Dialogbereitschaft des Westens inzwischen merklich abgekühlt hat. Eine Rückbesinnung oder – besser gesagt – eine Neuausrichtung der strategischen Orientierung von der Konfrontation auf die Kooperation scheint unerlässlich. Das aber würde den realen politischen Willen für eine aktive Politik der Entspannung voraussetzen. Guter Wille wäre vor allem nötig, um den universalistischen Anspruch des Westens abzubauen. Das wäre geradezu ein Paradigmenwechsel. Und vor allem ein Beitrag zur globalen Sicherheit.