24. Jahrgang | Nummer 23 | 8. November 2021

Herbstzeit in Warschau

von Jan Opal, Gniezno

Mit dem dunkler werdenden Herbst ist es im politischen Warschau wieder unruhiger geworden. Auch wenn die Regierenden hoffen dürfen, von einem heftigen Herbststurm wie im letzten Jahr verschont zu bleiben, ist die Lage aus ihrer Sicht ungemütlich. Allerdings können sie nun wieder auf eine verlässliche Mehrheit an Abgeordnetensitzen im Sejm verweisen, weil abtrünnige Parlamentarier zurück an die Leine gebracht werden konnten. Außerdem hat Jarosław Kaczyński jetzt angekündigt, ab neuem Jahr aus der Regierung ausscheiden und sich ausschließlich um die Parteiarbeit kümmern zu wollen. Der Laden muss mit straffer Hand zusammengehalten werden, um auf dem Regierungsschiff den gewollten Kurs zu halten.

Anfang Oktober hatte der von den Kaczyński-Leuten kontrollierte Verfassungsgerichtshof der staunenden Öffentlichkeit in einem Urteil mitgeteilt, dass einige in der Europäischen Union geltenden Rechtsvorschriften der polnischen Verfassung widersprächen, weswegen sie in Polen gar nicht angewendet werden dürften. Und fast im Gegenzug verhängte jetzt der Gerichtshof der EU ein Strafgeld gegen Polen in Höhe von täglich einer Million Euro, so lange nämlich, wie Teile der umstrittenen Justizreform nicht zurückgenommen werden.

Justizminister Zbigniew Ziobro erklärte sofort, dass so etwas gar nicht in die Tüte komme, also nicht gezahlt werden dürfe, wohingegen Ministerpräsident Mateusz Morawiecki nach Brüssel eilte, um dort wiederum zu erklären, dass nur Weniges an der Reform gegen EU-Recht verstoßen könne und dass es im Kern darum gehe, in der polnischen Richterschaft Korruption nachhaltiger zu verhindern. Mehr Konfrontation gegen Brüssel geht nicht, entsprechend reagierte die Gegenseite und nutzte die nahezu durchgängig positive Einstellung der polnischen Bevölkerung zur EU-Mitgliedschaft, denn nur der ganz rechte Rand verunglimpft sie offen als nationalen Verrat. Landauf, landab kamen auf Straßen und Plätzen wieder Hunderttausende Menschen zusammen, um den Regierenden auf kurzem Wege mitzuteilen, dass sie in der EU bleiben würden, wenn das nationalkonservative Regierungslager austreten sollte. Dieser Massenprotest trug in Umfang wie Intensität bereits Züge vom letzten Herbst, zeigte den Ernst der Lage.

Mit einer anderen Geschichte versuchen nun die Nationalkonservativen die Wogen zu glätten. Seit dem Spätsommer kommt die Situation an der Grenze zu Belarus nicht aus den Schlagzeilen, weil dort geflüchtete Menschen – vor allem aus Afghanistan und Irak – gestandet sind, die in die EU hineinwollen. Polnischer Grenzschutz lässt sie nicht hinein, die Sicherheitskräfte auf der belorussischen Seite versperren den Rückweg mit dem Argument, dass die Menschen eine klare Zielrichtung hätten – die EU. Dass die gegen Minsk vorgebrachten Vorwürfe wegen organisierter Menschenschleusung stichhaltig sind, steht für die meisten in Polen außer Frage, doch gilt das Vorgehen der eigenen Regierung in weiten Kreisen als höchst umstritten.

Im Herbst 2015 war es Kaczyński noch gelungen, mit wenigen, aber unmissverständlichen Aussagen darüber, welche Gefahren die in Massen flüchtenden Menschen für Land und Bevölkerung bedeuteten, genügend Stimmung auf die eigenen politischen Mühlen zu lenken. Insbesondere bei der verunsicherten Landbevölkerung war er auf offene Ohren gestoßen, wenn er ungeniert von gefährlichen Krankheitserregern und Seuchengefahr schwadronierte. Damals klopfte indes kaum einer der in die EU ziehenden Menschen an die Grenzen Polens, jetzt war es anders. Große Teile der über 400 Kilometer langen Grenze zu Belarus wurden schnell befestigt, einstweilen mit einem provisorischen Stacheldrahtverhau, aber die Zielrichtung war klar: Der eigenen Bevölkerung sollten Entschlossenheit und höchste Sorge um nationale Souveränität wie Identität demonstriert werden. Um weiter vorzubauen wurde nach Mehrheitsbeschlüssen im Parlament ein Ausnahmezustand an der Grenzlinie verhängt, der in erster Linie gegen unliebsame Berichterstattung und Protestaktion gerichtet ist. Dabei gelang es dem Kaczyński-Lager, auch den agrarisch-konservativen Teil im demokratischen Oppositionsbogen bei den Abstimmungen auf die eigene Seite zu ziehen. Dieses Abstimmungsverhalten setzte sich fort bei der Entscheidung über die geplante Grenzbefestigung im Osten, denn künftig soll ein festes und in seiner Höhe abschreckendes Mauerwerk auf 140 Kilometern Länge die Grenze markieren.

Die Agrarier ihrerseits versuchen nun, den Spieß im politischen Spiel gekonnt umzudrehen. Jetzt gibt es verlockende Angebote an die Nationalkonservativen, Verhandlungen über eine mögliche Regierungskoalition aufzunehmen, unter der Bedingung allerdings, dass Justizminister Ziobro und seinen Leuten der Laufpass gegeben wird. Ein vergifteter Köder gewissermaßen, denn gefordert wird als Gegenleistung die Zurücknahme der umstrittenen Justizreform. Und wieder ist das Kaczyński-Lager unter Zugzwang, denn die beabsichtigte Befestigung an der Grenze stößt auf weniger Gegenliebe im Land als erhofft oder sogar erwartet. Wie lange Kaczyński seine Trotzhaltung gegen die EU fortsetzen kann, wird sich in den dunklen Winterwochen zeigen. Die Stimmung im Land ist jedenfalls meilenweit entfernt von jenen Zeiten, in denen Polens starker Mann noch von einer Verfassungsmehrheit – zwei Drittel der Abgeordnetenstimmen – träumen durfte.