24. Jahrgang | Nummer 10 | 10. Mai 2021

Erzwungene Schizophrenie

von Bernhard Romeike

Schizophrenie wird übersetzt als „Spaltungsirresein, das zum Zerfall der psychischen Persönlichkeit führt“. Der Wähler des Jahres 2021 kann nur hoffen, am eigenen Wählen nicht irre zu werden. Die innenpolitischen und die außenpolitischen Anmutungen klaffen weit auseinander. Am Ende wird er sich gewiss pragmatisch zusammenhalten und der Hoffnung hingeben, alles wird gut.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. April 2021 gegen den Berliner Mietendeckel besagt nicht, dass ein Deckel nicht geht, sondern er muss Bundesgesetz sein. Nach dem Affentheater um die Nominierung des Karnevalsprinzen Laschet zum CDU-Kanzlerkandidaten (Originalton Peter-Michael Diestel) sackten angesichts dieser Personalie die Umfragedaten der CDU/CSU noch am 20. April auf 21 Prozent ab, während die Grünen erstmals auf 28 Prozent aufrückten. Bei anderen Instituten pegelte sich das einige Tage später bei 28 zu 27 oder 23 zu 23 Prozent ein. Die Tendenz aber ist eindeutig. Sie besagt: eine Bundesregierung nach dem September 2021 ohne Christdemokraten wird möglich. Mit ihr könnte ein bundesweiter Mietendeckel – um das derzeit drängendste soziale Problem des Landes anzugehen – durchgesetzt werden. Das ginge aber nur mit einer grün-rot-roten Bundesregierung. Bei Schwarz-Grün würde dies die CDU nicht zulassen, in einer Ampelkoalition (Grüne mit SPD und FDP) letztere. In diesem Sinne titelte die „sozialistische Tageszeitung“ ND nach den Berliner Landesparteitagen Ende April, auf denen die Kandidatenlisten beschlossen wurden: „Die Mieter haben die Wahl“. So ist es. Seit langem wird es wieder eine Richtungswahl: Wenn die vielen Mieter in diesem Lande in ihrem ureigenen Lebens- und Wohninteresse wählen, wählen sie eine dieser drei Parteien. Das gilt für das Land Berlin und erst recht für den Bund.

Und wenn die Grünen es schaffen, eine Sogwirkung zu erzeugen, wie Gerhard Schröder und sein treuer Parteiknappe Franz Müntefering zu den Bundestagswahlen 1998, als sie dem ganzen Land suggerierten, das Abtreten von Helmut Kohl sei so sicher, wie das Amen in der Kirche, dann kommt das auch so. In der derzeitigen Konstellation würde eine solche Bundesregierung aller Voraussicht nach unter einer grünen Kanzlerin stehen, die dann die Richtlinienkompetenz hätte. So gewinnen die Ansichten von Annalena Baerbock und ihrer Partei zur Außenpolitik plötzlich staatspolitische Bedeutung.

Am 25. April wurde in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ein Interview mit Baerbock publiziert, in dem es vor allem um Außenpolitik ging. Eine Kernaussage lautete: „Das Wichtigste ist derzeit, den Druck auf Russland zu erhöhen.“ Es erhebt sich die Frage, was die präsumptive Kanzlerin Baerbock damit für die deutsch-russischen Beziehungen bezwecken möchte. Den Satz setzte sie fort mit: „damit das Minsker Abkommen eingehalten wird.“ Die Einhaltung des Minsker Abkommens krankt aber bereits seit Jahren daran, dass die Kiewer Regierung sich notorisch weigert, ihren Teil des Vertrages zu erfüllen, der etwas mit den Autonomierechten der Bewohner der Ost-Ukraine zu tun hat. Was der Westen seit Jahren mit freundlichem Stillschweigen übergeht.

Eine Kernaussage in dem Interview war: „Wir sind gerade in einem Wettstreit der Systeme: autoritäre Kräfte versus liberale Demokratien. Hier geht es auch um China.“ Dies ist weder in dem Interview noch in den einschlägigen Dokumenten der Grünen in einem einzigen Satz inhaltlich begründet. Immer nur apodiktisch behauptet. So heißt es im Wahlprogramm der Grünen für die Bundestagswahl 2021: „China ist Europas Wettbewerber, Partner, systemischer Rivale.“ Hier wird jedoch auch das Dilemma deutlich: „Das autoritäre Hegemonialstreben einer chinesischen Regierung, das Menschen- und Bürger*innenrechte systematisch aushebelt, zwingt Staaten nicht nur in wirtschaftliche und politische Abhängigkeit, sondern spaltet auch Europa. Zugleich wird eine globale sozial-ökologische Transformation ohne China, auch ohne Russland oder Brasilien, nicht möglich sein. Das allein zeigt: Der Systemwettbewerb mit autoritären Staaten und Diktaturen ist real […] und stellt uns vor derart beachtliche Aufgaben, dass jede Form des Alleingangs zum Scheitern verurteilt wäre.“ Eigentlich müsste Kooperation das übergeordnete Prinzip sein. Die Grünen aber entscheiden sich für die Konfrontation als übergeordnete Ebene.

So wird in Bezug auf die europäische Sicherheit zwar zutreffend erklärt: „Frieden in Europa bedeutet mehr als Frieden, Sicherheit und Stabilität in der EU.“ Damit die Vision einer friedlichen Zukunft für alle Europäer Wirklichkeit werden kann, sollen die gemeinsamen, über die EU hinausreichenden europäischen Institutionen wie der Europarat und die OSZE gestärkt werden, um ein „System kollektiver Sicherheit in ganz Europa“ zu schaffen. Die östlichen Nachbarn der EU sollen „auf der Basis gemeinsamer Werte“ für eine solche Perspektive gewonnen werden, „was gerade angesichts der nationalistischen und rückwärtsgewandten Politik Russlands, die Europas Sicherheit und die Selbstbestimmung der Nachbarn Russlands untergräbt, nötig ist“. Das heißt, das sogenannte System kollektiver Sicherheit der Grünen soll die andere Seite, nämlich Russland, gerade nicht ein-, sondern ausschließen. Ein tatsächliches System kollektiver Sicherheit ist aber gerade darauf angelegt, die Gegenseite in sich einzuschließen. Das heißt, die Grünen haben weder intellektuell noch politisch verstanden, worum es hier eigentlich geht.

Einige positive Bekundungen gibt es im Bereich Abrüstung und Rüstungskontrolle. So heißt es, die Grünen wollten „nichts Geringeres als eine atomwaffenfreie Welt“. Sie sprechen sich aus für einen neuen Vertrag „über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) zwischen den USA und Russland“, einen Verzicht der NATO auf einen atomaren Erstschlag und ein Deutschland „frei von Atomwaffen“ sowie einen „Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag der UNO“. Wie das verwirklicht werden soll unter der Voraussetzung, dass die Beziehungen insbesondere zu Russland und China absichtsvoll verschlechtert werden sollen, bleibt jedoch unklar. Die NATO halten sie für unverzichtbar und wollen sie neu ausrichten, die Bundeswehr wollen sie besser ausstatten und eine „EU-Sicherheitsunion etablieren“, die auf einer gemeinsamen EU-Außenpolitik beruhen soll.

Am Ende werden nochmals die Wähler angesprochen: „Das wollen wir nach der Wahl anpacken, gemeinsam mit Ihnen und den anderen demokratischen Parteien, ohne Scheuklappen und Dogmatismus.[…] Für die großen Aufgaben des kommenden Jahrzehnts gilt es mehr zu wagen. Und zu machen. Jetzt liegt es bei Ihnen. In Wahlen entscheidet eine Gesellschaft darüber, wer sie sein will. Wahlen sind ein Moment der Freiheit. Nutzen Sie ihn – für die Freiheit.“ Jetzt haben sie auch noch der FDP ihren Slogan geklaut!

Am Ende lautet die schlimme Wahrheit: Wer den Mietendeckel wählt, wählt die Konfrontationspolitik gegen Russland und China.