Der russische Mai kam traditionell einher mit patriotischen Georgsbändchen. Denn „Russland ist anders“, wie ein vielleicht gar nicht so plattes Schlagwort seit langer Zeit kündet. Freiwillige verteilten die orange-schwarz gestreifte symbolische Erinnerung an den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Bis zu dessen Feiertag am 9. Mai waren Millionen davon in allen Landesteilen und auch im „nahen und fernen Ausland“ auszugeben. Das meint mit den Nachfolgern der Sowjetunion insgesamt rund 80 Staaten. Wo die Aktion nicht eben allgemein willkommen ist – wie zum Beispiel im baltischen Lettland –, empfahlen die Organisatoren eine Platzierung der Stoffschleife in sozialen Medien wie Facebook.
Für den 1. Mai als „Tag des Frühlings und der Arbeit“ waren der Familienkreis und Online-Formate empfohlen. Auf dem Puschkinplatz an der Twerskaja Uliza wehten immerhin Dutzende rote Fahnen. Hier trafen sich vorgeblich Wähler mit ihrem Abgeordneten. Eine gemeinhin sogar per Gesetz empfohlene Maßnahme. Die von den Kommunisten bevorzugten Kundgebungen wurden zumeist durch Einzel-Mahnwachen ersetzt.
Eine ärgerliche Zurückhaltung für den Ersten Sekretär des Moskauer Parteikomitees. Waleri Raschkin klagte im Radiosender Echo Moskwy über zwei Millionen Arbeitslose in der Stadt, Menschen „im Gefängnis der Selbstisolation ohne Geld, ohne Arbeit und Hilfe“. Einige Aktivisten der Linken Front wurden im Zentrum festgesetzt. Sie hatten Hilfe für die Menschen in schwerer Zeit und gleich noch den Rücktritt des Präsidenten Wladimir Putin gefordert. Gewerkschaften gingen mit der Losung „Solidarität ist stärker als Ansteckung“ lieber nur online.
Eine Reihe von freien Tagen waren laut dem Kreml nicht zuerst dem Coronavirus und einer Art heimlichen Lockdowns, wie solcher Stillstand jetzt auch auf Russisch heißt, zu danken. Dass es erst am 11. Mai wieder losgehen sollte, ging auf ein gutes Wort von Präsident Putin zurück. Das legte er auf Anregung der obersten Verbraucherschützerin, Anna Popowa, ein. Die Chefin der Aufsichtsbehörde Rospotrebnadsor hatte mit dem Vorstoß, die Tage zwischen dem 1. und 9. Mai für arbeitsfrei zu erklären, in der Gewerkschaftsföderation einen etwas halbherzigen Fürsprecher. So versicherte der Vorsitzende der Rechtsabteilung, Oleg Babitsch: Berücksichtige man alle Umstände und – dann eben doch – „vor allem das Problem mit dem Coronavirus“ sei es „wahrscheinlich richtig“, eher auf die Datscha als zum Arbeitsplatz zu fahren.
Unerwähnt blieben bei „allen Umständen“ die Osterfeierlichkeiten. Die russische Auferstehung Christi fiel in diesem Jahr nach orthodoxem Brauch ein paar Wochen nach der deutschen in die Nacht zum 2. Mai. Da gilt allgemein der Gruß „Christos woskress!“, Christus ist auferstanden, und die Erwiderung „Wo istinu, woskress!“, Wahrhaftig auferstanden. Es herrscht in dieser Nacht in und um Kirchen Russlands herum Andrang – mit und ohne Maske, mit und ohne Abstand, allemal mit Ikonen und Kerzen. Das Große Fasten, das 48 Tage dauerte, ist vorbei. Zeit für den Oster(hefe)kuchen und auch wieder den Grill.
Sind beim Brutzeln von Steaks und dem Nachspülen mit Piwo oder Bier Datschennutzer und Laubenpiper nun wieder gleichauf? Zeitlich mag das zutreffen, doch die Entfernung ist deutlich größer geworden. Für eine Mehrheit von 64 Prozent seiner Einwohner gehört Russland nicht mehr zu Europa, nur noch 29 Prozent sehen es dort. „Russland enteuropäisiert sich“, mit do Swidanija, also mit Auf Wiedersehen oder Adieu verabschiede es sich, analysierte das Lewada-Zentrum nach seiner jüngsten Umfrage Mitte April. Nach Erkenntnissen der unabhängigen Meinungsforscher votieren vorwiegend Menschen über 55 Jahren für Europa, jedoch sehen 70 Prozent der 18–39-Jährigen Russland nicht als ein europäisches Land.
Direktor Lew Gudkow erinnerte in Radio Swoboda daran, dass es „im Moment des Zusammenbruchs der UdSSR die stärkste Orientierung auf die Integration mit Europa gab. Damals hofften 60 Prozent, dass wir eines Tages der europäischen Gemeinschaft beitreten würden, 40–45 Prozent glaubten, dass wir uns integrieren, der NATO beitreten sollten.“ Der Westen sei als Utopie dessen wahrgenommen worden, was die Menschen gerne hätten: Wohlstand, Menschenrechte, Rechtsschutz, Demokratie, Freiheit. „Später wurde es unscharf.“
Oder eben auch „verschärft“ – zuerst unter Hinweis auf den georgisch-russischen Konflikt 2008. Damals sagte Wladimir Putin, in dieser Zeit Premierminister, der ARD: Das Ansehen eines Landes, das Leben und Würde seiner Bürger schütze und eine unabhängige Außenpolitik betreibe, werde in der Welt nur wachsen. Es folgten der westlich orchestrierte Regimewechsel in Kiew, der bewaffnete Konflikt im ukrainischen Donbass und die Krim-Krise 2014. Moskau geriet in Kritik und Isolation, in Wirtschaftskrise und Sanktionen, verhängte Gegensanktionen. Der Schwenk in Richtung Asien, vor allem nach China, wurde unübersehbar.
Die NATO müsse seit der „Gruppenvergewaltigung Jugoslawiens und der libyschen Aggression“ bei ihrem wahren Namen genannt werden, empfiehlt Kremlberater Sergej Karaganow: „Das ist eine Union aggressiver Kräfte.“ Die Europäische Union sei handlungsunfähig, meint der Chef des Rates für Außenpolitik und Verteidigung in einem Beitrag für das Journal Russland in der globalen Politik. „Wir haben niemanden, mit dem wir verhandeln können. Sie können Sanktionen verhängen … und das war’s.“ Deutschland suche „sein neues innenpolitisches Gesicht“. Wenn es aber „Gott bewahre – den Weg einer harten Außenpolitik einschlagen“ werde, warnt er mit Blick auf den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg: „Dann werden wir gezwungen sein, uns daran zu erinnern, dass der russische Edelmut und die Vergebung nicht bedingungslos sind.“
Dem Bundestag ist der 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni keine Feierstunde zum Gedenken wert, wie sie von der Linken vorgeschlagen wurde. Dieses Vernichtungskrieges zu gedenken, der unfassbar viele Menschenleben gekostet habe, sollte eigentlich jedes Jahr Anlass für eine Gedenkstunde im Parlament sein“, kommentierte Christine Dankbar in der Berliner Zeitung. „Die Sowjetunion hat wie kein anderes Land in diesem Weltkrieg Leid und Tod erfahren. Das darf nicht vergessen oder auf private Initiativen abgeschoben werden – ganz egal, welche politischen Probleme die Bundesrepublik aktuell mit Russland haben mag.“
Den Westen beschäftigen bevorzugt die Erdgasleitung Nord Stream 2, Alexej Nawalny und die russische Opposition überhaupt, der Ukraine- und Krimkonflikt, Hacker- und andere Angriffe, „Staatsdoping“. Hinzu kommt ein unverhohlener Widerwille Brüssels gegen den Sputnik V genannten Impfstoff. Mit vagem Hinweis auf fehlende Daten dauert die Zulassung. Macht aber nichts. Der EU-Binnenmarktkommissar und Impfstoff-Beauftragte der EU-Kommission, Thierry Breton, hält das Mittel für unnötig und zu spät komme es sowieso.
„Ein selbstloser Helfer ist Russland nicht. Die Strategie richtet sich gegen die Europäische Union“, klärt das Öffentlich Rechtliche auf. Verbreitet werde, dass es in der EU eine Art Komplott gegen russische Impfstoffe und Russland insgesamt geben würde“, sagt Sarah Pagung von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im ZDF. Es werde versucht, die „EU als Ganzes auseinander zu dividieren“. Kritiker des EU-Zauderns sind damit von ihr faktisch als Opfer aggressiver Propaganda denunziert. Denn die Sputnik-V-Kampagne sei ein „sehr typisches Beispiel für russische Auslandskommunikation in den letzten zehn Jahren“.
Das Gift in den europäisch-russischen Beziehungen führt vom Unwohlsein bis zur Lähmung. Kaum jemand zählt noch die gegenseitig rausgeschmissenen Diplomaten Russlands und der EU-Länder. Sanktionen und Gegensanktionen. Vermutet, geahnt, behauptet, bewiesen? Egal. Die Schuld wird zugewiesen, das Urteil damit gesprochen. Wer stets nur noch über Zurechtweisungen und Strafen quittieren soll wie Russland, dem kann die Wirkung seines Tuns oder Lassens auf andere zunehmend gleichgültig werden. Gleiches wird mit Gleichem vergolten und nichts gebessert.
Beispielhaft fällt eine Beschwerde des EU-Außenbeauftragten Josep Borrel über Einreiseverbote für EU-Spitzenleute auf den Urheber selbst zurück. Moskau habe die Konfrontation statt einer Verbesserung der Beziehungen gewählt, murrte er. Zuvor jedoch hatte die EU selbst Verbote für ausgewählte russische Vertreter erteilt. Kein Wort des Mitgefühls war da aus Moskau für die Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen wegen ihres Neben-Platzes auf dem Sofa des türkischen Präsidenten. Außenamtssprecherin Maria Sacharowa erinnerte trocken, dass die laut eigenem Bekunden „verletzte und alleingelassene Frau Europäerin“ vor einiger Zeit noch vorgeschlagen habe, den Dialog mit Russland von einer Position der Stärke aus zu führen. Sie wünschte eine bessere Selbstwahrnehmung. Der Hausherr des Kreml unterschrieb inzwischen einen Erlass über Maßnahmen gegen „unfreundliche Staaten“. Da fragt sich wohl nicht nur Swetlana Rybina im Internetportal Regnum: „Was ist los, haben sie den Bären geweckt?“
Schlagwörter: Deutschland, EU, Klaus Joachim Herrmann, Russland, Sanktionen, Überfall auf die Sowjetunion