24. Jahrgang | Nummer 9 | 26. April 2021

Wissen um China

von Erhard Crome

Zum Ende ihres Lebens schrieben Henry Kissinger (2011) und Helmut Schmidt (2013) Bücher über China. Egon Krenz folgte 2018. Nun also Hans Modrow.

Kissinger beschreibt vor allem die Politik, mit der Präsident Nixon die Wiederherstellung der Beziehungen der USA zu China betrieb, wie er – Kissinger – in dessen Auftrag agierte und wie dadurch die Mächtegruppierung in der Welt, insbesondere gegenüber der Sowjetunion, seit den 1970er Jahren verändert wurde. Dabei bezieht sich Kissinger auf eine Vielzahl von Gesprächen mit führenden chinesischen Politikern und Staatsmännern, die er bei mehr als 50 Besuchen im Lande führte. Am Ende warnt er künftige US-Präsidenten, gegenüber China keine Politik des Regimewechsels zu betreiben, sondern die Beziehungen als „Ko-Evolution“ so zu gestalten, dass möglichst wenig Konflikte mit Peking entstehen.

Helmut Schmidt macht geltend, dass er es war, der Bundeskanzler Willy Brandt drängte, diplomatische Beziehungen der BRD zur Volksrepublik China aufzunehmen, was 1972, sieben Jahre vor den USA, erfolgte. 1975 war er dann erstmals als Bundeskanzler in China, und verweist im Weiteren vor allem auf Gespräche mit Deng Xiaoping. Im Mai 1990, nun bereits als Altbundeskanzler, reiste Schmidt erneut zu Gesprächen nach China, unter anderem zu einem langen dritten Gespräch mit Deng. Das war ein Jahr nach der Niederschlagung der „sogenannten Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens schließlich mit militärischen Mitteln“. Schmidt war nach Peking gereist, weil die Gefahr bestand, „dass sich daraus ein kalter Krieg gegen das kommunistische China entwickelte“. Im Hintergrund stand, dass Teile der damaligen Führung der Kommunistischen Partei 1989 wirtschaftliche und gleichzeitig politische Reformen durchführen wollten, wie Gorbatschow mit Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion. Deng hielt das für falsch und priorisierte Wirtschaftsreformen, die Gleichzeitigkeit musste seiner Auffassung nach ins Chaos führen. Die Entwicklung in der Sowjetunion hat ihm, so Schmidt, „im Nachhinein recht gegeben“.

Egon Krenz schlägt einen Bogen von seiner Teilnahme als Gast am XIX. Parteitag der KP Chinas im Oktober 2017 zu seinen früheren Begegnungen mit China, insbesondere zur Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik im Oktober 1989, wo er die offizielle Delegation der DDR leitete. Er schildert die vorhergehenden Bemühungen Erich Honeckers und der SED-Führung seit Anfang der 1980er Jahre, die Beziehungen zu China zu verbessern – wenn möglich, mit Unterstützung der Sowjetunion, und wenn nötig, auch ohne sie. Obwohl Gorbatschow als Reformer galt, setzte dieser zunächst die feindliche Politik der vorherigen KPdSU-Führungen gegenüber China fort. Besonders setzt sich Krenz damit auseinander, dass die Medien in der BRD im Oktober 1989 kampagnenhaft herausstrichen, er sei nach Peking gefahren, die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu studieren, um „im Ernstfall alle staatlichen Mittel einzusetzen“. Westliche Geheimdienste, Politik und Medien agierten Hand in Hand, um den „vermutlichen Nachfolger“ Erich Honeckers präventiv zu verunmöglichen.

Zu den Vorzügen des soeben erschienenen Buches von Hans Modrow gehört, dass er zwar ebenfalls die große Politik in der Entwicklung Chinas und im Verhältnis zwischen der DDR und der Volksrepublik – bekanntlich wurden beide im Oktober 1949 gegründet – in den Blick nimmt, dies jedoch mit seiner subjektiven Perspektive verbindet. Die ersten Chinesen hatte er 1952 in Moskau beim Studium an der Komsomol-Hochschule kennengelernt. Seinen ersten Besuch stattete er China mit einer Delegation des Zentralrates der FDJ im Jahre 1959 ab. Seither war er in unterschiedlichen Funktionen in politischer Mission in China: als Abgeordneter der Volkskammer der DDR und des Bundestages der BRD, als Vorsitzender des Ältestenrates der PDS und der Partei Die Linke. Sein Buch hat er absichtsvoll „Brückenbauer“ genannt, mit dem Untertitel: „Als sich Deutsche und Chinesen nahe kamen“. Deutsche aus der DDR und Chinesen waren sich bereits nahegekommen, als die BRD-Deutschen von China noch nichts wissen wollten, lag es doch „hinter dem Eisernen Vorhang“. Auch dieser Abschnitt gehört zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen.

Hans Modrow stellt das politische Auf und Ab dieser Beziehungen mit den Verstimmungen und dem Bruch zwischen der Sowjetunion und China und dessen Auswirkungen auf die DDR sehr genau dar, auch das Agieren unterschiedlicher Personen aus der DDR, China und der Sowjetunion. Ein aufschlussreiches Kapitel ist demgemäß überschrieben mit „Die schweren Jahre 1961 bis 1985“. Hier verweist Modrow an verschiedenen Stellen auf Deng Xiaoping, der noch 1963 als Politbüromitglied nach Berlin kam, auch um den Brückenschlag mit der Sowjetunion zu befördern. 1976 wurde Deng zum dritten Mal gemaßregelt und aller Ämter enthoben, bis er dann die zentrale Führungsfigur wurde. Xi Jinping, heute Generalsekretär der KP und Präsident Chinas, war in jenen schweren Jahren als Fünfzehnjähriger vor der Verfolgung während der „Kulturrevolution“ Maos aufs Land geflohen, hatte als Bauer gearbeitet und in einer Höhle gelebt, bevor er später seine Entwicklung nahm. Als es um die Reformstrategie ging, weigerte sich Deng, Mao völlig zu verurteilen, sondern benutzte die Formel: Maos Verdienste und Fehler stünden in einem Verhältnis von 70 zu 30. In diesem Sinne bekräftigte Xi das Ziel, China werde stufenweise den Kommunismus errichten. Er betonte, so Modrow, „dass die ideologische Zersetzung der KPdSU und der Verrat aller Prinzipien durch die Gorbatschow-Gruppe ursächlich für den Zerfall der Partei und des Landes gewesen sei. Die Sowjetunion sei untergegangen, weil sie ihre Geschichte und die ihrer Partei völlig negiert habe.“

Sehr aufschlussreich sind nicht zuletzt Modrows Darstellungen zur Reaktivierung der Beziehungen DDR-China in den Jahren 1986 bis 1989 und anschließend bis zum Untergang der DDR und zum Ende der Beziehungen.

Als Quintessenz seines Buches zieht der Autor drei Schlussfolgerungen.

Die erste folgt der Frage: „Warum ticken die Chinesen anders als wir in Europa?“ Der Schlüssel liege im philosophischen Grundverständnis. Nach Konfuzius sei Freiheit nur durch Ordnung und deren Einhaltung möglich. „Eine wohlgeordnete Gesellschaft schafft Strukturen für ein freies Leben des Menschen.“ Deshalb spiele die Gemeinschaft eine wesentlich andere Rolle als in den europäischen Ländern. Und die Übertragung europäischer Vorstellungen auf chinesische Verhältnisse könne daher nur zu Konfusion oder Konfrontation führen.

Die zweite Folgerung bezieht sich auf die Außenpolitik. Modrows Zwischentitel hier ist überschrieben: „Letztes Wort eines zornigen Alten“. Zornig betont er: „Aber geradezu wütend macht mich die Tatsache, dass Erscheinungen von Völkerhass, Chauvinismus und Nationalismus in die internationalen Beziehungen zurückgekehrt sind. Die Diplomatie, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits ein beachtliches Niveau erreicht hatte, befindet sich auf einem Tiefstand.“ Dazu gehöre, dass die Bundesregierung auf die NATO-Position eingeschwenkt ist, China als „Gegner“ zu betrachten. Berlin verfolge eine „Doppelstrategie“: man brauche und wolle China wirtschaftlich als Partner, setze jedoch politisch auf Konfrontation. Dies werde – so Modrow – auf Dauer nicht funktionieren. Entweder verhalte sich die Politik kooperativ, wie die Wirtschaft, oder die Konfrontation werde auf die Wirtschaft übergreifen. Dabei gelte: „China braucht Deutschland nicht unbedingt, aber die Bundesrepublik braucht China auf jeden Fall.“

Drittens kann Hans Modrow, früher Ehrenvorsitzender der PDS, natürlich nicht umhin, sich zum Zustand der Linken zu äußern. Das tut er in einer bisher so nicht gelesenen Offenheit. Das degoutante Naserümpfen gegenüber dem Sozialismus in China ist ihm zuwider. Was also „tut die Nachhut der kommunistischen und Arbeiterbewegung Europas, die sich aus dem 20. ins 21. Jahrhundert gerettet hat? Denn Vorhut kann man sie gewiss nicht nennen, sie will es nach eigenem Bekunden auch nicht sein. Von einer Avantgarde, die mit kühnen Ideen die öffentliche Diskussion bestimmt und die prinzipielle Auseinandersetzung mit dem imperialistischen Herrschaftssystem befeuert, will sie nichts wissen. Ihr fehlt vermutlich dafür auch das theoretische Rüstzeug, um die kulturelle Hegemonie in der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft zu gewinnen.“ Ohne die Systemfrage zu stellen, ließen sich politische Mehrheiten jedoch nicht erreichen. Die Linken in der Welt müssten nicht alles gut finden, was in China passiert. Aber „Europa ist nicht der Nabel der Welt“. Wir sollten die Chinesen machen lassen. „Und wo sie es möchten, sollten wir sie solidarisch unterstützen.“

Hans Modrow: Brückenbauer. Als sich Deutsche und Chinesen nahe kamen. Eine persönliche Rückschau, Verlag am Park, Berlin 2021, 236 Seiten, 15,00 Euro.