Wenn man auf das Parteiensystem schaut, ist eine der schwierigen Fragen heute, welches die Achse ist, auf der die Parteien verortet werden können. Und wo auf dieser der Punkt zu verorten ist, von dem aus die Mitte identifiziert werden kann.
In den westeuropäischen Demokratien nach 1945 war das eine Links-Rechts-Achse: in Italien links die Kommunisten, rechts die Christdemokraten, dazwischen noch Sozialisten, Liberale, Republikaner; in Frankreich ebenfalls links Kommunisten, rechts Gaullisten, dazwischen Sozialisten, Republikaner. Vor dem zweiten Weltkrieg hatte es in den meisten Ländern Europas rechts noch Alt-Konservative gegeben, Monarchisten und insbesondere rechtsextreme Faschisten. Mit den Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus und seiner Verbündeten, im Inneren ebenso wie international, sowie dem Sieg über den Faschismus 1945 war diese Parteienformation völlig diskreditiert und in den meisten Ländern verschwunden. Gleichwohl blieb es eine Links-Rechts-Achse, die sich wesentlich aus der sozialen Frage ergab. Die marxistisch inspirierte Gesellschaftswissenschaft ging davon aus, dass dies die „eigentliche“ Frage sei, um die sich alles gruppiere.
Bürgerliche Politikwissenschaftler hatten ab den 1960er Jahren versucht, die europäische Parteienentwicklung seit der Französischen Revolution von 1789 entlang unterschiedlicher Bruch- oder Konfliktlinien zu rekonstruieren. Sie identifizierten damals vier wesentliche derartige Linien, die mit den Nationsbildungsprozessen und der Industrialisierung verbunden waren: Zentrum und Peripherie; Staat und Kirche; Stadt und Land bzw. industrielle und agrarische Interessen; Arbeit und Kapital. Entlang dieser Bruchlinien ließen sich dann konservative und liberale Parteien, konfessionell geprägte und säkulare, Bauern- und Regionalparteien, schließlich sozialdemokratische bzw. sozialistische Parteien gruppieren. Nach dem ersten Weltkrieg war – Arbeit betreffend – praktisch noch der Bruch innerhalb des sozialistischen Parteienlagers zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten hinzugekommen. Beide standen sich zutiefst feindlich gegenüber, und dies ist problematisch geblieben, obwohl sich mit dem Scheitern des Realsozialismus der eigentliche Entstehungsgrund dieses Bruches erübrigt hatte. Die über Jahre verfolgte Unvereinbarkeitspolitik der SPD gegenüber der PDS und dann Linkspartei (als „Nachfolger“ der SED) in Deutschland war eine Folge, obwohl doch beide schon viel früher hätten gemeinsam Politik machen können, als es – zumindest auf Länderebene – seit einigen Jahren der Fall ist.
Seit den 1980er Jahren machte die bürgerliche Politikwissenschaft eine fünfte Bruchlinie aus: zwischen modernen und „postmodernen“ Problemlagen und Interessen. Unter dieser Rubrik wurden dann sowohl die ökologische Frage als auch die Frauen-, respektive Geschlechterfrage und später das Rassismusproblem gefasst.
Heute ist klar, dass es einseitig war, unter der traditionellen marxistischen Perspektive die soziale Frage in Gestalt des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit als „Hauptwiderspruch“ zu fassen, mit dessen Lösung sich die Fragen der Gleichstellung der Geschlechter oder die der Zugewanderten oder rassistisch Diskriminierten oder der Rechte von Schwulen und Lesben quasi von selbst lösen würden.
Die spätbürgerliche Politikwissenschaft hat mittlerweile die Kategorie der mehrfach Diskriminierten entwickelt. Dabei ist allerdings die Frage, ob es vielleicht doch eine Hierarchie von Unterdrückungen und eine Zentralität des Kapitalverwertungsinteresses gibt, weitgehend aus dem Blickfeld verschwunden.
Realgeschichtlich haben sich in den vergangenen Jahrzehnten parallel zueinander mehrere maßgebliche Entwicklungen vollzogen. Mit dem Verschwinden des osteuropäischen Sozialismus war die Idee desavouiert, dass mit der Errichtung der „Diktatur des Proletariats“ alle Probleme gelöst würden, die der Kapitalismus aus seinem inneren Wesen heraus schafft. Damit stand die kommunistische Idee nackt da und vielfach wurde auch die marxistische Analyse und Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und kapitalistischen Produktion über Bord geworfen. Gleichzeitig gab die Sozialdemokratie ihre Ansprüche auf, mittels Reformpolitik „dritte Wege“ beschreiten zu wollen. Mit dem deutschen Kanzler Schröder und dem britischen Premier Blair verwandelte sich die Sozialdemokratie seit den 1990er Jahren in einen selbständigen Protagonisten des Neoliberalismus. Die Regime der „nationalen Befreiung“ in der „Dritten Welt“ verloren endgültig ihren Charakter von Entwicklungsdiktaturen und wurden oft zu blanken Kleptokratien und Gewaltregimes. Damit verloren auch viele Solidaritätsbekundungen mit den Völkern des Südens im Norden ihren Halt. Hinzu kommt in EU-Europa das Problem des Verhältnisses zwischen dem Integrationskonstrukt und den Nationalstaaten, an die die jeweiligen Verfassungs- und Rechtsordnungen gebunden weiterhin sind, sodass die Bruchlinie EU-Nationalstaat inzwischen eine eigene Bedeutung hat. An deren nationalem Ende sind die rechten Parteien – Front National in Frankreich, Lega in Italien, PiS in Polen, Fidesz in Ungarn, AfD in Deutschland – angeordnet.
Prägend in den Ländern des Nordens wurde die Wucht des sozialen Aufstiegs, die bereits Eduard Bernstein problematisiert hatte. Die Arbeiterklasse kämpft für ihre Emanzipation, ihre Kinder sollen es mal besser haben. Mit der materiellen Besserstellung steigen diese Kinder aber auch sozial auf und sehen keinen Grund mehr, weshalb sie sozialistisch oder sozialdemokratisch wählen sollen. In diesem Sinne wurde die Sozialdemokratie zu einem Opfer ihres eigenen Erfolgs. Hinzu kam, dass sich die verschiedenen besonderen Interessen – Migranten, Feministinnen, sexuelle Minderheiten und andere – sich kulturell separierten und sich jeweils einen eigenen ideologischen Überbau schufen. Zugleich wurde die ökologische Frage drängender, durch Klimawandel, Erderwärmung, Abtauen der Gletscher und Polkappen handgreiflicher, sodass diese nun von vielen der urbanen Kleinbürgerkinder als das eigentliche Weltproblem angesehen wird. Da sollen sich die heimischen Obdachlosen mal hinten anstellen. Womit wir wieder einen „Hauptwiderspruch“ hätten, nur einen anderen.
Das Parteiensystem in Deutschland hatte mit der Konstellation von 1990 die Sozialdemokratie in der Mitte, rechts davon die Christdemokraten, links die Grünen und die PDS. Die Freien Demokraten waren wirtschaftspolitisch im Grunde rechts von der Christdemokratie, in Sachen Bürgerrechte aber eher links von der SPD. Mit Schröder und Merkel wollten dann alle mittig sein. Links blieb die Linkspartei. Aus den bürgerlichen Rechten, die mit Angela Merkels mittiger Politik nicht mehr einverstanden waren, bildete sich die AfD. Die wurde dann aber von Teilen einer ideologischen Rechten außerhalb des bürgerlichen Spektrums zu kapern versucht.
Die Grünen, die inzwischen eine Partei der Besserverdienenden wurden, rückten real stärker in die Mitte. Sie blieben bei ihrem ökologischen Markenkern, nahmen aber zugleich alle früher exotischen Themen des Feminismus, der Geschlechtergerechtigkeit, des Antirassismus et cetera auf. Insofern sind sie heute die Partei der Postmoderne. Die Sozialdemokratie und die Linke liefen diesem Trend hinterher. Die soziale Frage – Kapital und Arbeit, Armut und Reichtum – geriet auch hier zunehmend aus dem Blickfeld. Problem ist nur: Vor zwanzig Jahren gab es das Argument gegen den Reformerflügel in der PDS/ Linkspartei, es brauche keine zweite sozialdemokratische Partei. Dabei wurde meist übersehen: eine zweite DKP auch nicht. Und heute gilt: Es braucht keine drei Parteien, die sich um die Schlingnatter, querfeministische Gesinnungsfragen, Gender-Sternchen und post-kolonialen „strukturellen Rassismus“ kümmern. Da sind schon zwei zu viel, wie man an den – auch aus weiteren Gründen – sinkenden Umfragewerten der SPD besichtigen kann.
Wenn man von einer gesellschaftskritischen Sicht herkommt, bleibt die Union (CDU/CSU), trotz aller verkrampften Mittigkeiten, eine rechte Partei, die an der Konfliktlinie Kapital-Arbeit auf der Kapitalseite verankert ist. AfD und FDP stehen ohnehin dort, erstere zudem noch gegen die EU. Die Grünen sind an der Konfliktlinie Ökologie auf der richtigen Seite, interessieren sich für die soziale Frage aber nur rhetorisch. Die Sozialdemokratie möchte sich von ihrer verfehlten Hartz-IV-Politik abnabeln, traut sich aber nicht so richtig. Die Linkspartei führt den Antikapitalismus im Programm, hat – wo immer sie mitregierte – jedoch in aller Regel lediglich sozialdemokratische Verwaltungspolitik praktiziert.
Bleibt die Außenpolitik. Union und SPD sind für alle Militäreinsätze seit 1990 verantwortlich, unterstützt von den jeweils Mitregierenden von FDP und Grünen. Letztere haben den „Schutz der Menschenrechte“ inzwischen so hoch gehängt, dass sie eine schärfere Politik gegen Russland und China fordern, als die Union sie derzeit praktiziert. Was würde eine grüne Bundeskanzlerin tun? Noch mehr „Sanktionen“ verhängen, noch mehr Bundeswehr an die Grenzen Russlands verlegen? Das kann kein Linker und kein wirklicher Friedensfreund wollen. Im Übrigen bleibt in unguter Erinnerung, dass es die Grünen mit der SPD waren, die 1999 gegen Jugoslawien den ersten – und völkerrechtswidrigen – Krieg Deutschlands nach 1945 geführt haben.
Fazit: Das politische System hat keine Mitte mehr, um die es sich konfiguriert. Und der Wähler ist ratlos. Nun muss bis September jeder sehen, wie er damit „umgeht“.
Schlagwörter: AfD, CDU/CSU, FDP, Grüne, Linkspartei, Mitte, SPD, Waldemar Landsberger