24. Jahrgang | Nummer 8 | 12. April 2021

Biden – die „ungelenkte Rakete“

von Petra Erler

Kürzlich wurde der Bericht ausgewählter US-Geheimdienste zur Wahlbeeinflussung in den USA freigegeben. Bevor man ihn für bare Münze nimmt, sollte man die Hinweise auf der letzten Seite lesen. Danach ist das, was die Geheimdienste aufschreiben, nicht mit Fakten oder gar der Wahrheit zu verwechseln. Ausdrücklich stellen sie nämlich klar, dass der Bericht lediglich enthält, was sie glauben – mit großer oder minder großer Zuversicht. Beweise legen sie nicht vor. Dennoch entwickeln solche Einschätzungen ein Eigenleben mit politischen und medialen Konsequenzen.

Unter anderem glauben die Geheimdienste, Wladimir Putin habe persönlich angeordnet, die Präsidentschaftswahlen zu Lasten Joe Bidens zu beeinflussen, das Vertrauen in die Wahlen zu untergraben und die Spaltungen in der Gesellschaft zu vertiefen. Damit unterstellen sie erneut, Bidens Vorgänger Donald Trump wäre ein Präsident von Putins Gnaden gewesen. Das glaubt man nach wie vor gern im Lager der Demokraten, dem auch der Journalist George Stephanopoulos (ABC News) zuzurechnen ist, der in den 90er Jahren für Präsident Bill Clinton arbeitete.

Stephanopoulos präsentierte in seinem Interview mit Joe Biden am 16. März die geheimdienstlichen Einschätzungen in Bezug auf die russische Wahleinmischung als Fakten. Und der Präsident versicherte umgehend, Putin werde dafür „einen Preis bezahlen“.

Biden kennt den russischen Präsidenten recht gut, wie er sagte, und er habe ihm, so wie einst George W. Bush, in die Augen gesehen und gewusst, anders als Bush, dass Putin keine Seele habe. Eine sehr bemerkenswerte Äußerung für einen praktizierenden Katholiken. Doch auf dieser Grundlage hätten sich die beiden, laut Biden, gut verstanden.

Biden denkt auch, Putin sei ein Mörder. Im ABC-Interview war er gezielt danach gefragt worden („Do you think …?“) – und war sichtlich erfreut über diese Frage.

Jeder darf glauben oder denken, was er will, aber wenn ein Präsident mit allen Regeln der Diplomatie bricht und sich derart äußert, dürfte man von einem Journalisten zumindest eine Reaktion, wenn nicht gar eine Nachfrage erwarten: „Warum denken Sie das?“

Den daran anschließenden Teil des Interviews sparten viele Medien völlig aus, obwohl er mindestens ebenso spannend war. Biden betonte, man könne gleichzeitig „laufen und Kaugummi kauen“. Folglich könne er vom russischen Präsidenten so denken, wie er denkt, und gleichzeitig mit ihm zusammenarbeiten. Er habe mit Putin den START-Vertrag verlängert, da es im überwiegenden Interesse der Menschheit liege, die Aussicht auf einen nuklearen Schlagabtausch zu vermindern. Wieder wurde nicht nachgefragt, ob Bidens Ansicht zum gleichzeitigen Gehen und Kaugummikauen jederzeit verlässlich ist, wenn Menschheitsinteressen auf dem Spiel stehen.

Wie zu erwarten, schlug die Aussage zum „Killer“ Putin große Wellen. Der russische Präsident reagierte, indem er einerseits seine Bereitschaft und die Zuversicht äußerte, die Angelegenheit schnell aus der Welt zu schaffen – in einem öffentlichen Streitgespräch. Er sprach Bidens Alter an und wünschte ihm Gesundheit, ohne Ironie. Gleichzeitig verglich er dessen Überzeugungen mit der Gewohnheit von Schulkindern, im Gegenüber immer nur sich selbst zu sehen. Der politisch entscheidende Satz aber lautete: Die Zeiten, in denen die westliche Seite bestimmt, wo Kooperation möglich ist, sind vorbei.

Wenig später hatte die hochrangige chinesische Delegation, die sich mit Außenminister Antony Blinken und Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan in Anchorage (Alaska) traf, eine gleichlautende Botschaft im Gepäck. Und nicht nur die. China verweigere sich dem Hegemonieanspruch der USA, die nicht für die gesamte Weltbevölkerung sprächen und gefälligst vor der eigenen Haustür kehren sollten, wurde betont.

Selbstverständlich kann man schlussfolgern, das alles stamme aus dem Mund böser Buben und falle daher allenfalls auf die bösen Buben zurück. Man kann aber auch zu der Erkenntnis gelangen, dass die internationale Karre nicht nur ziemlich im Dreck steckt, sondern darin zu versinken droht.

Ben Rhodes, vormals Berater und Redenschreiber Barack Obamas, hatte in seinen Erinnerungen an die Obama-Ära niedergelegt, dass Biden – damals Vizepräsident – im „Situationsraum“ (also in schwierigen Lagen) wie eine „ungelenkte Rakete“ sein könne. Die Zeitung Politico notierte am 14. August 2020, Biden habe eine Tendenz, alles auszuplaudern, was ihm gerade in den Sinn komme. Im nämlichen Politico-Artikel stand, Obama habe einen Parteifreund gemahnt, Bidens Fähigkeit, „Dinge in den Sand zu setzen, nicht zu unterschätzen“.

Solche wenig schmeichelhaften Einschätzungen ehemaliger Weggefährten dürften in Moskau und Peking zur Kenntnis genommen worden sein. Ebenso wie der Umstand, dass das Alter mit Joe Biden nicht gnädig umgeht. Die ersten, die darauf hinwiesen, waren Bidens Konkurrenten im Vorwahlkampf der Demokraten. Heute wird das Thema nur im Lager der Republikaner offen angesprochen. Aber jeder, der Bidens öffentliche Auftritte verfolgt, bemerkt, dass er seinen Zenit überschritten hat. Ab und an gerät er völlig aus dem Konzept, vergisst das eine oder andere und nimmt es mit Fakten nicht so genau. In seiner ersten formellen Pressekonferenz am 25. März las er politische Positionen von vorbereiteten Zetteln ab.

Das macht die Weltlage nicht einfacher. Unklar ist überdies, wer das Ruder im Weißen Haus in der Hand hat. Im Internetauftritt des Weißen Hauses ist inzwischen offiziell von der „Biden-Harris-Administration“ die Rede. Aber spiegelt das die neue Machtverteilung tatsächlich wider?

Der heutige desolate Zustand der USA ist nicht das Werk äußerer Gegner, sondern er ist hausgemacht. Biden will sich um die Einheit des tief gespaltenen Landes bemühen, gleichzeitig erinnert die dortige Diskussion inzwischen an die McCarthy-Ära – mit umgekehrten Vorzeichen. Diesmal sind es die liberalen Kräfte, die überall Extremisten und Rassisten wittern.

Ein Blick auf die Wählerbasis beider Parteien in den USA verrät, dass Trump-Wähler die einkommensschwachen ländlichen und städtischen Räume bevölkern. Demokratische Wähler dagegen sind dort dominant, wo die Wirtschaft intakt ist und 70 Prozent des Bruttosozialprodukts erwirtschaftet werden. Beide Wählergruppen haben nicht einmal mehr als Nachbarn Berührungspunkte. Auch in der Pandemie konnten die ärmeren Gruppen zunächst sehen, wo sie bleiben. Das erste, parteiübergreifend verabschiedete Hilfspaket nützte vor allem den Reichen und den Reichsten. Das umstrittene zweite Hilfspaket enthielt weder die im Wahlkampf versprochenen 2000 Dollar Direktunterstützung pro Person noch einen Mindestlohn. Wem es wirklich nützt, wird die Zeit zeigen.

Biden trug am 25. März von einem Zettel auch Fakten zum Zustand der Infrastruktur in den USA vor. Es bietet sich ein desolates Bild. Beispielsweise erfolgt die Trinkwasserversorgung für Millionen von Amerikanern noch immer durch Bleirohre. Das will Biden mit einem Infrastrukturpaket ändern, das Trump bereits im Wahlkampf 2016 versprach (und dann liegen ließ), weil auch die Obama-Regierung nichts getan hatte. Tatsächlich wäre es den USA zu wünschen, dass sie diese große Kraftanstrengung schafften.

Zudem ist ein Teil der USA-Bevölkerung kriegsmüde. Quer durch das politische Spektrum sind viele der endlosen Kriege und Versuche zum regime change einfach leid. Die heute Zwanzigjährigen haben keinen Tag erlebt, an dem die USA nicht in militärische Auseinandersetzungen verwickelt waren.

Wer also überhöht, was Konkurrenten und Widersacher den USA angeblich antun, übersieht, dass deren schwierige Lage innere Ursachen hat. Schlimmer noch: Dadurch wird relativiert, dass in westeuropäischen Gesellschaften – bei allen ihren Unvollkommenheiten – Demokratie, Rechtstaatlichkeit und soziale und Freiheitsrechte sehr viel besser gewahrt sind als in den USA. Von der überlegenen ökonomischen Effizienz im Verhältnis zur EU spürt eine Mehrheit von US-Amerikanern im eigenen Alltag nichts.

Das alles sollte hierzulande nüchtern und klar gesehen werden. Ebenso wie die Tatsache, dass die Konfliktspirale nicht nur von einer Seite gedreht wird, dass russische und chinesische Positionen ihre Vorgeschichte haben.

Darauf haben jüngst auch ehemalige französische Armeeangehörige hingewiesen. Sie schrieben dem NATO-Generalsekretär anlässlich seiner Initiative „NATO 2030“ einen offenen Brief. Darin zählten sie reale Vorkommnisse auf, bei denen der Militärpakt Russland vor den Kopf gestoßen und dessen Interessen missachtet habe. Sie seien nicht mehr bereit, ein russisches Feindbild zu verfolgen, und fragten, was 1000 Milliarden Dollar NATO-Rüstungsausgaben gegen die 70 Milliarden Dollar Russlands seien. Auch gegen eine künftige Ausrichtung der NATO gegen China wandten sie sich und stellten die Dominanz der USA in der Allianz in Frage. Der internationale Terrorismus sei der gemeinsame Gegner, die Verfestigung neuer Feindbilder müsse gestoppt werden, bevor es zu spät ist. Dem ist nichts hinzuzufügen.