Es war im Jahre 2009, als ich im Wartezimmer einer Arztpraxis mit einem Hauptfeldwebel ins Gespräch geriet. Er war als solcher nicht erkennbar, trug keine Uniform, wir waren nur zu zweit, er suchte der Stille im Raum beizukommen und fragte mich, ob ich’s auch mit dem Rücken hätte, und als ich verneinte und auf altersgemäße Untersuchungsroutine verwies, sagte er etwas von Bundeswehr und Afghanistan, und ich, von seiner Offenheit beeindruckt, dachte, dass es passte, wenn ich meinen Arbeitsplatz in der Bundestagsfraktion der LINKEN ins Feld führte. „Aha“, sagte er, „dann sind Sie also einer von denen, die gegen uns sind.“ „Im Gegenteil“, sagte ich, „wir sind für Sie. Wir wollen nicht, dass Sie in sinnlosen Kämpfen Ihr Leben lassen.“ „Na, ich weiß nicht“, sagte der Mann, und der Ruf der Krankenschwester enthob uns weiterer Erörterung.
Krieg – hatte 2001 der Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag Roland Claus, dessen Mitarbeiter ich war, nach den Anschlägen vom 11. September gesagt – sei die falsche Antwort auf den Terror. Der werde mit Krieg nicht besiegt, sondern nur weiter angeheizt. Fast zwanzig Jahre liegen diese Reden zurück, das Handeln der Bundesregierung haben sie nicht beeinflusst – wie auch sollten fünf bis zehn Prozent im Parlament gegen die anderen 90 bis 95 ankommen – aber der Verlauf der Geschichte hat sie bestätigt. Seit zwei Jahrzehnten stehen NATO-Truppen in Afghanistan, und es ist unaufhörlich Krieg. 2015 bilanzierte eine amerikanische Studie für die Zeit seit 2001 dort 69.000 Tote, seither verloren jährlich jeweils 3000 bis 4000 weitere an den militärischen Auseinandersetzungen Unbeteiligte ihr Leben. Dabei ist Afghanistan nur einer der Schauplätze dieses nicht enden wollenden, völlig zerfaserten, durch keinerlei fassbare Ziele oder Beendigungsszenarien charakterisierten – und im Übrigen die Weltorganisation UNO ein ums andere Mal als handlungsunfähig vorführenden – Krieges. Der Irak, Syrien, Libyen, Jemen markieren mit hunderttausenden Toten und Millionen von Flüchtlingen den verheerenden Weg dieses Krieges, er wütet in den an Afghanistan grenzenden Regionen Pakistans, hat eine Weltlage geschaffen, in der Regionalmächte wie der Iran und Saudi-Arabien in Stellvertreterkriegen ungezügelt zu militärischer Gewalt greifen, die Türkei auf syrischem Territorium Krieg gegen die Kurden führt und sich auch die Lage etwa in Mali oder im Sudan immer weiter destabilisiert.
So sieht es aus im Jahre 2021. Die Rüstungsausgaben wachsen weiter. 1,9 Billionen Dollar wurden dem Friedensforschungsinstitut SIPRI zufolge 2019 in die Rüstung investiert – davon 732 Milliarden durch die USA, 261 Milliarden durch China, 71 Milliarden durch Saudi-Arabien, 50 Milliarden durch Frankreich und je 49 Milliarden durch Deutschland und Großbritannien. Werden diese Zahlen ins Verhältnis zur jeweiligen Bevölkerungsgröße gesetzt, sieht das Bild so aus: USA 2.200 Dollar pro Kopf, Saudi-Arabien 1.818, Frankreich 769, Großbritannien 736, Deutschland 612, Russland 451, China 261, Indien 64.
Deutschland also auf Platz 5. Und die Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD hat – so die ARD am 3. Januar 2021 – im Jahr 2020 Rüstungsexporte für mehr als eine Milliarde Euro an Länder genehmigt, die direkt in die Konflikte im Jemen und in Libyen verwickelt sind – allein an Ägypten 752 Millionen Euro. Weiter standen Katar (305 Millionen Euro), die Vereinigten Arabischen Emirate (51 Millionen), Kuwait (23,4 Millionen) und die Türkei (22,9 Millionen) auf dieser Liste.
Die politischen Grundlagen für all das wie auch für die zahlreichen als „Auslandseinsätze“ schön geredeten Kriegsbeteiligungen der Bundeswehr werden seit Jahrzehnten geschaffen durch eine übergroße Koalition aus CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP. Egal, welche Positionen sie auf anderen Politikfeldern voneinander trennen: Hier verstehen sie sich alle einer „nationalen Aufgabe“ verpflichtet, in der sie sich „verantwortungsvoll“ zusammenfinden, um dann ebenso „verantwortungsvoll“ in „Europa“ – zu dem sie Russland nicht zählen – und in der NATO ans Handeln zu gehen. Immer weiter. Und nie sich Rechenschaft ablegend, zu welchen Resultaten – siehe oben – dieses Handeln geführt hat und weiter führen wird.
Die LINKE steht bisher außerhalb dieser Mega-Koalition, und das steht ihr sehr gut zu Gesicht, und es ist beim besten Willen nicht zu erkennen, warum sich das ändern sollte.
Und trotzdem regt sich in der LINKEN wieder einmal der Wille, irgendwie doch ins Mitspielen zu kommen. Es gebe eine rot-rot-grüne Machtperspektive, heißt es, und so gelte es – so ist aus außen- und sicherheitspolitischen Kreisen der Fraktion zu lesen und zu hören –, auch die friedenspolitischen Positionen der Partei zu „modernisieren“, sie „der Realität anzupassen“, sich „den in einer Demokratie unerlässlichen Kompromissen nicht von vornherein zu verweigern.“ Befeuerung kommt von außen. Auf der Leserbriefseite des nd vom 27.2. hält ein Experte „eine linke Sicherheits- und Verteidigungspolitik für Deutschland und die EU“ für „überfällig“ – will sagen: das klare „Nein“ zu Krieg, Rüstung und Auslandseinsätzen reicht ihm nicht aus –, und ein anderer meint, wer die Rufe nach außenpolitischer Kursänderung „nur als machtpolitisch begründet“ versteht, habe „den Bedarf an neuer Politik bei der Linkspartei nicht verstanden“.
Ein „Bedarf an neuer Politik“ jenseits von machtpolitischen Erwägungen? Also „einfach nur so“? Das ist skurril. Natürlich geht es um Stimmengewinn. Worum denn sonst. Nur: Ich weiß nicht, ob diese Rufe nach „Modernisierung“ bis zu Ende gedacht sind. Denn wer erst einmal beginnt, sich in die Politik von Aufrüstung, Rüstungsexporten und Auslandseinsätzen mitregierend einklinken zu wollen, um vielleicht an dem einen oder anderen Schräubchen um ein Winziges mitdrehen zu können, muss sich dessen bewusst sein, dass als nächste Entscheidung die über die Entsendung der eigenen Kinder und Enkel in die Kriegsgebiete auf der Tagesordnung stehen wird. Muss an der Schaffung eines geistig-kulturellen Klimas mittun, in dem sich diese Entscheidung rechtfertigt. Muss also eine „nationale“ – oder auch: „europäische“ – Mission beschwören. Muss der dazu nötigen „nationalen Einheit“ das Wort reden. Und muss die für all das unerlässlichen Feindbilder – wieder einmal: Russland und China – schüren. Die Grünen haben diesen Weg seit ihrem Ja zur deutschen Beteiligung am NATO-Krieg in Jugoslawien 1999 mit aller Konsequenz ausgeschritten. Und ja: Niemand zweifelt darum heute an ihrer „Regierungsfähigkeit“ im Bund.
Bei solcher „Modernisierung“ aber wird das klare, kompromisslose „Nein“ – das übrigens immer auch das „Nein“ der in der LINKEN völlig zu Recht in höchsten Ehren stehenden Rosa Luxemburg gewesen ist und auch das „Nein“ eines Kurt Tucholsky, eines Dietrich Bonhoeffer oder eines Bertolt Brecht – zum Ladenhüter degradiert. Und es hat, wenn die LINKE es aufgibt, bei keiner der im Bundestag vertretenen Parteien mehr eine Heimat. Ob die LINKE damit an Zustimmung in der Bevölkerung gewinnt, darf aufs Stärkste bezweifelt werden.
Schlagwörter: Die Linke, Krieg, Militärausgaben, NATO, Wolfram Adolphi