24. Jahrgang | Nummer 5 | 1. März 2021

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

Aus Russland kann
nichts Gutes oder Hilfreiches kommen.
Da wird oft nicht mehr sachlich
rational argumentiert. Das ist mittlerweile
schon wie ein Reflex. […]
Unser Feindbild ist ebenso gefestigt
wie unsere Überheblichkeit […].

Matthias Platzek
Ex-Ministerpräsident Brandenburgs
und Chef des Deutsch-Russischen Forums

Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre grassierte in der BRD eine Polioepidemie; 1961 erkrankten über 4500 Menschen. In der DDR waren es im selben Jahr nur vier, denn dort stand seit 1960 eine aus der Sowjetunion stammende Schluckimpfung zur Verfügung, die – es bestand Impfpflicht – rasch flächendeckend eingesetzt wurde. In der BRD gab es beides nicht – weder Serum noch Impfpflicht. Die DDR bot seinerzeit an, drei Millionen Serum-Dosen zur Verfügung zu stellen. Die Adenauer-Regierung lehnte dies als „Propagandatrick“ ab. An diese Episode, in der Kalter Krieg vor Menschenwohl ging, wurde gerade in der dritten Staffel von „Charité“ erinnert.

Mit vergleichbarer Hybris wurde hierzulande reagiert, als Moskau im August 2020 mit „Sputnik V“ den ersten Corona-Impfstoff weltweit vorstellte. Von „Impfstoff-Murks aus Moskau“ (FAZ) und „üble[r] Impfstoff-Propaganda“ (Süddeutsche Zeitung) war die Rede, geraunt wurde von „Anzeichen von Manipulationen“ (Frankfurter Rundschau) und behauptet, Russland nehme ein „hochriskantes Experiment am Menschen“ (Ärztepräsident Klaus Reinhardt) vor. Auch das „Sturmgeschütz“ der Demokratie (Rudolph Augstein über seinen Spiegel) stand nicht abseits: „Haben sich die für den Impfstoff verantwortlichen (russischen – W.S.) Wissenschaftler ihre Ergebnisse ausgedacht oder gar mit Photoshop aufgehübscht?“*

Da war sie also mal wieder, die ebenso kollektive wie dümmlich-arrogante Attitüde westdeutscher Eliten gegenüber dem „Obervolta mit Raketen“, so der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt im Jahre 1977 über die Sowjetunion.

Angesichts der Parallele zur Polioepidemie könnte man witzeln: „Es ändert sich halt alles, wie es war.“

Doch das wäre dem Ernst der Lage, in dessen Kontext Corona nur eine weitere Facette der neuen Ost-West-Konfrontation ist, unangemessen. Antje Vollmer, die Ex-Präsidentin des Bundestages, hat kürzlich den Punkt getroffen, als sie konstatierte: „Alles hängt in diesem kritischen Moment davon ab, ob die politischen, intellektuellen und medialen Eliten der westlichen Demokratien noch zu einer umfassenden Selbstkritik in der Lage sind. Und zu den notwendigen Konsequenzen daraus.“ Auch wenn historische Vergleiche häufig hinken, den jetzigen kritischen Moment mit jenen des Mauerbaus von 1961, der Kuba-Krise von 1962 und der Zeit nach dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 auf eine Stufe zu stellen, erscheint durchaus angemessen. (Der russische Generalstabschef Gerassimow verwies unlängst auf die militärische Rivalität im Cyberspace und im Weltraum als „Risikofaktoren für einen Atomschlag“.) Doch damalige Protagonisten wie Brandt, Bahr, Kennedy und Gorbatschow, die die Zeichen der Zeit verstanden und in politische Paradigmenwechsel umsetzten, sind nicht in Sicht. Nirgends.

*

Apropos Ernst der Lage: Den miserablen Zustand der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland haben erst in jüngster Zeit wieder Ereignisse auf amerikanischer und russischer Seite schlaglichtartig verdeutlicht:

  • So traf der russische Außenminister Lawrow am 8. Dezember 2020 in Moskau mit AfD-Chef Tino Chrupalla zu einem außergewöhnlich langen Gespräch (fast „drei Stunden“ – DER SPIEGEL) zusammen. Der Kreml wertete Chrupallas Aufenthalt als einen „wichtigen Besuch“ und Lawrow bezeichnete die AfD als eine politisch „bedeutende Kraft“. AfD-Senior Gauland („Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“) war nur aus gesundheitlichen Gründen nicht dabei. Lawrow ließ nach Presseberichten herzlich grüßen und wünschte gute Besserung.
  • Als eine seiner ersten Personalentscheidungen hat Präsident Biden Victoria „Fuck the EU!“ Nuland als Staatssekretärin für politische Planung im State Department nominiert. An gleicher Stelle unter Obama leitete sie die Abteilung „Europa und Eurasien“ und war federführend am Umsturz in Kiew im Februar 2014 beteiligt, der direkt in die Ukraine-Krise mündete. Nunmehr soll sie „die großen Linien US-amerikanischer Außenpolitik formulieren“, wie es in der ZEIT hieß. Was sie sich im Hinblick auf Moskau vorstellt, hatte Nuland in der Juli/August-Ausgabe 2020 von Foreign Affairs unter dem programmatischen Titel „Putin festnageln. Wie ein selbstbewusstes Amerika mit Russland umgehen sollte“ ausführlich ausgebreitet. Sie erinnerte dabei an jene „Staatskunst […], mit der der Kalte Krieg gewonnen wurde“. Und konkret: „Diese Strategie erforderte eine konsequente Führung der USA auf Präsidentenebene, Einigkeit mit demokratischen Verbündeten und Partnern und eine gemeinsame Entschlossenheit, gefährliches Verhalten des Kremls abzuschrecken und zurückzudrängen.“ Natürlich aus einer „Position der Stärke heraus“. Und wenn Russland im Hinblick auf die Ukraine „weiterhin eine Blockadehaltung einnimmt, sollten die Sanktionen und andere Formen des politischen, wirtschaftlichen und militärischen Drucks erhöht werden“. Diesem Stil entsprach Bidens „Ansage“ in seinem ersten Telefongespräch mit Putin kurz nach seinem Einzug ins weiße Haus, dass „die Zeiten, in denen die Vereinigten Staaten vor Russland kuschten, vorbei seien“ (DER SPIEGEL). Und bei Bidens Auftritt auf der diesjährigen (virtuellen) Münchner Sicherheitskonferenz reichte es genau bis zu jenem altbekannten Klischee, mit dem die NATO-Führungsmacht über die Jahrzehnte immer wieder versuchte, die eigenen Reihen geschlossen zu halten: Moskau „versuche, die Vereinigten Staaten, die europäische Einigung und das transatlantische Bündnis zu schwächen“.
  • Derweil hat Moskau seinerseits einmal mehr deutlich werden lassen, dass es auf dem Parkett der gegenseitigen Beziehungen anstelle des Floretts den Vorschlaghammer durchaus ebenso zu handhaben weiß wie der Westen: Als vom 4. bis 6. Februar mit Josep Borell erstmals seit 2017 wieder ein Hoher Beauftragter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik in der russischen Hauptstadt weilte, äußerte Russlands Außenminister Lawrow auf einer gemeinsamen Pressekonferenz, die EU sei ein „unzuverlässiger Partner“. Und fügte im Hinblick auf die Weigerung Deutschlands, Frankreichs und Schwedens, bei der Untersuchung einer möglichen Vergiftung des Oppositionellen Nawalny mit Russland zu kooperieren, hinzu: „Eine solche Arroganz seitens [des] kultivierten Europas scheint absolut unannehmbar und kategorisch unzulässig zu sein.“ Dieser öffentlichen diplomatischen Ohrfeige folgte wenig später ein regelrechter Knockout. Borell soll bei einem Arbeitsessen mit Lawrow gesessen haben, als sich über Twitter die Nachricht verbreitete, dass Moskau je einen Diplomaten aus Deutschland, Polen und Schweden ausgewiesen habe. Teilnahme an rechtswidrigen Aktivitäten am 23. Januar lautete die offizielle Begründung. Gemeint waren die aus Behördensicht illegalen Pro-Nawalnyj-Demonstrationen an jenem Tag. Unabhängig davon, ob die Ausgewiesenen ihre international verbrieften Rechte nun überschritten hatten oder nicht – der demonstrative Charakter des Aktes war unübersehbar. Zumal Lawrow wenig später nachlegte – Russland sei „auf einen Abbruch der Beziehungen mit der EU vorbereitet“ – und diese Erklärung noch mit dem martialischen Abschluss versah: „Wer Frieden will, der rüste sich zum Krieg.“

*

Gerade vor dem Hintergrund unverminderter Konfrontation sind die wenigen Stimmen der Vernunft sowie Vorschläge zu einer schrittweisen neuen Ost-West-Entspannung, auch wenn die von der westlichen Politik in der Regel ignoriert und von den Mainstreammedien allenfalls punktuell widergegeben werden, umso wichtiger:

  • „Russland ist die zweitgrößte Atommacht der Welt. Deshalb plädiere ich dafür, dass wir Wege, Mittel und Möglichkeiten einer friedlichen Koexistenz finden, die perspektivisch wieder Aspekte der Partnerschaft in sich trägt. Und wir brauchen endlich eine Sicherheitsarchitektur auf Augenhöhe.“
    (Matthias Platzek)
  • „Die Lage schreit nach mehr Dialog und der Wiederaufnahme politischer und militärischer Kontakte. So könnten zum Beispiel häufigere Treffen zwischen dem Chef des russischen Generalstabs, dem Vorsitzenden des Gemeinsamen Generalstabs der Vereinigten Staaten, dem Obersten Alliierten Befehlshaber Europa der NATO und dem Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses Möglichkeiten zur Verringerung der Spannungen und die Möglichkeit militärischer Missverständnisse erörtert werden. Dieser Austausch könnte zu neuen Vereinbarungen führen, die auf dem 1972 zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion […] geschlossenen Abkommen über die Verhütung von Zwischenfällen auf See aufbauen und regeln, wie Kriegsschiffe und Flugzeuge der NATO und Russlands in gegenseitiger Nähe operieren.“
    (Sergey Rogov, Direktor des Instituts für US- und Kanadastudien der Russischen Akademie der Wissenschaften; Adam Thomson, Direktor des European Leadership Network; Alexander Vershbow, früherer Ständiger Vertreter der USA bei der NATO und nachmaliger US-Botschafter in Russland)
  • „Es ist an der Zeit, den im Rahmen des Abkommens von 2002 eingerichteten NATO-Russland-Rat (NRC) in ein richtiges militärisches Verbindungsbüro umzuwandeln, das den Auftrag hat, Zwischenfälle zwischen den Streitkräften beider Seiten zu Lande, zu Wasser und in der Luft zu verhindern und, sollte es zu solchen Zwischenfällen kommen, deren Eskalation zu verhindern.“
    (Dmitri Trenin, Leiter Carnegie Moscow Center)

Allerdings, um es mit Brecht zusagen: „Kein Vormarsch ist so schwer wie der zurück zur Vernunft.“

* – Heute, nur wenige Monate später, wird die russische Angabe zur Wirksamkeit von „Sputnik V“ (91,6 Prozent) international nicht mehr ernsthaft bezweifelt. Selbst die Bundeskanzlerin sprach von „guten Daten“, und während man hierzulande wie in der EU noch über Schuldfragen im Hinblick auf Mängel der eigenen Impfstrategien (inklusive Vakzinbestellungen) debattiert, wird in etwa 20 Ländern bereits mit „Sputnik V“ immunisiert.