24. Jahrgang | Nummer 2 | 18. Januar 2021

Polens Kirche

von Jan Opal, Gniezno

Vom großen Einfluss der katholischen Kirche Polens auf Politik und Gesellschaft zu sprechen hieße, Eulen nach Athen zu tragen. Dennoch lohnt ein kurzer Blick zur Verständigung, denn die verschreckenden Zuspitzungen der letzten Jahre wären ohne das Wirken der Kirchenoberen gar nicht möglich. Außerdem ist das Zweckbündnis zwischen Kirche und einer herausgehobenen, sich selbst als sehr christlich verstehenden politischen Partei nirgends sonst in Europa so eng wie jetzt in Polen. Es liegt auf der Hand, dass der überraschende Siegeszug der Nationalkonservativen 2015, mit dem in seiner sich schnell aufzeigenden gefährlichen, weil demokratiefeindlichen Dimension kaum zu rechnen gewesen war, ohne das völlige Einschwenken der Kirchenleute auf die Linie Jarosław Kaczyńskis nicht möglich gewesen wäre. Und nur dieses Bündnis trieb den Mann an der Spitze der Nationalkonservativen zu weiteren Erfolgen. Während die gescheiten Analytiker vor allem auf Sozialpolitik und nationales Identitätsbedürfnis schielen, lachen sich diejenigen, die hinter den Kulissen gekonnt an den Fäden ziehen, kichernd ins Fäustchen.

Laut Verfassung von 1997 wäre die katholische Kirche in Polen eine Religionsgemeinschaft unter den anderen, nichts dürften Regierende tun, was sie privilegierte. Allerdings gelten seit 1998 die Festlegungen eines bereits 1993 unterzeichneten Konkordats zwischen Warschau und Rom, die weitreichende Konsequenzen haben. Unter anderem verpflichtet sich der polnische Staat, Religionsunterricht der katholischen Kirche innerhalb des normalen Unterrichts an den Schulen zuzulassen und zu bezahlen, ohne aber überhaupt noch Einfluss auf den Lehrstoff nehmen zu können. Noch weitgehender ist die Klausel, mit der sich beide Seiten verpflichten, zusammenzuarbeiten bei der Verteidigung der Institution von Ehe und Familie, die als Fundament der Gesellschaft bezeichnet werden. Eingebunden in den Gesamtrahmen des Vertragswerkes, in dem das tausendjährige, besondere Verdienst der katholischen Kirche um die Geschichte Polens sowie das Pontifikat von Johannes Paul II. gesondert hervorgehoben werden, ergibt sich die der katholischen Kirche zugebilligte Sonderstellung in allen Fragen, die als öffentliche Moral zusammengefasst werden könnten. Vor dem Beitritt zur Europäischen Union ließ sich die polnische Kirchenführung das noch einmal gesondert attestieren.

Wie weit sich das geschickt eingefädelte Schlupfloch weiten lässt, hat der Herbst 2020 gezeigt. Das faktisch von Kaczyński eingesetzte Verfassungstribunal legte den Verfassungsgrundsatz vom Schutz des menschlichen Lebens strikt nach katholischer Lehrmeinung aus, also beginnend mit der befruchteten Eizelle. Und auch viele andere Dinge in den zurückliegenden Jahren lassen sich so einordnen. Während sich die Nationalkonservativen in den ersten Regierungsjahren noch mit der eifrigen Jagd auf die öffentlichen Überreste von „Kommunismus“ begnügten, wurden sie schließlich in die entscheidende Richtung gedrängt. Die eigentliche Gefahr für das herbeigewünschte bigotte Polen gehe nicht allein von falschen Gedenktafeln, Straßennamen oder von Geschichtssymbolik aus, sondern von unter uns lebenden Menschen selbst, die bereits in ihrem Alltag das Fundament der Zivilisation rücksichtslos angreifen, also tagtäglich den subversiven Kampf führen gegen Ehe und Familie.

Wie ernst die öffentliche Hatz der Kirchenoberen gegen Lesben und Schwule, gegen Frauen gemeint ist, die nicht ihr strenges Familienbild passen, bestätigen die letzten beiden Jahre. Da wurde auf den Kanzeln von einer Regenbogenpest gesprochen, die gefährlicher sei als die bereits besiegte rote Pest, von Neomarxismus, der sich in das Regenbogengewand kleide, um unerkannt sein Zerstörungswerk zu verrichten. Ein trauriger Höhepunkt dann im Sommer 2020, als den gläubigen Schäfchen landauf, landab bedeutet wurde, dass die LGBT-Ideologie und die Gender-Ideologie – so zwei gängige Kampfausdrücke im Kaczyński-Staat – weitaus gefährlicher seien als das neuartige Corona-Virus.

Schließlich knöpfte man sich den eigentlichen Übeltäter für diese Freveltaten gegen das Zivilisationsfundament vor – Friedrich Engels. Dessen Philosophie, so der polnische Bischof Dec, sei schlimmste Menschheitsbedrohung. Engels greife in direkter Weise die Institution der Ehe und die Familie an, breche sogar die ganze Menschheit auf das Niveau degenerierter Einzelwesen herunter, die nicht mehr in der Lage seien, das gottgegebene Geschenk des Lebens weiterzutragen. Gemeint ist in erster Linie die 1884 veröffentlichte Schrift „Über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“, die übrigens in den frühen Jahren der polnischen Arbeiterbewegung zu den beliebtesten Werken gehörte.

In tiefem Gehorsam gegenüber den Gottesleuten verkündet nun Kaczyński zuletzt bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass derjenige, der sich an der katholischen Kirche vergreife, sich an Polen vergreife, dass, wenn die katholische Kirche angegriffen werde, das unabhängige und souveräne Polen angegriffen werde. Wenn Kaczyński – hier Viktor Orbán nachfolgend – von einer illiberalen Demokratie träumt, dann weiß er sich einig mit den führenden Kirchenleuten, die in dem in der EU herrschenden liberalen Zeitgeist Teufelszeug sehen und zugleich die größte Herausforderung für die angemaßte Sonderstellung vermuten. Insofern bleibt die Hoffnung, dass auch in Polen der Tag nicht fern ist, an dem Verhältnisse wie in Irland einziehen werden – nach den beiden siegreichen Volksabstimmungen für den gleichgeschlechtlichen Eheschluss und den gesetzlichen Schwangerschaftsabbruch.