24. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2021

Die Renaissance – ein göttlicher Wechselbalg

von Alfons Markuske

Die Frage nach der Bedeutung der Renaissance
in der Vorgeschichte einer zwiespältigen Moderne
ist nicht die einzige Frage, die dieses Buch stellt,
aber die wichtigste.

Bernd Roeck

Als Roecks Mammutmonographie über die Renaissance 2017 in erster Auflage – derweil sind es vier plus eine Sonderausgabe – erschien, wurde sie von der Kritik teils euphorisch aufgenommen, teils verrissen. Hymnischem wie „umfassendes Panorama von bewunderungswürdiger Fülle und kaum zuvor gelesener Vielfalt“ (Michael Rohlmann, Süddeutsche Zeitung) und „bahnbrechende[…] Geschichte“ mit „originelle[n] Antworten“ (Herfried Münkler, DIE ZEIT) standen Verdikte wie, der Autor fasse „seinen Begriff von Renaissance so, dass alles hineinpasst, was er gut findet“ (Valentin Groebner, Frankfurter Allgemeine), oder wie „teils klischeehaft, teils grotesk vergröbernd“ (Dirk Pilz, Frankfurter Rundschau) gegenüber.

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Die Renaissance war an außergewöhnlichen Künstlern ungewöhnlich reich. Michelangelo, Leonardo, Petrarca, Raffael, Brunelleschi, Dürer, Tizian, Holbein der Jüngere, Boccaccio, Bramante, Grünewald, Shakespeare … gehören zwar zu den allerbekanntesten, sind gleichwohl jedoch nur einige wenige. Auch an wissenschaftlichen Koryphäen kamen etliche zusammen: Kopernikus, Galilei, Paracelsus, Keppler … Trotzdem: War je eine Epoche europäischer Zivilisationsentwicklung in sich – natürlich mit den Kenntnissen und Erkenntnissen sowie aus der Sicht von heute – gegensätzlicher? „Der Morgen der Welt“ ist die Monographie betitelt und meint den damaligen zivilisatorischen Aufbruch Lateineuropas. Doch zugleich konstatiert der Autor: „Die Renaissance war schrecklicher, als Leonardos lächelnde Mona Lisa glauben macht.“ Und zu Montaignes 1580 erstmals erschienen Essays, Ausfluss von „niederschmetternden Zeiterfahrungen“, schreibt Roeck: „Die Texte spiegeln die Einsicht, dass der herrliche Renaissance-Mensch nicht viel mehr zustande gebracht hatte als Krieg und Glaubensstreit.“

Im Übrigen liefert der Autor für beide Pole dieser nur scheinbar antagonistischen „Einheit der Gegensätze“ und für die enorme Spannbreite dazwischen tatsächlich Illustrationen in „kaum zuvor gelesener Vielfalt“ sowie das dann doch eher nüchterne Fazit: „Die Renaissance war nicht groß, hart und klar, wie Nitzsche meinte; vielmehr, wie alle Geschichte, widersprüchlich und kompliziert.“

Insgesamt bietet Roeck aber einen faszinierenden Gesamtüberblick über diese aus zahlreichen Wurzeln entstandene und sich speisende Periode, die bereits im Selbstverständnis ihrer künstlerischen und intellektuellen Protagonisten eine Renaissance (Wiedergeburt) war – und zwar eine der griechischen und römischen Antike. „Renaissance“, so Roecks knappe Definition, „heißt Antikes in Fülle aufgreifen, es weiterdenken, Neues daraus zu entwickeln, schließlich das Alte zu überwinden.“

Zu den Wurzeln dieser Epoche zählten, um nur einige zu nennen, eine „wohlwollende Geographie“ ebenso wie „das Überleben des neuen (christlichen – A.M.) Glaubens“ durch „Bindung an die Staatsgewalt“. Unter anderem als Voraussetzung für das Anwachsen der Anzahl der Klöster („Agenturen der Überlieferung“) in Europa von etwa 1000 auf über 20.000 zwischen dem 6. und dem 15. Jahrhundert, in deren Bibliotheken schließlich jene antiken Texte von Sokrates, Platon, Aristoteles, Epikur und vielen anderen wiederaufzufinden waren, die zum geistigen Treibriemen der Renaissance wurden. Nicht minder zu deren Wurzeln zu rechnen seien nach Roeck aber auch Faktoren wie die mittelalterliche – im Resultat destruktive – deutsche Italienpolitik und nicht zuletzt, dass Latein „während des Mittelalters zum Supermedium der Gebildeten avancierte“, was Verständigung der Eliten über ethnische Sprachgrenzen hinweg ermöglichte. Und noch einen Standortvorteil hatte Lateineuropa: „seine Nachbarschaft zur muslimischen Hochkultur, die ein überreiches intellektuelles Erbe verwaltete und mehrte“. Selbst die damaligen verheerenden Pestepedemien hatten katalytische Effekte: „Das Geld der Toten blieb den Überlebenden, ganz anders als nach einem Krieg, der mit den Menschen auch deren Gut zu vernichten pflegt. Die Zinsen sanken, und da weniger Menschen zu ernähren waren als vor dem Massensterben, sanken auch die Preise für Nahrungsmittel, so dass mehr Geld für Luxusgüter verfügbar war.“ Nicht minder wurde „Geld, das die Seuchenopfer hinterlassen hatten“ zur Grundlage „einer reichen Bautätigkeit“. Um 1400 schließlich „stand der großen europäischen Renaissance ihr Möglichkeitsraum weit offen. Er reichte inzwischen von Schweden bis Polen und vor die Tore Moskaus, von Ungarn bis Spanien, Frankreich und England. Sein Zentrum bildete Italien.“ Und nun, nach fast 450 Seiten ebenso facettenreicher wie notwendiger Ein- und Hinleitung, entfaltet Bernd Roeck unter der Abschnittsüberschrift „Verwirklichung der Möglichkeiten: 1400–1600“ sein gewaltiges Renaissancepanorama, aus dessen Breite immer wieder Persönlichkeiten, Ereignisse sowie geistige und technische Innovationen hervorgehoben werden, die den Charakter der Epoche und ihre Dynamik nachhaltig geprägt haben. Allen und allem voran des Mainzer Johann Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern und Druckerpresse, durch die ab Mitte des 15. Jahrhunderts eine Revolution in der Zugänglichmachung und Verbreitung von Wissen erfolgen konnte, weil die aus China stammende, über 1000 Jahre ältere Erfindung der Herstellung von Papier sich inzwischen auch in Europa verbreitete. Für Roeck ist Gutenberg der Mann, „der die Welt mehr verändert hat als jeder Einzelne vor und – bis heute – nach ihm“. Doch auch dies nicht ohne Schattenseite: Bereits 1486, mit Erscheinen des „Hexenhammers“ des Dominikaners Heinrich Kramer, hatte „Gutenbergs Erfindung […] endgültig ihre Unschuld verloren. Zum ersten Mal war sie Terror und Tod zu Diensten.“

Und solche „Symbiosen“ von Glanz und Elend, das macht Roeck fortlaufend deutlich, waren ein konstituierendes Wesensmerkmal der Renaissance. Ein weiteres eindrückliches Beispiel liefert der Ablasshandel. Durch ihn erwirtschaftete „der Heilige Stuhl […] Mittel, die herrliche Kunst entstehen ließen. St. Peter zum Beispiel ist zu einem guten Teil aus Ablässen gemacht.“

Der besondere Reiz von Roecks Opus resultiert schließlich auch daraus, dass ihm bei der Ausarbeitung des Konzepts klargeworden war, „daß ein weiteres Überblickswerk in der ehrfurchtgebietenden Tradition Jacob Burckhardts, Peter Burkes und John Haies keine wirklich neuen Einsichten zu erschließen versprach“; daher wagte er „den Versuch, Lateineuropas Renaissance in eine vergleichende Perspektive zu rücken, um auf diese Weise ihre welthistorische Bedeutung sichtbar werden zu lassen“. Der Versuch ist gelungen. Zu den interessantesten – und zugegeben: in ihrer inhaltlichen Substanz für den Besprecher bis dato unbekanntesten – Abschnitten der Monographie zählt deren Teil IV: „Der ‚Westen‘ und der Rest“. Unter dieser manchen Gender-Verfechter vermutlich per se auf die Barrikaden treibenden Überschrift wird analysiert, warum es in anderen Teilen der Welt (der islamischen, der afrikanischen und der fernöstlichen, mit Ausnahme Japans) und auch im osmanischen sowie im zaristischen Imperium zu keinem vergleichbaren Aufbruch wie dem der Renaissance mit ihren bis in die Gegenwart wirkenden Weichenstellungen für den Start Lateineuropas in die wirtschaftliche und zivilisatorische Moderne gekommen ist und warum sich das „eigentliche ‚Taufbecken unserer Moderne‘ […], anders als Achille Mbembe meint, nicht (oder erst in zweiter Linie) in der Region des atlantischen Sklavenhandels“ fand.

Man muss auch dabei der Sichtweise Roecks nicht folgen, doch die von ihm unterbreiteten Fakten und Quellen sowie seine Analyse derselben entfalten ihren ganz eigenen Sog.

Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, C.H. Beck, Sonderausgabe München 2019, 1306 Seiten, 29,95 Euro.