24. Jahrgang | Nummer 2 | 18. Januar 2021

Alte Ostpolitik

von Klaus Joachim Herrmann

Mit dem Sturm des Kapitols in Washington habe Trump das „größte seiner zahlreichen Geschenke an Putin“ gemacht, zitierte die russische Agentur RIA Novosti die US-Spitzen-Demokratin Nancy Pelosi. Die Sprecherin des Repräsentantenhauses nannte den höchst widerwillig scheidenden US-Präsidenten ein „Instrument“ des russischen Staatschefs, der die Demokratie in der Welt schwächen wolle. Sie hatte damit ganz im Sinne früherer Attacken ihre beiden ärgsten Feinde zu üblen Komplizen erklärt. Damit wären Donald Trump und Wladimir Putin gleichermaßen schuldig an den gewalttätigen Turbulenzen US-amerikanischer Innenpolitik. Das offenbart eine Weltsicht der 80-Jährigen, die unverkennbar geprägt ist vom Geist des Kalten Krieges.

Moskau und auch Peking hatten sich demonstrativ zurückgehalten. Putin feierte das orthodoxe Weihnachtsfest. Um ihn als Bösewicht ins Spiel zu bringen, taugten im offiziellen deutschen Fernsehen Bilder vom Gottesdienst mit Kerze und keine Stellungnahme des Kremlchefs nicht. Dafür behalf sich Außenminister Heiko Maas mit der vagen Vermutung, „Feinde der Demokratie“ in Moskau und Peking würden sich über die „unfassbaren Bilder“ aus Washington freuen.

Russlands Außenamtssprecherin Maria Sacharowa wünschte dem amerikanischen Volk hingegen, „dass es diesen dramatischen Moment der eigenen Geschichte mit Würde übersteht“. Einen Hinweis auf das „archaische Wahlsystem“ der Supermacht, das „nicht heutigen demokratischen Standards“ entspreche, mochte sie sich aber nicht verkneifen. Der lag im Falle einer auf Postkutschen und reitenden Boten fußenden Übermittlung von Wahlergebnissen nicht so fern.

„Ich fragte mich immer wieder, wann sie Russland die Schuld geben würden, und schließlich fühlte ich mich besser“, quittierte im Forum der Zeitung Moskowski Komsomolez Mila Jurjewa. Leser Boris meinte zu Pelosis Anklage schlicht, da habe einfach jemand „völlig den Verstand verloren“. Waren schon das jene „hämische Reaktion“ und jene „Schadenfreude“, die der deutsche Spiegel in „China, Russland und anderen autoritären Staaten“ entdeckt zu haben glaubte?

Erwartet hatte die Anschuldigungen gegen „natürlich“ Russland und auch China Senator Andrej Klimow. Der Mythos, dass sie Ursache aller Übel seien, werde genährt. Seinerseits hatte Klimow Tage zuvor als Vorsitzender der Souveränitäts-Kommission des Föderationsrates aufgelistet, dass just die USA jährlich mehr als drei Milliarden Dollar für die Einmischung vornehmlich in Russland und anderen Staaten aufwenden. Bis zu 500 Offiziere der CIA seien mit Planungen gegen sein Land beschäftigt.

Dafür, dass eine Fixierung auf die „russische Gefahr“ nicht gut gehen muss, steht der Schreckensruf „Die Russen kommen!“. Im Frühjahr 1949 stürzte sein Urheber, US-Verteidigungsminister James Forrestal, aus einem 16. Stock in den Tod. Mit einer „Besessenheit ohnegleichen“ , vermerkt der Spiegel 1964, habe er sich der „russischen Frage“ gewidmet. „Er führte einen harten Kampf gegen die naiven Russland-Romantiker des Kabinetts.“

Damit blieb er nicht allein. Das Schmähwort vom „Reich des Bösen“ für die Sowjetunion brachte der republikanische Präsident Ronald Reagan 1983 in die Welt. Mit kalter Leidenschaft setzt auch die frühere Außenministerin und gescheiterte demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton das russophobe Werk fort. Sie twitterte am 28. Februar 2018 allen Ernstes, dass die Russen „noch immer kommen“. (I say this as a former Secretary of State and as an American: the Russians are still coming.)

So schrillten Alarmglocken, als örtliche Medien im Dezember 2020 vermeldeten, eine nach dem Sturm des Kapitols in Washington während der Ausgangssperre festgenommene Frau habe einen Russisch-Dolmetscher verlangt. Die russische Botschaft reagierte angesichts drohender Panik lieber unverzüglich. Sie habe beim Außenministerium nach verhafteten oder verletzten Staatsbürgern gefragt, es lägen aber keinerlei Fakten vor. Die lauteten: die verhaftete russischsprachige Jewgenia Malimon sei gebürtig aus Moldowa, ihre Tochter Kristina Vizevorsitzende der „jungen Republikaner Oregons“. Beide lebten in Portland. Der Moskowski Komsomolez illustrierte seinen Beitrag mit einem Foto. Das zeigt die 28-jährige Trump-Aktivistin Kristina mit einem Plakat, das nach Art der Hauptlosung ihres gerade noch Präsidenten zum Gebet ruft: „Make America pray again“.

Es wäre eine Erinnerung wert, dass auch Moskau einen Sturm des Parlaments erlitt. Das wurde 1993 mit Panzersalven aus seinem Amtssitz im dortigen Weißen Haus geschossen, weil es dem Präsidenten Boris Jelzin im Wege war. Dessen Vorgehen gilt im Westen als akzeptable Durchsetzung von Demokratie. Überaus freundliche Beziehungen Washingtons und Berlins, namentlich von Präsident Bill und First Lady Hillary Clinton sowie Kanzler Helmut Kohl, mit dem damaligen Sieger wurden von dem blutigen Vorgang niemals beschwert.

Seit Russland unter Präsident Putin zur Bestimmung und Durchsetzung eigener Interessen zurückfand, ist die deutsche Bundesrepublik alles andere als zimperlich. Unter Hinweis auf dem Kreml zugeordnete Vorgänge wie Ukraine-Krise, Krim-Übernahme, Chemiewaffen in Syrien, Vergiftungen oder Mord im Tiergarten setzt es bittere Anklagen, Schuldsprüche und Strafaktionen. Sanktionen werden seit 2014 in trauter Gemeinsamkeit mit den USA und der EU verhängt, verlängert und ausgeweitet. Moskau zahlt „spiegelbildlich“ mit gleicher Münze heim. Dort werden ungerechtes und unangemessenes Vorgehen sowie vor allem angesichts des NATO-Vormarsches in die Staaten der früheren Sowjetunion und damit an die Grenzen Russlands Wortbruch und Aggressivität beklagt.

Beim Kampf um North Stream 2 widersteht die deutsche Spitzenpolitik harschen US-Befehlen bislang überraschend mannhaft. Zu stark ist noch das Interesse an zuverlässiger Energieversorgung und der Preis für Frackinggas zu hoch. Eine dunkle Erinnerung könnte ungewohnte Widerborstigkeit gegen die Führungsmacht befördern. Denn ein Röhrenembargo von den USA 1963 auf Kosten der Bundesrepublik gegen die Sowjetunion durchgesetzt, brachte nur Vertrauensverlust und keine nennenswerte Wirkung. Das Öl floss dann trotzdem durch Polen in die DDR. Bei einem weiteren Röhrengeschäft 1982 für den Transport von Erdgas aus Sibirien verweigerten sich europäische Staaten der Boykottforderung von Präsident Ronald Reagan. Bundeskanzler Helmut Schmidt verwies damals – auch heute noch lehrreich – auf die geografische Lage der Bundesrepublik und die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs. Die würden ein nachbarschaftliches Verhältnis zu den osteuropäischen Staaten notwendig machen. Das wäre heute wieder neue Ostpolitik.

Denn wenn Deutschlands Außenminister Heiko Maas auch sagt, an einer Eiszeit könne „keiner ein Interesse“ haben, geht es schon längst genau darum und um sehr alte gescheiterte „Ostpolitik“. Die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer möchte verantwortungslos und geschichtsvergessen – nachzulesen im Protokoll der Bundestagssitzung vom 25. November 2020 – gar „aus einer Position der Stärke heraus in alter deutscher Tradition“ Verhandlungen mit Russland führen. Es sei die „ Bedrohung sehr viel evidenter geworden“.

Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu erinnerte sich, dass schon die zweite deutsche Amtskollegin derartiges äußere. Vorgängerin Ursula von der Leyen hatte er 2018 geraten, einmal über Geschichte nachzudenken. Mit Blick auf den deutschen Überfall, 28 Millionen Tote und den sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg empfahl er: „Fragen Sie Ihre Großväter, was es bedeutet, aus einer Position der Stärke heraus mit uns zu sprechen.“ Nach allem, „was Deutschland unserem Land angetan hat, sollte man dort noch 200 Jahre lang nichts zu diesem Thema sagen“.

Das wäre vorerst wohl auch Antwort genug auf das offizielle deutsche Streben nach einer ständigen Mitgliedschaft im UNO-Sicherheitsrat. Als die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges 1945 den Rat formierten und sich mit Vetorecht ausstatteten, fanden das geschlagene Deutschland und sein Bündnispartner Japan in die UNO-Charta Eingang als „Feindstaaten“. Jetzt machte UNO-Botschafter Christoph Heusgen geltend, der Rat sei reformbedürftig, „weil er die Welt und die Machtverhältnisse auf der Welt heute nicht mehr so widerspiegelt, wie wir uns das wünschen“. Zudem würde er Deutschland gern mit dem Hinweis in das Gremium einkaufen, „wir sind der zweitgrößte Geber für das gesamte UN-System“.

Allerdings verdiente sich Heusgen nach zweijähriger „nichtständiger“ Mitgliedschaft im Weltsicherheitsrat mit seinem sogar laut Spiegel allzu „selbstbewussten Auftreten“, das „nicht überall gut ankam“, einen wohl beispiellosen Abgang. Der chinesische Vertreter Geng Shuang war erleichtert: „Aus tiefstem Herzen: ein Glück, dass wir Sie los sind.“ Der russische Vize-Botschafter Dmitri Poljanski rief hinterher: „Sie werden uns nicht fehlen.“ Ohne Moskau und Peking, Geschichtsbewusstsein und eine neue Ostpolitik wird aus dem deutschen Traum wohl eher nichts.