Verehrter Alexander Grigorjewitsch, vor allem ein Gruß von Wladimir Wladimirowitsch“, lautete die anscheinend freundliche Botschaft aus Moskau an den bedrängten belarussischen Staatschef Lukaschenko. Doch dessen Freude darüber dürfte nicht ungetrübt geblieben sein. Denn bei seinem Besuch in der Hauptstadt des slawischen Bruderstaates überbrachte der russische Außenminister Sergej Lawrow Ende November keine Liebesgrüße aus Moskau, sondern eine unverhüllte Mahnung des Kremlchefs: „ Er hat alles bestätigt, worüber Sie sich früher mit ihm geeinigt haben, besonders ihre Übereinkünfte, die während des Besuches in Sotschi erreicht wurden.“
Das war der offiziellen Agentur TASS die Erläuterung wert, dass Lukaschenko selbst erklärt habe, dass das gesellschaftliche System seines Landes „teilweise autoritären Charakter trägt und ein System notwendig ist, das nicht verbunden sei mit der Persönlichkeit des Präsidenten“. Diplomatischer hätte dessen diktatorische Selbstherrschaft kaum umschrieben werden können. Von dieser mag er aber nicht lassen und nicht einmal mit politischen Gegnern auch nur sprechen. Lieber geht er vor friedlichen Massenprotesten gegen die gezinkten Wahlen von Anfang August hinter Wasserwerfern und vermummt dreinschlagenden Sicherheitskräften in Deckung. So werde er die Liebe des Volkes nicht zurückgewinnen, kommentieren Kritiker.
Auch für Hoffnungen angesichts erneut verbreiteter höchst unbestimmter Verheißungen eines ungewissen Wandels und des Abschieds aus dem Präsidentenpalast ist es längst zu spät. Die Ankündigung einer Verfassungsreform zur Einschränkung der präsidialen Allmacht und einer Übertragung von Vollmachten an Parlament und Regierung hat weder Zeitplan noch Programm, keine Verbindlichkeit und schon gar keine Gewissheit. Der als Kreml-Kenner geltende russische Historiker Waleri Solowja meint, Lukaschenko werde bis Herbst 2021 gehen, wolle aber vorgezogene Wahlen zu seinen Bedingungen sichern. Andere Schätzungen reichen von „in nächster Zeit“ bis zum Jahre 2025.
Lukaschenko selbst quittierte die Moskauer Mahnung mit dem Hinweis, er werde unter einer neuen Verfassung nicht mehr Präsident sein. Es braucht freilich einige Einfalt, darin Rückzugsbereitschaft zu erkennen. Denn zur selbstgefälligen Dreistigkeit des 66-Jährigen, der Wahlen ganz nach eigenem Geschmack gestaltet, gehört die Versicherung, er wolle keine Wahlfälschung unter Berufung auf das neue Grundgesetz zulassen. Abnehmen darf man ihm freilich, dass er kein Befürworter der neuen Verfassung sei, weil er etwa an Demokratie glaube. Vielmehr fürchte er, dass „ein anderer Mensch“ – als er also – das Land unter der jetzigen Verfassung führen könne: „Einem unbekannten Präsidenten darf man diese Verfassung nicht überlassen. Das gibt ein Unglück“, zitierte die russische Wirtschaftszeitung RBK von einem Besuch des Langzeitstaatschefs in einem der städtischen Krankenhäuser in Minsk.
Doch „Lawrow brachte den ‚Schwarzen Fleck‘ aus dem Kreml“, bemühte das oppositionelle Portal charter97.org ein Symbol aus der legendären „Schatzinsel“ von Robert Louis Stevenson. Wird der dunkle Fleck auf einem Stück Papier oder Leinen einem Piraten gezeigt, ist das die Verheißung seines nahenden Todes. Das kann in diesem Falle auch ein politischer sein. „Lawrow ist auffallend ernst, ohne Lächeln oder Nicken als Zeichen der Zustimmung. Er kommt sofort zur Sache“, schildert der Berichterstatter des russischen Senders Kommersant FM das Treffen. „Moskau hat Lukaschenko vorgeschlagen ‚im Guten‘ zu gehen, dieser hat abgelehnt“, kommentiert Dmitri Drise.
Moskau habe erkannt, dass Lukaschenko seine Versprechen nicht erfüllen wolle, stellte Arseni Siwitzki, Direktor des Minsker Zentrums für strategische und außenpolitische Forschungen, fest. Der Präsident fühle sich weiterhin als Herr der Lage und der künftigen Umgestaltungen. Moskau verstehe jedoch unter Verfassungsreform den Ausschluss Lukaschenkos aus dem politischen Leben Belorusslands. Da tat die nochmalige Erinnerung durch den Chefdiplomaten des großen Nachbarn an die Verfassungsreform und eine „Modernisierung des politischen Systems“ wahrlich not. Das vom amtierenden Präsidenten dominierte hat den wichtigen Verbündeten zuletzt allzu stark erschüttert.
Wenn auch nicht dessen Chef, so soll aber doch Belarus unbedingt im festen Bunde mit Russland bleiben – als militärische Vorfeldsicherung gegen eine Einkreisung durch die NATO und als politische gegen die strategisch vorrückende Europäische Union im Zeichen der Östlichen Partnerschaft. Mit beiden Blöcken hat Lukaschenko immer wieder gern kokettiert. Das nannte er dann seine „multivektorale Außenpolitik“, in der auch erklärte russische Widersacher ihren geachteten Platz fanden. Jetzt schwenkte der angeschlagene Mann aus Minsk auf Gegenkurs: Die USA strebten nach Alleinherrschaft über die Welt, und der Westen habe sich gegen sein Land verschworen.
Moskau halte sich zurück und gehe auf diplomatische Weise vor, verstärke aber doch offensichtlich den Druck auf Minsk, vermerken Beobachter. Schon die Visite des Chefs des russischen Auslandsgeheimdienstes, Sergej Naryschkin, im Oktober in Minsk habe wachsendes Moskauer Misstrauen offenbart. Lukaschenko wolle den Plan nicht erfüllen, den ihm der Kreml gewiesen habe, sondern nach eigenem Gutdünken vorgehen, schrieb der Strategieforscher Siwitzki. Der sofortige Transit der Macht, den Moskau fordere, sei dabei nicht vorgesehen.
Wenn sich Moskau demonstrativ gegen ausländische Einmischung in Belarus stark macht und selbst formell die Etikette wahrt, geht es doch schon lange nicht mehr ohne seine eigene Beteiligung ab. Zu fest geknüpft sind die vertraglichen Bande auf wohl allen Gebieten, zu eng auch die persönlichen Bindungen. So wächst die Enttäuschung der Opposition in Belarus, von den slawischen Brüdern und Schwestern im Aufbegehren gegen „Väterchen“ Lukaschenkos Diktatur im Stich gelassen zu werden, mit jeder Verhaftung und jedem niedergeschlagenen Protest. Mit solchen Losungen auf zahlreichen kleinen Kundgebungen und in sozialen Medien war der Gast aus Moskau gegrüßt worden: „Lawrow, sei ein Freund Belorusslands! Pack Sascha in den Koffer und schaff ihn nach Rostow!“ – „Lawrow, wenn Du den Einen unterstützt, lässt Du die Mehrheit im Stich!“ – „Putin, mit wem bist Du?“
Die Antwort steht nicht in den Sternen. Sonst hätte sich die Zahl der belarussischen Anhänger einer Union mit Russland allein im Monat November gegenüber dem September kaum deutlich verringert, wie die Soziologen der Belarussischen Analytischen Werkstatt (BAM) ermittelten. Deren Chef Andrej Wardomatzki sprach bereits von einem neuen Trend, der „in Zukunft geopolitische Spannungen im Verhältnis mit Russland“ hervorrufen könnte. Für einen Verbleib in der Union mit Russland sprachen sich Anfang November 40 Prozent aus, im September waren es noch 51,6 Prozent. Für eine pro-europäische Orientierung hingegen votierten statt 26,7 Prozent im September 33 Prozent im November. Die Veränderung sieht Wardomatzki darin begründet, dass erst jetzt die Gesellschaft die Schritte Moskaus zur Unterstützung Lukaschenkos reflektiere. Hätten bei den Protesten zuerst der Umgang mit der Pandemie, die Wahlfälschung, die Brutalität und nicht die geopolitische Ausrichtung eine Rolle gespielt, sei es nun zu einer „verspäteten Reaktion“ gekommen.
Die trifft auch Präsident Putin. Der Umgang mit dem slawischen Nachbarn, der sich in besserer Zeit auch schon zum Eishockey-Match mit Putin traf, erweist sich zunehmend als rufschädigend. Der russische Journalist Nikolai Swanidse bringt im Sender Echo Moskwy direkt mit ihm sinkende Zustimmungsraten des Kremlchefs in Verbindung. Die Proteste waren in den ersten Wochen allein gegen Lukaschenko gerichtet, waren „absolut nicht antirussisch“. Doch Putin unterstütze ihn, das lasse „sein Ansehen nicht steigen“. Denn auch der Machtapparat blicke auf Putin – und wenn dieser Lukaschenko nicht aufgebe, werde er auch weiterhin von Polizei, Geheimdienst und Armee gestützt. Gewiss dürfte sein, dass Putin nur solange mit Lukaschenko kooperiert, bis er eine Alternative gefunden habe. Diese sei nicht westlich, sondern auf Moskau orientiert.
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