Der Nachwahl-Krimi läuft noch, wenn auch mehr oder weniger auf Sparflamme. Nach wie vor müht sich der noch amtierende Präsident, der sich keineswegs als lame duck fühlt, seine Niederlage in einen Sieg umzumünzen. Donald Trumps Rundumschlägen fallen selbst eigene Leute zum Opfer, wie Anfang November, als er die politische Führungsspitze des Pentagons feuerte. Die Welt, vielleicht außer dem slowenischen Ministerpräsidenten, stellt sich indes auf den gewählten Präsidenten ein. Immer mehr wird gerätselt, was man von der Außenpolitik eines Joe Biden zu erwarten hat. Während internationale Fragen im Wahlkampf kaum eine Rolle spielten, beschäftigten sich diverse online-Diskussionsrunden sofort nach Schließung der Wahllokale mit dem Thema – von Deutscher Atlantischer Gesellschaft, German Marshall Fund und Atlantic Council bis zu den Stiftungen von Bundestagsparteien.
Wie ein roter Faden zogen sich durch die meisten Diskussionen vor allem drei Fragen, die Ekkehard Brose, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, bereits vor den Wahlen als Schwerpunkte für „Europa“ bezeichnet hatte: Wie halten wir´s mit China? Welche NATO wollen wir? Die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit Europas stärken, aber wie? Wohlgemerkt: Man spricht hier zwar von „Europa“, meint jedoch die europäischen NATO-Mitglieder und die EU.
In Washington werde China als „bedeutender Rivale“ betrachtet, im Kongress bestehe Konsens, dass man stärker gegen Peking vorgehen müsse, hob Victoria Nuland hervor, die unter Barack Obama im State Department für Europa und Eurasien zuständig war und für einen hohen außenpolitischen Posten auch in der Biden-Regierung im Gespräch ist. Biden werde den Verbündeten diesbezüglich sehr viel abverlangen. Das gelte natürlich für beide „Autokratien“, also auch für Russland. Viele europäische Diskussionsteilnehmer sahen das nicht viel anders, machten aber auch deutlich, dass man zwar Peking als Hauptwettbewerber ansehe, trotz aller Widersprüche aber auch – vor allem wirtschaftlich – als Partner brauche. China sei einfach zu groß und zu mächtig, als dass man es isolieren könne, betonte der frühere Bundesaußenminister Joschka Fischer diese Differenz zu Washington.
Nuland wie auch andere USA-Vertreter ließen erkennen, dass man ein stärkeres militärisches Engagement der Verbündeten erwarte, wobei Washington durchaus flexibel im Hinblick auf eine militärische Stärkung der EU sei; es gehe schließlich um den europäischen Pfeiler der NATO. Wichtig wären höhere Militärausgaben. Man müsse nun „proaktiv“ vorgehen – lies: den Forderungen einer Biden-Regierung entgegenkommen – und „mehr tun“, um „relevant“ zu bleiben, lautet der Grundtenor vieler Politiker und Experten der europäischen Bündnispartner. Zu eingegangenen Verpflichtungen müsse man stehen, vor allem dem NATO-Ziel, die Rüstungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Schließlich gehe es nun um einen „Neustart“ der NATO. Aufgeworfen wurde gar die Idee, man könne durch verstärkte eigene „konventionelle Fähigkeiten“ die USA in Europa entlasten, sodass die im asiatisch-pazifischen Bereich zulegen könnten. Die Corona-Pandemie hätte „Lücken in der Verteidigung“ gezeigt, meinten vor allem NATO-Militärs. Um die Resilienz zu stärken, seien auch hier mehr Anstrengungen vonnöten.
Mitunter klang allerdings eine Sorge an: Die Bevölkerung könnte solche Bestrebungen nicht mittragen, eine neue Friedensbewegung sei nicht auszuschließen. Joschka Fischer spürte in Deutschland „eine tief sitzende Aversion gegen das Militärische“. Einige Transatlantiker machten keinen Hehl aus ihrem Missvergnügen über jüngste Äußerungen von SPD-Politikern, insbesondere Fraktionschef Rolf Mützenich, zur nuklearen Teilhabe. Zum Thema befragt, vermied Tobias Lindner, Sprecher für Sicherheitspolitik und Obmann der FDP-Bundestagsfraktion im Verteidigungsausschuss, eine klare Antwort. Jedenfalls sei der nukleare Schirm der USA für Deutschland wichtig. Lindners militärpolitischen Ausführungen ließen erkennen, dass seine Partei nach den nächsten Wahlen als „Königsmacher“ für die CDU/CSU bereitsteht.
Unter den europäischen Vertretern wurden in puncto Verteidigung zwei Richtungen deutlich: Während vor allem französische Diplomaten die strategische Autonomie der EU betonten, legten Experten aus Polen und Litauen besonderen Wert auf die Präsenz der USA in Europa. Ausgehend von der Forderung, Russland müsse verstärkt abgeschreckt werden, kritisierten sie den strategischen Dialog Paris – Moskau. Zu einem Schlagabtausch kam es auch zwischen Vertretern Frankreichs und der Türkei im Hinblick auf das östliche Mittelmeer, aber auch den Ausbau der Verteidigungsindustrie im Rahmen der EU, wo Ankara ausgeschlossen werde.
Bei aller Erleichterung über den bevorstehenden Abgang Trumps äußerten europäische Vertreter, dass es auch mit einem Präsidenten Biden trotz dessen konzilianten Tones nicht einfach werde. Das betreffe unter anderem Handelskonflikte und die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2, meinte der Transatlantik-Koordinator der Bundesregierung Peter Beyer (CDU). Allerdings gehe er davon aus, dass die Pipeline zu Ende gebaut wird.
Sowohl US-amerikanische als auch europäische Diskutanten äußerten die Erwartung, dass die neue USA-Regierung sehr rasch wieder dem Pariser Klima-Abkommen und der WHO beitreten werde. Das gelte auch für die Verlängerung des New-START-Abkommens und die Wiederaufnahme des Atomabkommens mit Iran. Allerdings müsse man sich im Hinblick auf Iran angesichts der dortigen Präsidentschaftswahlen im Juni nächsten Jahres beeilen. Zugleich klangen Befürchtungen an, dass ein vorheriges Bombardement iranischer Anlagen durch die Trump-Regierung nicht auszuschließen sei. Nicht umsonst hätte Außenminister Mike Pompeo kürzlich Israel besucht; auch Ministerpräsident Benjamin Netanyahu könne möglicherweise das „Fenster der Möglichkeit“ nutzen, das die letzten Wochen der Präsidentschaft Trumps bieten.
Fazit: In etlichen Diskussionsrunden wurden Bidens außenpolitischer Kurs und mögliche Reaktionen der europäischen Verbündeten erörtert, teilweise in „vorauseilendem Gehorsam“. Im Vordergrund stand der militärische Faktor, sodass man mitunter den Eindruck gewinnen konnte, es gehe um einen „Kalten Krieg 2.0“. Davon unterschieden sich Tagungen wie die der Linksfraktion im Bundestag über gemeinsame Sicherheit in Europa oder die des Deutsch-Russischen Forums über die Zukunft der Beziehungen Russland – USA. Deutschland dürfe nicht die Rolle der USA in Europa übernehmen, forderte Gregor Gysi, außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion. Biden und die Demokraten würden das klassische Feindbild Russland weiter pflegen, schätzte Frank Elbe ein, unter Außenminister Genscher Chef des Planungsstabes im Auswärtigen Amt, später Botschafter in Indien, Japan, Polen und der Schweiz. Die Europäer hätten das Recht, von den USA eine berechenbare Außenpolitik und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu verlangen. Trotz aller Probleme müsse am Ziel eines gemeinsamen Sicherheitsraumes von Vancouver bis Wladiwostok festgehalten werden, schlussfolgerte das Forum der Linksfraktion.
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