Die Covid-19-Pandemie und die zu ihrer Eindämmung ergriffenen Maßnahmen haben die Weltwirtschaft im Frühjahr 2020 in eine tiefe Rezession gestürzt. In Deutschland war im zweiten Quartal 2020 der stärkste Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts seit Beginn der Erstellung vierteljährlicher Zeitreihen zu verzeichnen. Auf das Jahr hochgerechnet wird mit einem Rückgang des BIP von bis zu sieben Prozent gerechnet. Obwohl inzwischen von einer raschen Erholung ausgegangen wird, ist es wahrscheinlich, dass mittelfristig durch die Pandemie nicht nur der Konjunkturverlauf, sondern auch die strukturelle Entwicklung und die Ressourcenverteilung beeinträchtigt werden. Kennzeichnend dafür ist ein branchenbezogen und regional heterogenes Bild, wie es für die Konjunkturindikatoren gezeichnet wird. So brachen die Produktion und der Umsatz in exportorientierten Branchen und deren Standorten deutlich stärker ein als in der Binnenwirtschaft und waren Unternehmen der Tourismusbranche, des Gaststätten- und Hotelgewerbes sowie der Verkehrswirtschaft stärker betroffen als andere Produktions- und Dienstleistungsbetriebe. Dies hat für die einzelnen Bundesländer und Regionen unterschiedliche Auswirkungen. Nicht zuletzt aber wird davon auch die Ost-West-Diskrepanz in den Wirtschafts- und Sozialdaten tangiert.
Da sich die Pandemie über alle Regionen ausgebreitet hat und in allen Bundesländern Maßnahmen zu ihrer Eindämmung getroffen wurden, überlagern die damit verbundenen Effekte die Unterschiede, die nach wie vor zwischen Ost und West im Niveau und in der wirtschaftlichen Dynamik bestehen. Dies führt mitunter zu fehlerhaften Eindrücken, was die Folgen der Pandemie für die neuen und die alten Bundesländer anbelangt. So ist es eine Tatsache, dass sich die Ausbreitung der Pandemie in den „neuen“ Ländern langsamer vollzog und die Fallzahlen (Infizierte und Todesfälle), gemessen an den Einwohnerzahlen, spürbar geringer sind als in Westdeutschland. Die Quote der Infizierten, die derzeit im Bundesdurchschnitt bei 0,33 Prozent liegt, in Bayern aber bei 0,49, erreichte im Osten nur 0,15 Prozent, in Sachsen-Anhalt sogar nur 0,11 Prozent.
Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen von der geringeren Einwohnerdichte und Urbanisierung bis zu dem niedrigeren Anteil von Personen mit Migrationshintergrund. Es spielen aber auch andere Faktoren eine Rolle, zum Beispiel die Altersstruktur, die Lebensweise, die Mobilität, der Tourismus, die Reiseintensität und die Qualität der medizinischen Versorgung. Einige davon sind günstiger für die östlichen Bundesländer, andere ungünstiger. Es wäre jedoch ein veritabler Fehlschluss, würde man aus den niedrigeren Fallzahlen und der geringeren Mortalitätsrate im Osten schließen, dass hier auch die ökonomischen und sozialen Auswirkungen der Pandemie schwächer wären und weniger ins Gewicht fielen als im Altbundesgebiet. Dies ist mitnichten der Fall.
Ausschlaggebend dafür ist die wirtschaftlich schwächere Position der östlichen Bundesländer. Sie erlaubt es den Landesbehörden nicht, in gleichem Umfang über das bundeseinheitlich geregelte Maß hinaus Maßnahmen zu ergreifen und finanzielle Mittel bereitzustellen, wie in den finanziell besser gestellten westdeutschen Ländern, um die Unternehmen und die Bevölkerung vor den ökonomischen Auswirkungen der Pandemie zu schützen. In Verbindung mit dem Tatbestand, dass ostdeutsche Unternehmen, Selbstständige, Existenzgründer, aber auch private Haushalte, in der Regel über signifikant geringere Vermögen und Rücklagen verfügen als westdeutsche, bedeutet dies, dass sie einem vergleichsweise höheren Insolvenzrisiko ausgesetzt und in Notlagen stärker auf Unterstützung angewiesen sind als andere.
Wie jede Krise wird auch die Corona-Krise zu einer Marktbereinigung führen. Ostdeutsche Unternehmen werden davon stärker betroffen sein als westdeutsche. Dadurch wird ihr ökonomisches Gewicht innerhalb der deutschen Volkswirtschaft, das derzeit bei knapp elf Prozent liegt, weiter zurückgehen. Der Aufholprozess der ostdeutschen Wirtschaft, der ohnehin seit gut einem Jahrzehnt fast zum Erliegen gekommen ist, wird durch die Covid-19-Pandemie und deren Folgen einen zusätzlichen Dämpfer erhalten. Es steht zu befürchten, dass sich die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Integration des Ostens und seiner Bevölkerung in die bundesdeutsche Wirtschaft und Gesellschaft dadurch zusätzlich verzögert und die Diskrepanz in den Lebensverhältnissen sich verfestigen wird.
Der „Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2020“ weist aus, dass die „neuen“ Länder gegenüber den „alten“ bei der wichtigsten ökonomischen Kennziffer, dem BIP je Einwohner, zuletzt kaum mehr aufgeholt haben. Ihr Wert liegt bei 69,1 Prozent des Westniveaus. Vor fünf Jahren waren es 68 Prozent, vor zehn Jahren 66 Prozent. Etwas günstiger sind die Daten bei der Produktivität. Hier erreichten die östlichen Länder zuletzt 77 Prozent des Niveaus der westlichen. Vor zehn Jahren waren es erst 70 Prozent. Größere Fortschiritte gibt es bei den Einkommen der privaten Haushalte. Die Statistik weist als letzten Wert für den Osten 85 Prozent des Niveaus des Westens aus. 2013 waren das 83 Prozent, im Jahr 2000 knapp 80 Prozent. Extrapoliert man diese Größen und das darin zum Ausdruck kommende Veränderungstempo, so rückt die Niveauangleichung erst im Jahr 2065 in greifbare Nähe! Aber immerhin, bei der wirtschaftlichen Entwicklung wird es noch länger dauern, wenn es überhaupt jemals dazu kommt. Die veröffentlichten Daten über die Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft, deren geringere Innovativität und die im Osten rund 40 Prozent niedrigeren Ausrüstungsinvestitionen je Einwohner lassen nicht auf ein baldiges Aufholen schließen, eher auf eine Abkopplung und Zurücksetzung auf Dauer.
Am 3. Oktober 1990 vollzog sich durch Selbstauflösung der DDR und deren Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland die deutsche Vereinigung. Seitdem sind die fünf ostdeutschen Flächenländer sowie Berlin staats- wie verfassungsrechtlich integraler Bestandteil der Bundesrepublik. Trotzdem zeichnet sich Ostdeutschland weiterhin durch spezifische Merkmale aus. Dazu gehören eine besondere politische Struktur und Parteienpräsenz, wirtschaftliche und soziale Niveauunterschiede gegenüber Westdeutschland sowie mentale und kulturelle Eigenheiten der ostdeutschen Bevölkerung. Auch wenn diese Besonderheiten allmählich an Gewicht verlieren, sind die damit verbundenen sozio-ökonomischen und politischen Probleme nach wie vor aktuell. Im aktuellen „Bericht“ ist denn auch weiter von „erheblichen regionalen Disparitäten“, insbesondere „in den Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten, bei der Ausstattung mit Infrastrukturen und Angeboten der Daseinsvorsorge“ die Rede. Das verweist auf eine auch nach 30 Jahren immer noch unvollständige Integration des Beitrittsgebiets. – Es scheint so, als ob es nicht nur an den Einschränkungen durch Corona liegt, dass sich die Feierlaune der Ostdeutschen am Einheitstag in Grenzen halten wird. Es gibt an diesem Tag, dem 3. Oktober, auch sonst offenbar kaum etwas zu feiern!
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