Anders als in seinem Weltbestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von 2013, mit dem sich Thomas Piketty in die Riege der internationalen Star-Ökonomen katapultierte, verzichtet der Franzose in seinem neuen Werk „Kapital und Ideologie“ auf jegliche modellgestützte Analyse der Dynamik der Ungleichheit von Einkommens- und Vermögensverteilung. Die berühmte Formel r > g (Zinssatz > Wachstumsrate), mit der er die immer weiter aufklaffende Schere der Verteilung modellierte, kommt im neuen Werk nicht ein einziges Mal vor. Bei über 1300 Seiten Text könnte man das schon mal überlesen, aber tatsächlich: Es gibt nirgends einen Bezug darauf. Das verwundert zunächst, denn das damals verwendete Datenmaterial dient auch diesmal als empirische Grundlage und Illustration seiner Ausführungen. Es wurde aktualisiert und sowohl geografisch und zeitlich als auch inhaltlich erheblich erweitert und steht auf seiner Homepage öffentlich zur Verfügung. Es wird auch aus der frei verfügbaren World Inequality Database gespeist, einem internetbasierten Forschungsnetzwerk, in dem Piketty als einer der Co-Direktoren fungiert.
Der Titel der neuen Arbeit verkündet allerdings bereits ein deutlich verändertes Forschungsprogramm. Ihn interessieren nicht so sehr funktionale Zusammenhänge und quantitative Relationen der die Verteilung charakterisierenden ökonomischen Größen, sondern die sozialen, politischen und ideologischen Prozesse, von denen ihre Dynamik abhängig ist. Das ist zweifelsohne ein wichtiger Schritt, denn in der ersten Arbeit wird die Entwicklung der Verteilung doch etwas einseitig auf die Mechanik von Wachstumsrelationen reduziert, ohne die zugrundeliegenden sozialen Prozesse wirklich differenziert zu beleuchten. Nunmehr rückt er die Ideologie in den Mittelpunkt, sie bildet nach seiner Theorie Ausgangspunkt und Basis politischer Auseinandersetzungen und Prozesse sowie sozialer Veränderungen. Dem materialistischen Ansatz von Marx und Engels, wonach die Geschichte eine Geschichte der Klassenkämpfe ist, stellt er explizit ein anderes Credo entgegen: So wichtig soziale Positionen seien, letztlich gelte: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte des Kampfs der Ideologien und der Suche nach Gerechtigkeit.“ Was in der Geschichte zähle, seien Ideen und Ideologien sowie die sich jeweils durchsetzenden Vorstellungen davon, welche Eigentumsform und welche Verteilung gerecht seien. „Anders als der Klassenkampf beruht der Kampf der Ideologien auch auf dem gemeinsamen Wissen und geteilter Erfahrung, auf Respekt vor dem anderen, auf Absprache und Demokratie.“
Dieses geschichtsphilosophische Fazit seiner breit angelegten – manchmal auch ermüdenden – Ausführungen über die Geschichte unterschiedlichster „Ungleichheitsregime“ seit weit über 500 Jahren in verschieden Teilen der Welt bis in die unmittelbare Gegenwart ist dann aber doch überraschend. Denn was da so ausufernd geschildert wird, hat mit dem „gemeinsamen Wissen“ und „geteilter Erfahrung“, mit „Respekt“, mit „Absprache“ und „Demokratie“ kaum etwas zu tun. Zumindest der Rezensent kann von all dem weder in Pikettys Schilderungen von Kämpfen in den „dreigliedrigen Gesellschaften“ (Adel, Klerus und Bauern) vor dem Kapitalismus, weder in den Analysen von Sklavenhaltergesellschaften und Kolonialismus noch der kapitalistischen „Eigentümergesellschaften“ (Wieso soll eigentlich nur der Kapitalismus eine Eigentümergesellschaft sein?) etwas erkennen. Statt einer Geschichte von Respekt und Absprache lesen sich diese Ausführungen doch eher wie eine Illustration jenes Verdikts von Marx, wonach „das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ zur Welt gekommen sei.
Und noch etwas erstaunt: Zweifellos lässt sich geschichtliche Entwicklung nicht „deterministisch begreifen“. „Es gibt stets eine Vielzahl möglicher Wege, die sich je nach Kräfteverhältnis auftun, und in denen kurzfristige Ereignislogiken mit jenen langfristigen intellektuellen Entwicklungen zusammentreten, die oft wie ein Repertoire von Ideen wirken, auf die man im Augenblick der Krise zurückgreifen kann.“ Da ist sicher viel dran und der Rezensent stimmt auch der Aussage zu, dass in historischen Knotenpunkten und Entscheidungssituationen alternative Entwicklungsmöglichkeiten bestehen. Piketty erklärt aber nicht, warum aus der Vielzahl spezifischer regional, religiös, ethnisch oder national geprägter und scheinbar zufälliger gesellschaftlicher Konstellationen sich heute eine nahezu einheitlich vom Kapitalismus mit ähnlichen Eigentums- und Verteilungsregime (die er früher mittels der Formel r > g modelliert hatte) geprägte Welt entwickelt hat.
Völlig neu gegenüber seiner vorigen Arbeit ist die Ausarbeitung einer gesellschaftlichen Perspektive jenseits des Kapitalismus, für die er sich einsetzen würde, hätte er mehr Zeit für Debatten und Beratungen. Piketty nennt sie „partizipativen Sozialismus“, auch um dieses Projekt von jenem „hyperzentrierten Staatssozialismus zu unterscheiden, wie er […] im Dunstkreis des Sowjetkommunismus erprobt wurde.“ Ein solcher Sozialismus beruhe auf neuen Formen des Sozialeigentums, der Stimmverteilung, der Mitbestimmung und Beteiligung in Unternehmen. Das permanente Privateigentum solle durch ein „Eigentum auf Zeit“ ersetzt werden, das eine stark progressive Besteuerung großer Vermögen erfordere, um eine allgemeine Kapitalausstattung zu finanzieren und eine beständige Zirkulation der Güter und Reichtümer zu verbürgen. Mit seinem Vorschlag will Piketty das „Repertoire von Ideen“ bereichern, aus dem in den künftigen, unausweichlichen Krisen des „Hyperkapitalismus“ geschöpft werden kann. Er knüpft dabei an Erfahrungen aus dem vorigen Jahrhundert an. Nur zwei Punkte seien hier hervorgehoben. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang wurde die Ungleichheit in der Verteilung von Eigentum, Vermögen und Einkommen zurückgedrängt. Dafür seien insbesondere die Einführung von Vermögens- und Erbschaftsteuern sowie einer progressiven Einkommensteuer im Übergang und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verantwortlich. Die herrschenden Klassen reagierten damit nicht zuvörderst auf bestimmte Erfordernisse der Kapitalakkumulation, sondern auf den sozialen Druck, der von einer erstarkenden Arbeiterbewegung und – später – der Existenz einer Systemalternative ausging. Als dieser Druck nachließ, wurden die zeitweilig, heute kaum noch vorstellbar hohe Vermögensbesteuerung und die Steuerprogression erheblich zurückgenommen. An diese Erfahrung will Piketty anknüpfen und vor allem die Vermögens- und Erbschaftsteuer so hoch ansetzen, dass sie nach einiger Zeit faktisch einer Enteignung gleichkommen. Privateigentum würde somit zu einem „Eigentum auf Zeit“. Mit den gewonnenen Mitteln soll permanent eine Art Erstausstattung der Berufsanfänger mit Kapital erfolgen. Die Möglichkeiten der Bevölkerung und der Belegschaften, an den Entscheidungen innerhalb der Unternehmen teilzuhaben, sollen umfassend erweitert werden. Hier knüpft Piketty unter anderem an das Regularium der Mitbestimmung in Deutschland an, zu dessen Reform und erheblicher Erweiterung er detaillierte Vorschläge macht. Gerechtigkeit versteht er als Partizipation durch Teilhabe, Beratung und Mitbestimmung. Einen der größten Fehler antikapitalistischer Bewegungen in der Vergangenheit sieht er darin, dass die Frage des Eigentums als der zentralen Frage gesellschaftlicher Veränderungen nahezu ausschließlich in Richtung einer Überführung von Privat- in zentralisiertes Staatseigentum beantwortet wurde. Als Beleg dient ihm hierbei das Scheitern des Sozialismus im 20. Jahrhundert, den er einer ausführlichen Analyse unterzieht.
Großen Raum widmet Piketty der Frage, wie es in den 1970er Jahren zum Umschwung in der Dynamik der Verteilung gekommen ist; wieso also der Druck der arbeitnehmerorientierten Bewegungen gegen das Kapital schwächer wurde. Dazu sichtet er sehr langfristige Verschiebungen im Wahlverhalten der Bevölkerung in mehreren Ländern und unterzieht sie einer ausgefeilten statistischen Analyse. Linke Parteien (wozu er sozialdemokratische, sozialistische, kommunistische und bestimmte grüne Parteien rechnet) haben in fast allen westlichen Ländern in den letzten Jahrzehnten sukzessive an Rückhalt im Arbeitnehmerlager als ihrer traditionellen Wählerschaft verloren. Immer stärker wurden sie zu Parteien für Wähler mit höheren Bildungsabschlüssen und höheren Einkommen, die allesamt zu den Globalisierungsgewinnern zu rechnen sind. Die Brexit-Abstimmung der Briten sei dafür exemplarisch: Auf den „unteren Rängen“ hinsichtlich Bildungsgrad, Einkommen und Vermögen wurde mit überwältigender Mehrheit für „Leave“ gestimmt.
Das Buch präsentiert weit mehr Themen, als hier behandelt werden konnten. Schade, dass in die deutsche Ausgabe statt des umfangreichen Sachregisters nur ein Personenregister aufgenommen wurde. Piketty erwartet nicht, so sein Schluss, dass alle Leser mit seinen Überlegungen einverstanden sind. Ihm gehe es darum „die Debatte zu eröffnen, nicht darum, sie zu beenden.“ Das Buch habe sein Ziel erreicht, wenn das Interesse an neuen Fragen geweckt wurde, und es den Lesern ermöglicht habe, sich neue Kenntnisse anzueignen.
Thomas Piketty: Kapital und Ideologie, C. H. Beck München 2020, 1312 Seiten, 39,95 Euro.
Schlagwörter: Eigentum, Ideologie, Jürgen Leibiger, Kapital, Partizipativer Sozialismus, Thomas Piketty