23. Jahrgang | Nummer 11 | 25. Mai 2020

Europa in der Zwickmühle?

von Siegfried Fischer

Die Coronapandemie zeigt nicht nur uns Europäern, wie sehr wir Teil der Natur und wie verletzlich wir durch unsere menschengemachte Globalisierungspandemie geworden sind.

Gewinngetriebene Globalisierungsgläubigkeit hat auch europäische Politiker, Lobbyisten und Unternehmer nicht nur ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit sowie nationale und regionale Versorgungssicherheit und Versorgungsverantwortung vernachlässigen lassen, ganz zu schweigen von der Missachtung des geografischen Impetus eines eurasischen Wirtschaftsraums von Lissabon bis Vladivostok.

Man muss nicht unbedingt „The Grand Chessboard – American Primacy and Its Geostrategic Imperatives“ von Zbigniev Brzezinski gelesen haben, um zu verstehen, wie wichtig es für die USA ist, die europäische Kernzone, bestehend aus Frankreich, Deutschland, Polen und der Ukraine, zu spalten, und wie umkämpft der eurasische Wirtschaftsraum von Lissabon bis Vladivostok war und ist. Noch vor der Coronapandemie gerieten die hier ansässigen Volkswirtschaften zwischen „America First“ und „One Belt – One Road“ unter Druck.

Die massiven Eingriffe der USA in die Weltwirtschaft – sei es durch Zölle, Sanktionen oder Boykotte von internationalen Regularien – werden 2020 im Gefolge der aktuellen Wirtschaftskrise nicht weniger werden. Auch das coronageschädigte China wird seinen politisch implementierten wirtschaftlichen Aufschwung nicht ohne bekannte und neue expansive Praktiken verfolgen. Beide Global Player werden ihren eigenen Weg durch die pandemische Weltwirtschaftskrise finden. Nicht nur Deutschland wird in der Zwickmühle zwischen einer Weltmacht im Niedergang und einer Weltmacht im Aufstieg bleiben, sondern der gesamte Wirtschaftsraum zwischen Lissabon und Vladivostok; denn der ist für beide Protagonisten unverzichtbar, als beherrschbarer Lieferant und unbegrenzter Absatzmarkt; je gespaltener, desto besser.

Umso unverständlicher ist, dass es von Lissabon bis Vladivostok kein abgestimmtes oder gar gebündeltes Vorgehen gibt, weder zur Entwicklung eines Binnenmarktes, noch zum Schutz gemeinsamer außenwirtschaftlicher Interessen, geschweige denn zu einer modernen Außen-, respektive Sicherheitspolitik und Sicherheitsstruktur. Selbst in dem von der EU geprägten westlichen Teil Eurasiens offenbaren sich im Corona-Schlaglicht gefährliche sicherheits- und wirtschaftspolitische Schwachstellen und Risse einerseits zwischen den Mitgliedsstaaten im Norden und im Süden sowie andererseits zwischen diesen und den osteuropäischen Neuzugängen. Ganz zu schweigen von der massiven Ausgrenzung Russlands und der Missachtung von Kooperationsangeboten der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) durch EU-Politiker und -Parlamentarier.

Selbst die Aussage „mit Russland ja, aber nicht mit diesem“ wirkt nur noch lächerlich angesichts des Wertepatchworks innerhalb der Europäischen Union. EU-Europa hat schon lange keine Deutungshoheit mehr darüber, was Demokratie ist, wo sie beginnt und wo sie aufhört. Für die USA wiederum ist etwa die polnische Demokratievariante völlig in Ordnung, solange Polen die europäische NATO-Müdigkeit bekämpft und den antirussischen Chor in der EU anführt. Die ukrainische Theaterdemokratie wird ebenso wenig auf ihr Werte- und Rechtsverständnis hinterfragt, weil sie die militanteste Russophobie in Europa pflegt und weil sie jetzt auch offiziell den Verkauf von Grund und Boden an westliche Konzerne zulässt, um an neues Geld für die Oligarchenwirtschaft zu bekommen. Auch und erst recht in den USA ist die Demokratiefrage zum politisch-propagandistischen Popanz insbesondere in der Russlandpolitik verkommen. Als bedeutendster eurasischer Brückenstaat ist Russlands politische und wirtschaftliche Marginalisierung, koste es, was es wolle, eine wichtige Voraussetzung für die US-Dominanz gegenüber dem Hauptkonkurrenten China und gegen ein selbständigeres Europa, das sich seiner natürlichen Ressourcen von Lissabon bis Vladivostok besinnen könnte.

Warum sind die EU-Führungseliten nicht in der Lage, die coronaverschärfte Globalisierungskrise als neue Chance für eigenes verantwortungsvolles Handeln zu begreifen? Warum wird der geografische Impetus des eurasischen Wirtschaftsraums zwischen Lissabon und Vladivostok von den Leadern Alt-Europas nicht nur nicht genutzt, sondern ignoriert? Glauben diese im neoliberalen Schlaraffenland domestizierte Eliten wirklich daran, dass sie für ihre transatlantische Gefolgschaft gegen Russland mit Prosperität im EU-Bereich belohnt werden? Wollen sie Russland weiter in einen antieuropäischen nationalistischen Konservatismus drängen und wirtschaftlich in Richtung des neuen asiatischen Weltwirtschaftspols und die EU letztendlich US-amerikanischen Interessen und deren unberechenbaren Leadern unterordnen?

Noch ist die Zwickmühle nicht zugeschnappt! Es ist allerdings sehr schwer vorstellbar, dass die EU ihre politischen und wirtschaftlichen Aktiva doch noch im wohlverstandenen eigenen Interesse für eine zielstrebige Nutzung des eurasischen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Vladivostok einsetzen wird, um nicht „in 20 Jahren relativ einsam auf dieser Weltkarte“ (Platzeck) und in einer „Welt ohne Hüter“ (Münkler) zu landen.