In Polen wird erst nach Ostern entschieden, wie es weitergeht: Kommt es zu den Präsidentschaftswahlen am 10. Mai oder werden sie verschoben? Zuletzt spitzte sich das Geschehen dramatisch zu, denn erstmals seit dem Wahlsieg im Herbst 2015 konnte sich Jarosław Kaczyński seiner absoluten Mehrheit im Sejm nicht mehr sicher sein. Zudem verlor er einen seiner wichtigsten Verbündeten im nationalkonservativen Lager.
Während sich in den zurückliegenden Tagen die mahnenden Stimmen mehren, die dringend zu einer Verschiebung der Wahlen vom 10. Mai raten, während nach den Umfragen eine erdrückende Mehrheit im Lande das ebenso will, zieht Kaczyński noch einmal blank. Mit dem Argument, in Bayern hätten sie es jetzt bei den Stichwahlen auf kommunaler Ebene auch so und zudem erfolgreich gemacht, will er dem Land eine vollständige Briefwahl verordnen, um den Wahltermin zu retten. Denn den Vorwurf, dieser Wahltermin würde die Gesundheit der Bevölkerung Polens aufs Corona-Spiel setzen, will er nicht mehr gelten lassen. Die entsprechende Gesetzesänderung sollte in der letzten Sitzungswoche vor Ostern schnell und ohne weitere Diskussion den Sejm passieren, doch es kam anders.
Jarosław Gowin war der erste hochrangige Regierungsvertreter, der öffentlich den Plänen Kaczyńskis die Gefolgschaft verweigerte: Die Wahlen können nicht am 10. Mai durchgeführt werden! Kurz darauf verließ er die Regierung, erklärte den Rücktritt von allen Ämtern, beließ seine Leute aber in der Morawiecki-Regierung und in der nationalkonservativen Fraktion. Gowin war bislang Hochschul- und Wissenschaftsminister, außerdem einer der drei stellvertretenden Ministerpräsidenten. Er führt eine kleine konservative Gruppierung an, die von PiS (Recht und Gerechtigkeit) im Huckepackverfahren ins Parlament gehievt wurde und Teil der nationalkonservativen Fraktion ist. Gowin und seine Leute bildeten dort bislang den konservativen Flügel, der ohne die sonst im Regierungslager verbreitete nationalromantische Rhetorik auch ein wenig in die konservativen Teile der Opposition blinken konnte. Gowin war so der Herr einer schmalen, letzten Brücke, die über den tiefen Graben zwischen den verfeindeten Brüdern hinüberführte – allerdings war sie seit dem Herbst 2015 mehr oder weniger verrammelt. Jetzt hat Gowin mit seinem Schritt zwei Hintertürchen offengelassen, eines zum Regierungslager, das andere zur Opposition.
Gowins Fall gleicht ein wenig der sprichwörtlichen Schwalbe, die noch keinen Sommer mache. Und doch ist mit einem Schlag vieles anders geworden. Erstmals seit vielen Jahren müssen die Nationalkonservativen bei einzelnen Abgeordneten aus dem Oppositionslager ganz ungeniert um Stimmen betteln, weil sie sich ihrer Mehrheit nicht mehr sicher sein können. So hoffen sie, wenigstens die absolute Mehrheit der Stimmen für das Regierungslager zu retten. Und Ministerpräsident Mateusz Morawiecki spricht im Sejm ganz direkt davon, dass die Spitze der Viruswelle in Polen erst im Mai, womöglich sogar erst im Juni zu erwarten sei, so dass alles, was das Land jetzt bereits erlebe, nichts als ein unschuldiges Vorgeplänkel sei. Legte man diese Aussage auf die feine Waage, so wäre klar, dass auch dieser Ausblick den Vorstellungen Kaczyńskis widerspricht.
Die Opposition fordert die Verkündung des Ausnahmezustands, der faktisch bereits seit über vier Wochen herrscht. Das würde die Verlegung des Wahltermins am 10. Mai zwingend machen, das Problem also ganz nebenbei und im Interesse einer übergroßen Mehrheit im Lande lösen. Aus dem von Kaczyński geführten Regierungslager heißt es dazu, dass dann eine Welle von Regressionsforderungen auf das Land zurollen würde, weil ein Ausnahmezustand die ausländischen Konzerne dazu berechtigte. Deshalb bleibe man bei dem bewährten Mittel – es herrsche in Polen weiterhin Normalität, wenn auch eine andere als die gewohnte, eben die neue Normalität.
Doch ganz nebenbei werden nun in dieser Corona-Normalität plötzlich Weichen gestellt, an denen zuvor niemand ernsthaft zu rütteln wagte. Kaczyńskis absolute Macht innerhalb des Regierungsblocks hatte den großen Vorzug, dass er in keinerlei Verantwortung eingebunden war: Er konnte nach Belieben schalten und walten. Und umgekehrt mussten alle, die dort in politischer oder gesetzlicher Verantwortung standen, bei ihm persönlich antanzen – sie hatten zu kuschen und ihm nach dem Munde zu reden. Erst die eigenwillige Corona-Krise erschüttert dieses System in den Grundfesten, weshalb Kaczyński womöglich seinen letzten großen Strauß ausficht.
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