23. Jahrgang | Nummer 9 | 27. April 2020

Geopolitik und Kalter Krieg

von Erhard Crome

Die UdSSR war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zweite Supermacht. 1945 war sie eine der Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkrieges und stand mit ihren Truppen in der Mitte Deutschlands. Sie verfügte über nuklear-strategische Waffensysteme, die das atomare Gleichgewicht zu den USA hielten. Der Warschauer Vertrag war ein Bündnissystem, der NATO militärisch ebenbürtig. Die Sowjetunion hatte Verbündete in der Dritten Welt, ausländische Militärstützpunkte und schlagkräftige Marineverbände. Der erste künstliche Erdsatellit 1957 und der erste Mensch im All, Juri Gagarin, 1961 waren „Bürger der Sowjetunion“. Diese Macht fiel zwischen 1985 und 1991, 1991 zerbrach auch die Union in die Bestandteile ihrer Republiken, die den sozialistischen Charakter ablegten.

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Lenin hatte Recht. Russland war im Ersten Weltkrieg „das schwächste Glied“ in der Kette des imperialistischen Weltsystems. Obwohl Deutschland einen Zweifrontenkrieg führte, waren die deutschen Truppen den russischen überlegen. Das russische Volk ertrug die Hekatomben an Toten nicht mehr, nicht Hunger und Not und hatte den Polizeistaat satt. Im Februar 1917 wurde der Zar gestürzt, im Oktober siegte die sozialistische Oktoberrevolution: Für Brot und Frieden.

Die geopolitischen Folgen für Russland waren weitreichend. Polen und Finnland wurden unabhängig, auch die baltischen Republiken. Die Ukraine und Georgien erklärten sich für selbständig. Mit dem „Raubfrieden von Brest-Litowsk“ vom März 1918 musste Sowjetrussland weite Teile des Landes an Deutschland abtreten; dessen Bestimmungen waren mit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 obsolet. Allerdings war Russland mit Brest-Litowsk aus dem Ersten Weltkrieg ausgeschieden. Damit saß es 1919/20 in Versailles nicht als Sieger mit am Tisch der Friedensverhandlungen – was Wladimir Putin in einer seiner gezielt gestreuten Randbemerkungen zur russischen Geschichte den Bolschewiki negativ anlastete.

Das wiedererstandene Polen unter Marschall Pilsudski wollte die polnische Ostgrenze vor den polnischen Teilungen wieder erreichen. Sowjetrussland hatte mit der Idee des „proletarischen Internationalismus“ weite Teile des früheren Reiches wieder eingesammelt und die anti-bolschewistischen Regierungen in der Ukraine und in Georgien gestürzt. So zerfiel der russische Vielvölkerstaat nach dem Ersten Weltkrieg nicht analog zur österreichisch-ungarischen Monarchie und zum Osmanischen Reich. In Moskau herrschte noch der Furor der sozialistischen Weltrevolution, zugleich die Lagebewertung, ohne proletarische Revolution im Westen könne Sowjetrussland nicht durchhalten. So folgte 1919 der Vorstoß Richtung Ungarn, um eine Landverbindung zur dortigen Räterepublik herzustellen, und 1920 in Richtung Warschau und Berlin. Hier ging es nicht um imperialen Raumgewinn, sondern um die Weltrevolution. Beides scheiterte. Mit dem Frieden von Riga (18. März 1921) verlief die polnisch-sowjetische Grenze weit im Osten.

Waren für die sowjetische Außenpolitik nach 1917 weltrevolutionäre Ansätze bestimmend, so wurde die UdSSR nach 1945 zu einer klassischen Großmacht mit globalen Ambitionen. Der US-Historiker John Lukacs schrieb: „Im Unterschied zu Lenin, der ein Revolutionär, aber kein Staatsmann war, war Stalin ein Staatsmann und kein Revolutionär.“ Sein Ziel war es, „die Größe Russlands und seines von den Zaren geschaffenen Reiches wiederzuherstellen, die Lenin verspielt hatte“.

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Hitler ignorierte 1939 die Drohung Großbritanniens und Frankreichs, ein Überfall auf Polen würde den großen Krieg auslösen. Stalin wollte nicht „anderen die Kastanien aus dem Feuer holen“. So wurde im Sommer 1939 der „Hitler-Stalin-Pakt“ geschlossen. Ein Geheimes Zusatzprotokoll legte die Interessensphären fest. Finnland, Estland sowie Lettland, auch Litauen wurden „für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung“ der sowjetischen Interessensphäre zugeschlagen. Am 1. September 1939 begann der deutsche Überfall, am 17. September besetzten sowjetische Truppen Ostpolen. Die baltischen Republiken wurden im Sommer 1940 Sowjetrepubliken. Der Winterkrieg gegen Finnland 1939/40 bezweckte ebendies, allerdings hatten da nicht nur Großbritannien und Frankreich, sondern auch Deutschland Finnland unterstützt; der sowjetische Angriff misslang weitgehend. Durch Vereinbarungen mit Deutschland kam im Sommer 1940 auch der größte Teil Bessarabiens, das nach 1918 Rumänien zugeschlagen wurde, als Moldauische Sowjetrepublik zur UdSSR.

Nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion waren Großbritannien und die USA ihre Verbündeten. In den Verhandlungen über die Nachkriegsordnung tat die Sowjetunion nun alles, um die 1939/40 erreichten Gebietszuwächse zu sichern. Polen verlor seine 1920 errungenen Ostgebiete endgültig und wurde durch deutsche Ostgebiete entschädigt. Die Konferenzen von Jalta und Potsdam bestätigten 1945 die Westverschiebung Polens; am 16. August 1945 wurde sie auch in einem polnisch-sowjetischen Vertrag fixiert. Aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten, die nun die Westukraine und West-Belorussland waren, wurden über zwei Millionen Polen in die früher deutschen Ostgebiete umgesiedelt. Ergebnis war die Oder-Neiße-Grenze zwischen Polen und Deutschland, die in Potsdam zunächst als provisorisch festgehalten wurde. 1950 wurde sie von der DDR als verbindlich anerkannt, 1970 beziehungsweise 1972 auch von der BRD, vom vereinigten Deutschland 1990 und 1992.

In den zwanzig Jahren vor dem deutschen Überfall 1941 war in der Sowjetunion eine moderne Industrie geschaffen und das Land modernisiert worden. Das war die materielle Grundlage für den Sieg über Deutschland. Der kostete ungeheure Opfer – über 25 Millionen Sowjetbürger waren ums Leben gekommen, die deutschen Truppen hinterließen „verbrannte Erde“. Er brachte Russland (in Gestalt der Sowjetunion) jedoch einen beträchtlichen Prestige- und Machtgewinn und die politisch und militärisch stärksten Positionen seiner Geschichte, territorial bis zur Elbe. Trotz der Kriegsverluste ließ sich die UdSSR anschließend in einen globalen Zweikampf mit den USA verstricken, den Kalten Krieg.

Nachdem die Westalliierten 1945 die faktisch existierende sowjetische Westgrenze von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer anerkannt hatten, war klar, die Sowjetunion wird sich als Staat nicht ausdehnen. Weitere sozialistische Staaten blieben national-staatlich selbständig. Die westeuropäischen Mächte hatten in der Zwischenkriegszeit von Finnland, dem Baltikum und Polen bis Rumänien und Bulgarien einen „Cordon Sanitaire“, einen Streifen antikommunistischer Staaten gegen die Sowjetunion geschaffen. Im Zweiten Weltkrieg wurden diese Länder entweder von Nazi-Deutschland erobert oder waren Hitlers Verbündete. Nach 1945 zielte die sowjetische Außenpolitik darauf, hier kommunistisch geführte Regierungen an die Macht zu bringen, damit diese Länder sowjetische Verbündete sind. Jugoslawien hatte sich selbst befreit – dort kam es zu einer „autochthonen“ sozialistischen Umgestaltung; in anderen Ländern erfolgte sie gestützt auf sowjetische Truppen. Zeitgenössischen Akteuren erschien die nach 1945 mit der Sowjetunion verbundene Staatengruppe als „slawischer Block“. Nach dem Bruch Stalins mit Tito 1948 und durch die Einbeziehung der deutschen Frage, dann der DDR in die internationale Auseinandersetzung wurde dieser Kontext vergessen.

In Frankreich und Italien spielten die Kommunistischen Parteien nach 1945 wegen ihres Anteils an der Befreiung eine wichtige Rolle. Im Mai 1947 wurden sie auf Druck der USA aus der Regierung gedrängt, um den Marshallplan durchzusetzen. Die Sowjetunion lehnte den als Versuch ab, politische Abhängigkeiten von den USA zu schaffen. Im Februar 1948 wurden deshalb in der Tschechoslowakei die bürgerlichen Minister aus der Regierung gedrängt, um die Ablehnung zu sichern. Die Spaltung Europas im Zeichen des Kalten Krieges begann.

Die Zeit von 1945 bis 1990 war eine Phase politischer, wirtschaftlicher, geistiger und militärischer Auseinandersetzungen, zunächst vor allem in Europa. In Polen und Griechenland gingen bewaffnete Bürgerkriege bis 1948; sie wurden in Polen zugunsten des Realsozialismus und in Griechenland zugunsten des Westens entschieden. Die Auseinandersetzungen in und um Deutschland wurden mit der Währungsreform in den westlichen Besatzungszonen, der Blockade Westberlins durch die Sowjetunion und der Luftbrücke durch die Westalliierten, die doppelte Staatsgründung 1949 bis zum Bau der Berliner Mauer 1961 geführt. Danach lagen die politisch-militärischen Grenzlinien in Europa fest. Durch die Verträge der Sowjetunion und Polens mit der BRD (1970), das Vierseitige Abkommen über Westberlin (1971) und die Schlussakte der KSZE (1975) wurde die Lage in Europa entspannt und produzierte keine Kriegsgefahren mehr.

Charakteristisch für den Kalten Krieg blieben Kriege an der „Peripherie“ des Ost-West-Konflikts, das heißt Kriege in Asien, Afrika und Lateinamerika. Insbesondere der Korea-Krieg , die Vietnam-Kriege Frankreichs und der USA , die Kriege im Nahen Osten seit 1956, der Afghanistan-Krieg der Sowjetunion sowie seit den 1960er Jahren mehrere Kriege in Afrika und der von den USA geführte Krieg gegen die Sandinistas in Nikaragua. Das Wettrüsten als dritte Dimension der Ost-West-Auseinandersetzung, insbesondere auf nuklear-strategischem Gebiet, hatte mit der „Kuba-Krise“ 1962 seine Gefahr gezeigt.

Der Westen hat das Ende des Kalten Krieges 1989/91 als seinen Sieg interpretiert. Der „Cordon sanitaire“ gehört heute zu NATO und EU und ist wieder gegen Russland gerichtet. In einer neuen Phase globaler Machtpolitik bleibt Russland ein eigenständiger Akteur und zielt auf indirekten Einfluss, nicht auf neuerlichen Territorialgewinn. Allerdings haben die Deutschen, wie in Brest-Litowsk, wieder auf Macht in der Ukraine gesetzt. Das war vor „Corona“. Wie es danach mit der Geopolitik wird, wissen wir nicht.