23. Jahrgang | Nummer 6 | 16. März 2020

„Defender Europe 2020“ – Säbelrasseln an der NATO-Ostflanke

von Wilfried Schreiber

„Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD)
hat die Nato-Manöver in Osteuropa kritisiert und fordert
stattdessen mehr Dialog und Kooperation mit Russland.
‚Was wir jetzt nicht tun sollten, ist durch lautes Säbelrasseln
und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen‘,
sagte er der Bild am Sonntag.“

Süddeutsche Zeitung, 18.06.2016

In diesem Frühjahr wird es eng und laut auf Deutschlands Autobahnen und Straßen, besonders nachts. Da rattern nämlich amerikanische Truppentransporte auf dem Weg nach Osten. Seit Ende Januar findet unter der Bezeichnung „Defender Europe 2020“ auf europäischem Boden das seit dem Ende des Kalten Krieges größte US-Truppenmanöver statt. Es wird begleitet von sieben eigenständigen Bei-Manövern mit insgesamt 19 beteiligten NATO-Ländern und zieht sich über sieben europäische Staaten. Diese Manöverserie ist der erste große Testlauf der in den vergangenen fünf Jahren aufgebauten NATO-Kriegsinfrastruktur für einen Aufmarsch gegen Russland. Nach dem Muster der amerikanischen REFORGER-Manöver während des Kalten Krieges bis Anfang der 90er Jahre soll Defender künftig aller zwei Jahre in dieser massiven Form stattfinden.

Per Bahn, Schiffstransport, Straße und mit dem Flugzeug geht es quer durch Westeuropa über Deutschland bis dicht an die russische Grenze. Alle Transportvarianten werden erprobt. Zu den beteiligten deutschen Hochsee- und Binnenhäfen zählen Bremerhaven, Bremen, Duisburg und Krefeld. Für den Lufttransport werden Standorte in Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, München, Nürnburg und Ramstein genutzt. Von besonderem Interesse sind die beiden Straßen-, respektive Autobahnrouten in west-östlicher Richtung. Das sind die klassischen Achsen Düsseldorf–Hannover–Magdeburg–Frankfurt/Oder sowie Düsseldorf–Mannheim–Nürnburg–Dresden–Görlitz.

Hauptschauplätze der Manöver sind jedoch Polen und das Baltikum. Die USA haben dabei das Kommando über rund 37.000 Soldaten. Ungefähr 20.000 Soldaten – also etwa eine komplette US-Division – werden dazu, inclusive Kriegstechnik, über den Atlantik transportiert, wobei die Großtechnik weitgehend aus Depots in Deutschland entnommen wird. 9000 amerikanische Soldaten kommen aus deutschen Standorten, und 8000 weitere Soldaten werden von NATO-Partnern bereitgestellt. Deutschland beteiligt sich selbst mit etwa 2.400 Mann und gilt durch seine geografische Lage im Zentrum Europas als logistische Drehscheibe für die amerikanische Truppenverlegung. Zu den deutschen Aufgaben gehören die Planung und Genehmigung von Durchfahrten, die Routenplanung, die Bereitstellung von Unterkünften, Kraftstoff und Verpflegung sowie die Gewährleistung der IT-Kommunikationsanbindung. Von besonderer Bedeutung ist dabei eine Art Generalzertifizierung für militärische Schwertransporte, die über dieses Manöver hinaus – also auch für zukünftige Übungen und den Kriegsfall – gelten soll.

Insofern ist „Defender Europe 2020“ auch ein Stresstest für die gesamte Logistik. Hierzu gehören in hohem Maße die Bereitstellung ausreichender und geeigneter Transportmittel für Truppen und Technik sowie Fragen nach der konkrete Durchlass- und Belastungsfähigkeit des gesamten Straßen- und Schienennetzes – inclusive aller Brücken. Man kann getrost davon ausgehen, dass von den geplanten 156 Milliarden Euro, die die Deutsche Bahn in den Jahren bis 2030 investieren will, ein beträchtlicher Teil in militärisch relevante Projekte gesteckt wird, die als Rüstungsausgaben gar nicht in Erscheinung treten. Allein 86 Milliarden Euro sollen in den nächsten zehn Jahren für den Ausbau des Schienennetzes eingesetzt werden. „Defender Europe 2020“ dürfte hierfür einige entscheidende Ausgangsdaten liefern.

Angesichts der schon real bestehenden Spannungen mit Russland, trägt dieses Manöver zu einer weiteren Eskalation der Konfrontation bei und muss eher als Provokation denn als Friedensvorsorge bewertet werden. Höhepunkt des Manövers sollen die Tage um den 8. Mai sein, den 75. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus, für dessen Niederschlagung die Sowjetunion die Hauptlast getragen und mit etwa 20. Mio. Kriegstoten den größten Blutzoll gezahlt hat.

Die Begründung des Manövers mit einer vorgeblichen Aggressivität Russlands ignoriert die historische Tatsache, dass in der europäischen Geschichte Deutschland bereits zweimal als Aggressor gegen Russland und die Sowjetunion in Erscheinung getreten ist; aber niemals haben Russland oder die Sowjetunion Deutschland angegriffen.

Insofern ist auch die all diesem Säbelrasseln zugrundeliegende Behauptung des Westens äußerst fragwürdig, dass nämlich Russland nicht nur fähig sondern auch willens wäre, in ein NATO-Land wie Estland oder Polen einzumarschieren. Selbst der Generalinspekteur der Bundeswehr a. D. und ehemalige Vorsitzende des Militärausschusses der NATO, Harald Kujat, kritisiert derartige Annahmen als „völlig absurd […], einseitig, unvollständig und einer rationalen Überprüfung nicht standhaltend. […] Putin weiß, dass dies die völlige internationale Isolation zur Folge hätte – mit unübersehbaren politischen und wirtschaftlichen Folgen für das Land.“ Auch Wolfgang Richter, Oberst a.D. der Bundeswehr und Sicherheitsexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, sieht keinerlei strukturelle Angriffsvorbereitungen Russlands. Moskau halte sich an die 1994 mit der NATO geschlossene Vereinbarung, keine zusätzlichen substanziellen Kampftruppen in den Grenzregionen zu den baltischen Staaten zu stationieren.

Jeder deutsche Staatsbürger, der halbwegs informiert ist und politisch denken kann, hat längst begriffen, dass Russland Frieden und Stabilität als Grundlage der eigenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung dringend notwendig hat. Russland ist weder an Krieg noch jedweder Konfrontation mit Deutschland, der EU und dem gesamten Westen interessiert. Auch deshalb nicht, weil Russland der NATO militärisch insgesamt deutlich unterlegen ist und sich ein Konflikt mit der NATO regional nicht begrenzen ließe. Warum also sollte Russland einen globalen militärischen Konflikt riskieren, in dem es nur Verlierer geben kann?

Es liegt nahe zu vermuten, dass Russland nur als Vorwand für den transatlantischen Westen herhalten muss, um dessen geopolitische Ansprüche und Machtvisionen zu rechtfertigen und militärisch zu untermauern. Die NATO braucht das Feindbild Russland als elementare Existenzbedingung für sich selbst. Insofern zielt auch das Manöver „Defender Europe 2020“ darauf ab, dieses Feindbild zu stabilisieren, die Stimmung gegen Russland anzuheizen und insbesondere die deutsche und die osteuropäische Bevölkerung an eine ständige NATO-Militärpräsenz auf ihren Territorien zu gewöhnen und ihre Duldungsbereitschaft für weitere Eskalationsstufen zu testen.

Angesichts des globalen Klimanotstands ist das Manöver allein durch seine Kriegsdrohung ein welthistorischer Anachronismus. Dabei soll hier gar nicht primär die Gefahr eines Kernwaffenkrieges in den Vordergrund gestellt werden, der die Existenz der ganzen Menschheit infrage stellen würde. Jeder konventionelle Krieg und jedes Großmanöver bedeuten durch CO2-Ausstoß, Feinstaubemissionen und Beschädigungen der Infrastruktur für Kommunikation und Verkehr eine gewaltige Umweltbelastung. Insgesamt erweist sich der Auf- und Ausbau des weltweiten militärischen Konfrontationspotenzials als entscheidende Ressourcenverschleuderung, die uns daran hindert, grundlegende Lebensfragen der Menschheit zu lösen – darunter insbesondere die Klimafrage.

Genau deshalb steht „Defender Europe 2020“ seit dem Herbst 2019 für die deutsche und europäische Friedensbewegung auch im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Die größte bundesweite Friedenskonferenz des vergangenen Jahres, der „Friedensratschlag 2019“ vom siebenten und achten Dezember in Kassel forderte in der Abschlusserklärung, „dem NATO-Kriegsgerassel auf möglichst sicht- und hörbare Weise, phantasievoll, friedlich und couragiert“ zu begegnen. Dazu fassten die nachfolgenden Aktionsberatungen in Hamburg und Leipzig konkrete Beschlüsse.

Man kann also davon ausgehen, dass es in den nächsten Tagen und Wochen zu zahlreichen Demonstrationen gegen die provokativen Truppenbewegungen kommt. Insbesondere die traditionellen jährlichen Ostermärsche werden im Zeichen der Anti-Defender-Bewegung stehen. Dabei wird es keineswegs nur Proteste gegen die Manöver geben. Im Kern geht es um eine neue Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union insgesamt. Von der Bundesregierung wird erwartet, dass sie ihrer Verantwortung für Frieden und Stabilität in Deutschland und Europa durch Kooperation und Dialog gerecht wird, sich auf die historischen Lehren aus zwei Weltkriegen besinnt und die Politik der Feindschaft und Konfrontation gegenüber Russland beendet. Dringend erforderlich sind eine Politik der Abrüstung und militärischen Deeskalation sowie neue vertrauensbildende Maßnahmen in Europa.

Angesichts der Corona-Pandemie und der als Gegenmaßnahmen allenthalben um sich greifenden Einschränkungen des zivilen öffentlichen wie internationalen Lebens – auch Polen hat seine Landesgrenzen für den Personenverkehr inzwischen dicht gemacht – müsste es im Übrigen eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, Defender 2020 sofort abzubrechen!

Mehr Soldaten und mehr Waffen bringen uns nicht mehr Sicherheit. Was wir in Europa brauchen ist eine neue Entspannungspolitik.

Jetzt!