22. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2019

Unbeholfene Sozialdemokratie

von Waldemar Landsberger

Saskia Esken, geboren 1961, wuchs in dem 18.000-Seelen-Städtchen Renningen auf und machte 1981 Abitur. Ein Studium der Germanistik und Politikwissenschaft brach sie ab, beendete jedoch 1990 erfolgreich in Böblingen eine Informatik-Ausbildung. Nach Heirat und Geburt dreier Kinder blieb sie zu Hause und kam über ehrenamtliche Elternvertretung und den Landeselternbeirat Baden-Württemberg zur Politik. In der SPD ist sie seit 1990, 2013 zog sie erstmals als Abgeordnete in den Deutschen Bundestag ein. Sie wurde jetzt von den abstimmenden SPD-Mitgliedern zu einer der beiden SPD-Vorsitzenden gewählt.
Zum Ko-Vorsitzenden wurde Norbert Walter-Borjans erkoren. Geboren 1952 in eine Arbeiterfamilie in Krefeld-Uerdingen, machte er 1971 das Abitur, studierte Informatik und Volkswirtschaftslehre und promovierte 1982 an der Universität zu Köln. Seit 1984 arbeitete er in der Staatskanzlei von Nordrhein-Westfalen (NRW), 1996–98 als Regierungssprecher von Landesvater Johannes Rau. Danach wurde er Staatssekretär im Wirtschafts- und Finanzministerium des Saarlandes, ab 2004 Wirtschaftsstaatssekretär wieder in NRW, seit der SPD-Wahlniederlage 2005 Dezernent und Stadtkämmerer in Köln. Nach dem Wahlsieg von Hannelore Kraft war er von 2010 bis 2017 NRW-Finanzminister, bundesweit bekannt geworden wegen des Ankaufs von CDs mit den Daten deutscher Steuerbetrüger. Seit der Abwahl der SPD-Grünen Landesregierung 2017 war er Pensionist.
Im Sommer 2019 meldeten Esken und Walter-Borjans ihre Kandidatur für den ausgelobten doppelspitzigen SPD-Vorsitz an. Die Stichwahl Ende November entschieden sie gegen Vizekanzler Olaf Scholz und die Brandenburgerin Klara Geywitz mit 53 Prozent für sich. Allerdings hatten nur 54 Prozent der stimmberechtigten 435.630 Parteimitglieder abgestimmt, so dass die knapp 115.000 Stimmen für Esken und Walter-Borjans bezogen auf die Gesamtmitgliederzahl 27 Prozent ausmachen. Insofern ist die Mutmaßung, Mitgliederentscheide über Spitzenpositionen einer Partei – ob nun Vorsitzende oder Kanzlerkandidatin – seien demokratischer als Abstimmungen gewählter Parteitagsdelegierter, grundsätzlich infrage zu stellen. Auch weil die SPD schon die Urwahl eines Parteivorsitzenden Rudolf Scharping 1993 erduldet hatte. Der setzte sich gegen Gerhard Schröder und die damals sehr prominente Parteilinke Heidemarie Wieczorek-Zeul durch, wurde wegen offensichtlicher Unfähigkeit jedoch bereits 1995 auf einem SPD-Parteitag durch Oskar Lafontaine ersetzt.
Insofern bleibt abzuwarten, ob die jetzige Mitgliederentscheidung der SPD eine längere Halbwertzeit hat. Immerhin gab es auch einmal einen SPD-Vorsitzenden namens Martin Schulz, der auf einem Parteitag am 19. März 2017 mit 100 Prozent der gültigen Stimmen gewählt wurde (dem wohl besten Ergebnis seit August Bebel), aber nach der Wahlniederlage zum Bundestag 2017 völlig demontiert wurde und bereits am 13. Februar 2018 entnervt das Handtuch warf.
Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte unter der Überschrift „Zwei Geisterfahrer der SPD“ und schrieb über das jetzige Duo: Es „hat keinen Plan, wenig Führungserfahrung und großes Zerstörungspotential“. Mit der SPD werde es wohl „kein gutes Ende nehmen“. Das Paar sehe sein Profil jedoch nicht als Makel, sondern verstehe seine Nominierung „als eine Protestwahl gegen das Establishment in der eigenen Partei“. Im Grunde seien Esken und Walter-Borjans „mit ihrer Anti-Establishment-Rhetorik gewöhnliche Populisten, wenn auch ausgesprochen hölzerne“. Die Diskussionen in der SPD über den Platz der Partei in der Politik und ihre Zukunft sind jetzt nicht vorbei, sondern fangen erst richtig an. Auf das Publikum außerhalb der SPD, die Wählerinnen und Wähler, wirken die allerdings eher abstoßend. Wie schon das ganze langatmige und inhaltslose Procedere der vergangenen Monate, seit Andrea Nahles, Schulz’ glücklose Nachfolgerin, Anfang Juni 2019 den Partei- und Fraktionsvorsitz hingeworfen hatte und aus Berlin geflüchtet war.
Hier sei daran erinnert, dass es sich bei demokratisch verfassten politischen Systemen um Koalitionen zwischen abgrenzbaren politischen Eliten, die Parteien gebildet haben und diese prägen, und konkreten Wählergruppen handelt. Die politischen Eliten kämpfen um politische Macht und Einfluss und suchen dafür politische Unterstützung in der Gesellschaft. Wahlen dienen der Bekräftigung solcher Unterstützung oder ihrer Ablehnung. Deshalb bedürfen Parteiensysteme und damit die Beziehungen zwischen Wählern und politischen Eliten ständiger Pflege. Der Wandel von Parteiensystemen muss seine Ursache nicht darin haben, dass ihre gesellschaftliche Basis wegrutscht oder sich die politische Themenliste verändert. Oft haben es politische Eliten versäumt, die Verbindung mit ihren Wählergruppen politisch oder symbolisch zu erneuern – wenn das Personaltableau immer schneller rotiert, bleibt dafür kaum Zeit.
An dieser Stelle soll nicht über den Terminus „Elite“ diskutiert werden. Sich in einem Wettbewerbssystem zwischen unterschiedlichen politischen Parteien zu befinden und um die Zustimmung der Wähler zu kämpfen, zielt letztlich darauf, das politische Gemeinwesen zu regieren und die Gesellschaft zu verändern. Liegt das Wahlergebnis jedoch deutlich unter dem vorigen, muss mit der Pflege und Erneuerung des Bündnisses zwischen dem zur Wahl stehenden politischen Personal und den Wählern grundsätzlich etwas nicht stimmen. Die Ursachen nur im persönlichen Versagen Einzelner zu suchen, statt nach Grundsätzlichem zu fragen, greift jedoch zu kurz. Der immer schnellere Wechsel des SPD-Spitzenpersonals und das inhaltsleere Auswahlverfahren führen nicht zu einer Stärkung, sondern nur zur weiteren Schwächung. Zumal dann, wenn beim Basisentscheid gerade jene Personen abgelehnt werden, die der „Elite“ zugerechnet werden, und solche bevorzugt werden, die in jedem Ortsverein anzutreffen sind.
Die klassische Politikwissenschaft hat das Entstehen politischer Parteien entlang von historischen Konflikt- beziehungsweise Bruchlinien erklärt. In Europa waren die Prozesse der Industrialisierung, der Nationwerdung, der Säkularisation und der Ausdehnung des Wahlrechtes auf immer größere Teile der erwachsenen Bevölkerung bestimmend. Insofern wurden Bruchlinien unterschieden in den Problemfeldern: Staat – Kirche / Konfessionen; Stadt – Land / Industrie- vs. agrarische Interessen; Kapital – Arbeit sowie Zentrum – Peripherie. Die traditionellen Parteien, von den konservativen über liberale, christlich-demokratische und Parteien nationaler, kultureller oder religiöser Minderheiten sowie Bauernparteien bis hin zu den sozialdemokratischen oder sozialistischen Parteien lassen sich anhand solcher Konfliktlinien sozialhistorisch erklären.
Zusätzlich wurde seit Mitte des 20. Jahrhunderts ein „Wertewandel“ von eher traditionellen oder „materialistischen“ Werten hin zu „postmaterialistischen“ ausgemacht. Dies meint kulturelle, soziale, schließlich intellektuelle Bedürfnisse und deren Befriedigung, die allerdings befriedigte physiologische und physische Bedürfnisse zur Voraussetzung haben. Mit Marx: Die Menschen müssen erst essen, sich kleiden und wohnen, bevor sie Philosophie und Politik betreiben beziehungsweise den Umweltschutz oder identitätsbezogene Minderheitenrechte an die Spitze der Prioritätenliste stellen können. Von daher erklärt sich das Aufkommen der Grünen Parteien in Europa.
Hinzu kommt nach dem Ende des Kalten Krieges eine weitere Bruchlinie, die zwischen Globalisierung und national-staatlichem Bezug. Deren wechselseitiger Bezug funktioniert nicht und das unterhöhlt die Demokratie. Der Politikanalytiker Ivan Krastev betonte in Sachen Europäische Union, die Menschen erlebten eine Unabhängigkeit der Eliten, die sie als Verlust an Bürgermacht werten. In Brüssel würden „Maßnahmen ohne Politik“ ergriffen, während auf nationaler Ebene „Politik ohne Maßnahmen“ betrieben werde. Heraus kommt etwas, das „nicht funktionsfähig [ist]: Demokratie ohne Wahlmöglichkeiten, Souveränität ohne Bedeutung und Globalisierung ohne Legitimität“. Das führt zur Abwahl jener Eliten und Parteien, denen man die Schuld daran zuweist, am Ende zur Abwendung von einer Linken, die sich nicht wirklich mit den Zumutungen der Globalisierung auseinandersetzt.
Der desolate Zustand der Sozialdemokratie betrifft nicht nur sie selbst; Häme von Linkspartei oder Grünen verbietet sich. Das gegenwärtige Umfrage-Hoch der Grünen in Deutschland kompensiert den sozialdemokratischen Verfall nicht. Nicht nur in Thüringen wurde Rot-Rot-Grün abgewählt. Betrachtet man das „bürgerliche Lager“ im weiteren Sinne, so bekamen CDU, AfD und FDP zusammen bei den Landtagswahlen in Sachsen 64,1 Prozent, in Thüringen 50,1 Prozent und bereits 2016 in Sachsen-Anhalt 59,0 Prozent. Das wird durch die derzeitige Unverträglichkeit von CDU und AfD und die „Kenia-Koalitionen“ von CDU, SPD und Grünen in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Brandenburg nur überdeckt. Rechnet man die ebenfalls bürgerlichen Freien Wähler in Brandenburg hinzu, so kommen die Bürgerlichen dort auf 48,2 Prozent Wähleranteil und Rot-Rot-Grün auf 47,7 Prozent – trotz immer noch vergleichsweise wählerstarker SPD und Wählerverlusten der CDU. (Ob die Grünen einer Gesamtlinken zuzurechnen sind, wird immer fraglicher.) Auf die rechtsdrehenden Grundtendenzen im Europa der EU insgesamt hat nicht nur die SPD, sondern hat die Linke insgesamt keine Antwort. Das Duo Esken und Walter-Borjans erscheint so eher als Ausdruck des Problems denn als dessen Lösung.