22. Jahrgang | Nummer 23 | 11. November 2019

Politische Mitte im Osten?

von Jörn Schütrumpf

Der Osten begann im Westen: bei den Wahlen zum (West-)Berliner Abgeordnetenhaus am 29. Januar 1989. Die heute längst vergessenen „Republikaner“ zogen ins Parlament ein; in den Umfragen hatten sie noch deutlich unter der Fünf-Prozent-Grenze gelegen. Das Rezept: Die Rechten setzten auf eine Melodie aus dem Italowestern „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968) und eroberten aus dem Stand 7,5 Prozent der wahlwilligen Westberliner Herzen – ein Fernsehwerbespot gegen Ausländer war mit dieser Musik unterlegt worden. (So etwas wagt sich heute nicht einmal ein Björn Höcke.) Die anfänglichen Schockwellen verebbten allerdings alsbald: in dem großen Strudel, in dem in den nächsten Monaten samt Mauer und Stacheldraht die DDR verschwand.
Nach der Gesamtberliner Wahl vom 2. Dezember 1990 war zudem „alles wieder gut“. Vor allem die neu hinzugekommenen Ostberliner hatten die „Republikaner“ auf 3,1 Prozent gedrückt (minus 4,4 Prozent); und statt ihrer (und der Alternativen Liste – heute Bündnis 90/Die Grünen) saß mit neun Prozent die, fast ausschließlich in Ostberlin gewählte, PDS im Abgeordnetenhaus.
Die Mehrheit der Ostdeutschen hatte schon bei den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 ausgedrückt, wohin es gesamtdeutsch gehen sollte. Die politischen Exponenten der Herbstrevolution, die Bürgerrechtsbewegung, links liegen lassend, hatte sie Parteien gewählt, die in den DDR-Milieus über wenig bis gar keine Verankerung verfügten: CDU, SPD und FDP. Das war der freiwillig geleistete politische Beitrag der Ostdeutschen zur deutschen Einheit: Sie wollten genauso sein – und genauso wählen – wie die Westdeutschen.
Ihren ökonomischen Beitrag zur deutschen Einheit hingegen, nach der systematischen Zerstörung der ostdeutschen Wirtschaft auch dort, wo sie nach einigen kreditgestützten Umstrukturierungen lebensfähig geblieben wäre, erbrachten die Ostdeutschen allerdings eher reaktiv: als Abwanderer in den Westen, mit Umschulungen ins Nichts, auf dem Arbeitsamt oder – dank der Gnade der frühen Geburt – in der vorgezogenen Rente. Sozialstrukturell siedelt der einst industrialisierte Osten Deutschlands heute immer noch dichter am Balkan als am Westen des Landes.
Der Mittelstand, der dort – trotz aller Auflösungserscheinungen – immer noch CDU und FDP trägt, kam im Osten nur langsam auf die Beine; die lange Krise am Bau ab 2000, während der jeder zweite Arbeitsplatz abgebaut wurde, zerstörte zudem so manche neue Existenz wieder. Auch von einer stabilen christlichen Basis der CDU wie im Westen – dort allerdings schon längst zerschmelzend – kann angesichts der nicht gestoppten Säkularisierung kaum die Rede sein. Vom Großkapital ganz zu schweigen: Das gibt es im Osten überhaupt nicht. Und was von der Arbeiterschaft übrigblieb, wählte nur anfallweise SPD. In Sachsen, der einstigen „Herzkammer der Sozialdemokratie“, kam diese Partei nie auf die Beine – die 19,1 Prozent, die die westdeutsche Anke Fuchs 1990 holte, stehen einsam in der Statistik.
Die politische Mitte, die der aus dem thüringischen Apolda stammende und mit den Verhältnissen – so sollte man zumindest unterstellen dürfen – vertraute CDU-Spitzenkandidat Mike Mohring nach seiner Wahlniederlage plötzlich vermisst, hat im Osten nie existiert. Es gibt nur Wähler, die lange Zeit halbwegs verlässlich CDU und/oder SPD wählten – egal ob diese Parteien deren Interessen vertraten. Oder nur ihre eigenen.
Der einzige Ausreißer war die PDS, vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten stark eingebunden in Kleingartensiedlungen und ähnlichen Vereinsstrukturen sowie – bis heute – in der Volkssolidarität. Auch in den Universitätsstädten war es zwischenzeitlich einmal hip, PDS und dann die LINKE zu wählen.
Ein Blick auf die Wahlergebnisse zeigt, wie weit diese Verankerungen sich gelockert haben.
Das, was die vergangenen Landtagswahlen im Osten erbrachten, ist übrigens nur in einer Hinsicht wirklich überraschend: dass es so spät geschah. Die einzigen Milieuparteien im Osten sind neben der regressiven LINKEN die AfD – auf dem Lande und in den oftmals abgehängten Kleinstädten – sowie die Grünen – zunehmend in den Ballungsräumen.
Wenn irgendwo eine politische Mitte wächst, dann dort.
Mit der CDU hat das aber nichts zu tun; die Großstädte im Westen hat diese Partei schon vor Jahren räumen müssen. Insofern sind die Grünen auf absehbare Zeit die einzige gesamtdeutsche Partei.
Und nicht etwa die AfD. Denn jeder Erfolg der AfD im Osten lässt im Westen den „antifaschistischen Schutzwall“ höher wachsen. Braun ginge ja notfalls noch, aber braun wie die Ostdeutschen? Das geht gar nicht. Eher wird die LINKE im Westen weiter zulegen …
Das eigentlich Erschreckende aber sind die Wahlsiege von Michael Kretschmer (CDU), Dietmar Woidke (SPD) und Bodo Ramelow (LINKE) – so erfreulich das auf den ersten Blick auch anmuten mag. Denn nichts zeigt anschaulicher, wie stark – bis auf AfD und Grüne – die Parteien ihre Bindekraft verloren haben und austauschbar geworden sind. Die Ostdeutschen wählen nicht mehr Parteien, sondern Personen; um es deutlicher zu sagen: Führer. Im Moment sind es noch die „richtigen“.