22. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2019

Rosa Luxemburg – ein Nachleben
auf diversen Projektionsflächen

von Jörn Schütrumpf

Nicht zuletzt da sie unter vielfältigen Unannehmlichkeiten heranwuchsen, die ihnen die zaristischen Besatzungsbehörden zu bereiten als selbstverständlich empfanden, war es vor dem Ersten Weltkrieg unter osteuropäischen Jüdinnen aus dem Bildungsbürgertum nicht unüblich, ins vergleichsweise zivilisierte Deutschland auszuweichen und dort in der (letzten Endes nur zweifelhaften Schutz bietenden) Anonymität einer zumindest halbbackenen Zivilgesellschaft unkenntlich zu werden. Heute tauchen diese Jüdinnen in der Öffentlichkeit zumeist anonym in der Rubrik „Opfer des Holocausts“ auf. Ihre Namen werden – bestenfalls – in den Todeslisten der deutschen Vernichtungsfabriken und den Datenbanken des Exils verwahrt; wenige nur finden sich auf Deutschlands Grabsteinen.
Wenn überhaupt, dann wird in feministischen Zusammenhängen etwa noch eine Sonja Rabinowitz (Sarah Sonja Lerch) oder eine Fanny Jezierska erinnert. Sonja Rabinowitz, eine 1912 in Gießen in Nationalökonomie promovierte Professorentochter aus Warschau (Jahrgang 1882), organisierte im München des Januars 1918 zusammen mit Kurt Eisner einen Munitionsarbeiterstreik; am 29. März 1918 wurde sie in ihrer Stadelheimer Zelle erhängt aufgefunden. Ihr Gatte, ein deutscher Musikwissenschaftler, hatte sich – seine Universitätskarriere seiner Liebe vorziehend – per Zeitungsannonce von ihr losgesagt.
Fanny Jezierska, eine bei der AEG tätige Elektroingenieurin aus Grajewo im Osten Polens (Jahrgang 1887), war vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg eine der umtriebigsten Revolutionärinnen Europas, die nicht nur im Politischen, sondern auch privat klare Entscheidungen zu treffen pflegte: Die Avancen eines verheirateten Karl Liebknecht verbat sie sich schlichtweg; das war 1910. Fanny Jezierska starb – von den stalinistischen Massenmördern verfemt wie fast alle Vorkämpfer einer gerechteren Welt – 1945 in Kalifornien, erschöpft nach Jahren als Arbeiterin in der Rüstungsindustrie.
Während des deutschen Umsturzes im November 1918 hatte Fanny Jezierska in der Redaktion der Roten Fahne gearbeitet: als Sekretärin Rosa Luxemburgs – in den wenigen Wochen, die der noch zwischen ihrer Entlassung aus dem Breslauer Gefängnis am 9. November 1918 und ihrer Ermordung am 15. Januar 1919 verblieben.
Rosa Luxemburg (Jahrgang 1871) ist unter diesen osteuropäischen Jüdinnen mit Abstand die bekannteste. Im ostpolnischen Zamość geboren, in der Großstadt Warschau aufgewachsen und im beschaulichen Zürich studiert und promoviert, kämpfte die für ihr Temperament ebenso Geliebte wie für ihren Intellekt Gefürchtete, oft auch Gehasste, für eine Gesellschaft, in der jede Form der Unterdrückung durch politische Freiheiten gebannt werde. Um diese Freiheiten – Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Wahlrecht, Versammlungsrecht, Organisationsfreiheit, juristisch gesicherter Schutz vor der Willkür des Staates et cetera – wurde im Westen seit den großen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts gerungen. Diese politischen Freiheiten waren Rosa Luxemburg allerdings nicht genug, sie wollte sie ergänzt wissen: durch soziale Freiheit, also durch die Freiheit von jeglicher Form an Ausbeutung. Diese Einheit von politischen und sozialen Freiheiten bedeutete für Rosa Luxemburg Sozialismus. Das war das Gegenprogramm zu jenem der Bolschewiki, die als Erstes alle – in der Februarrevolution 1917 erkämpften – politischen Freiheiten abschafften und die sozialen Freiheiten zwar lauthals deklarierten, aber nie zuließen.
Im Zentrum des politischen Denkens der Frau mit der spitzen Zunge stand die Maxime: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird.“
Oft wird diese Aussage verkürzt auf: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“ – nicht selten, um so die „Freiheit“ zu erlangen, Rosa Luxemburg „interpretieren“ zu können. So erklärt Heinrich August Winkler, Emeritus der Humboldt-Universität zu Berlin, seine wissenschaftliche Reputation ohne jegliche Scham missbrauchend, allen Ernstes: „… und dieses Wort von der Freiheit der Andersdenkenden bezieht sich auf den sozialistischen Pluralismus, auf die Meinungsvielfalt des revolutionären Lagers. Nicht gemeint ist damit Freiheit für Gegner der Revolution.“
Das ist kein Einzelfall. Von der Hemmungslosigkeit des 80-jährigen Winkler unterscheidet sich die fast vierzig Jahre jüngere Christiana Morina in Nichts: „Rosa Luxemburgs Plädoyer für die ‚Freiheit der Andersdenkenden‘ [lag] kein absoluter Freiheitsbegriff zugrunde […], sondern eine äußerst machtbewusste Logik des ‚sozialistischen Pluralismus im Rahmen einer Diktatur des Proletariats‘.“ Morina gilt als Spezialistin für Marxismus und wurde gerade nach Bielefeld berufen.
Es geht aber noch primitiver. Am 8. Januar 1919 schrieb Rosa Luxemburg in der von ihr und Karl Liebknecht herausgegebenen Roten Fahne: „Die Regierung Ebert-Scheidemann hinwegzuräumen, heißt nicht, ins Reichskanzlerpalais stürmen und die paar Leute verjagen…“ Bei einem Kollegen Winklers und Morinas, Manfred Scharrer, liest sich das so: „Nach ihrer Meinung genügte es da nicht, nur ‚ins Reichskanzlerpalais zu stürmen und die paar Leute verjagen …“ Auch in diesem Falle bedarf es keines Kommentars.
Noch mehr war Rosa Luxemburg allerdings den Leuten ein Dorn im Auge, die ab 1921 auf Drängen der Bolschewiki die von Luxemburg mitbegründete Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) okkupierten. (Sie hatte übrigens, um nicht mit den Bolschewiki verwechselt zu werden, die sich seit Anfang 1918 auch Kommunisten nannten, gegen diesen Namen und für „Sozialistische Partei“ votiert.) Ruth Fischer, eine der vielen – gekommenen, gegangenen, gewesenen – Führer und Führerinnen dieser Partei, sprach im April 1924 kommunistischen Klartext: „Wer den Brandlerschen ‚Zentralismus‘ mit der Berufung auf Rosa Luxemburg heilen will, der will einen Tripperkranken durch Einflößung von Syphilisbazillen gesund machen.“ (Heinrich Brandler war der kurz zuvor durch Fischer & Co gestürzte KPD-Vorsitzende.)
Dieser Satz wird immer und immer wieder zitiert; dabei ist er ziemlich inhaltsarm. Worum es wirklich ging, sagte Ruth Fischer an anderer Stelle dieses Textes: „Und hier kommen wir zu dem Kernpunkt der Debatten […], zu der Fragestellung: Luxemburgismus oder Leninismus? […] Und deshalb werden wir nicht so gemütlich und so liebenswürdig, alle Genossen menschlich versöhnend, die Parteiauffassungen Rosa Luxemburgs und Lenins als gleichartig betrachten wollen, sondern ganz scharf und ganz entschieden für die Leninsche Parteiauffassung kämpfen gegen die Parteiauffassung Rosa Luxemburgs.“ Und dann: „Politisch denken lernen, politisch mitarbeiten, sich auch für ‚theoretischen Quatsch‘ interessieren, das ist die beste Voraussetzung für eine wirkliche Mitarbeit der Mitgliedschaften an allen Parteifragen, für eine wirkliche Bekämpfung der ‚Bonzen‘ und für den demokratischen Zentralismus, der es versteht, autoritative Führung mit Anteilnahme und Mitarbeit der Mitgliedschaften zu verbinden.“
So brutal hatte nicht einmal ein Lenin gewagt, den „demokratischen Zentralismus“ zu formulieren: eine „autoritative Führung mit Anteilnahme und Mitarbeit der Mitgliedschaften […] verbinden.“ Da musste eine Rosa Luxemburg nun wirklich aus dem Weg geschafft werden.
Unmittelbar darauf erfand Lenins ehemaliger Vertrauter Grigori Sinowjew den „Luxemburgismus“, der mit dem Denken Rosa Luxemburgs nun gar nichts mehr zu tun hatte. „Kultiviert“ wurde das Ganze durch Jossif Stalin, nachdem er Sinowjew gestürzt und mangels eigener dessen Gedanken übernommen hatte – in einem „Brief an die Redaktion der Zeitschrift ‚Proletarskaja Rewoluzija‘“ aus dem Jahre 1931. Zwar fällt dort das Wort Luxemburgismus nicht, aber er wird inhaltlich zusammenkonstruiert: Rosa Luxemburg wird vorgeworfen, „ein utopisches und halbmenschewistisches Schema“ entwickelt zu haben.
Wenige Wochen vor diesem Brief an die Proletarskaja Rewoluzija hatte Stalin einen Schauprozess gegen das angebliche „Unionsbüro der Menschewiki“ inszenieren lassen, der mit Todesurteilen endete. Mit seinem „Brief“ zog Stalin nun einen Cordon sanitaire um Rosa Luxemburg. Niemand konnte sich fortan mehr auf diese Frau berufen, ohne selbst als „halbmenschewistisch“ apostrophiert zu werden – also ohne sich selbst politisch in die Nähe der nur noch als todeswürdig angesehenen Menschewiki zu begeben.
Das letzte Wort sei Ernst Thälmann gegeben, der mit Stalins Hilfe seine einstige Förderin Ruth Fischer stürzte und zum Dank Rosa Luxemburg in den „Vorhof“ des Faschismus stellte: „Heute, wo die Komintern besteht, wo in der Sowjetunion unter der proletarischen Diktatur der Sozialismus verwirklicht wird, würde jeder Versuch zur Erneuerung des Luxemburgismus und jeder Überrest des Luxemburgismus niemals eine Brücke zum Marxismus-Leninismus bilden können, sondern stets einen Übergang zum Sozialfaschismus, zur Ideologie der Bourgeoisie, wie wir es am besten bei den Brandleristen sehen.“
Noch einmal zum Nachschmecken: „… jeder Überrest des Luxemburgismus“ bildet „einen Übergang zum Sozialfaschismus“.
Das war elf Monate, bevor in Deutschland den Nationalsozialisten die Macht übergeben wurde.