22. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2019

Der Mauerfall ein Schlapphut-Coup?

Der Mauerfall wurde als geheimdienstlich geplante,
verdeckte Operation vollzogen.

Der Mauerfall war die Voraussetzung für die Wiedervereinigung
Deutschlands, wie Schewardnadse sie seit 1986 plante.

Michael Wolski

von Alfons Markuske

Im 30. Jahr nach dem Mauerfall wartet Michael Wolski – vor der Wende KoKo-Angestellter und danach geschäftlich unter anderem für Auftraggeber aus den USA in Russland unterwegs – mit einer wahrlich steilen These auf: „Nach KGB-Drehbuch und -Regie öffneten ostdeutsche Funktionäre und Offiziere am 9.11.1989 in einer verdeckten Aktion die Westgrenze.“
Die Öffnung der DDR-Grenze also kein Kulminationspunkt der damaligen tiefen gesellschaftlichen Krise in der DDR, die die SED-Obrigkeit nicht mehr in den Griff bekam, und deren friedlicher Verlauf kein historischer Glücksfall, sondern alles ein KGB-Komplott?
Günter Schabowskis legendäre Pressekonferenz mit dem gegen Ende halb dahingestotterten „Meines Wissens sofort, unverzüglich“ auf die Frage, wann denn die neue (West-)Reiseregelung für DDR-Bürger in Kraft trete, also kein unprofessioneller Lapsus eines überforderten Spitzenfunktionärs, sondern ein ebenso minutiös wie frech choreografiertes Bubenstück?
Passen würde eine solche Version zum irrsinnsreichen 20. Jahrhundert oder auch bloß zum gefakten Bruderbund zwischen Moskau und der DDR durchaus. Allerdings besteht das Fundament, auf dem Wolski sein Konstrukt ausbreitet, lediglich aus einer einzigen Ex-post-Passage des sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse in dessen 1991 auf Deutsch erschienenem Buch „Die Zukunft gehört der Freiheit“. Wolski zitiert sie gleich am Anfang seiner Schrift: „Die Existenz zweier deutscher Staaten im Herzen des Kontinents verwandelte sich unter den gegenwärtigen Bedingungen in eine Anomalie, die die Sicherheit Europas ernstlich bedrohte, und es kam darauf an, sich Gedanken darüber zu machen, wie eine gefährliche Unlenkbarkeit der Ereignisse mit politischen Mitteln zu vermeiden wäre.“ (Als Zeitbezug für diese Passage ist 1986 angegeben.) Und damit der Leser die nach Wolskis Verständnis entscheidende Formulierung – „wie eine gefährliche Unlenkbarkeit der Ereignisse mit politischen Mitteln zu vermeiden wäre“ – ja nicht vergesse, wird sie ihm in diesem Buch noch mehrfach begegnen.
Nun mag man sich allerdings fragen, wie einem solchen Ziel – „eine gefährliche Unlenkbarkeit der Ereignisse mit politischen Mitteln zu vermeiden“ – mit einer Aktion gedient sein sollte, die nach Wolski darauf angelegt war, zu einem bestimmten Zeitpunkt Zigtausende von DDR-Bürgern zu veranlassen, sich spontan zu diversen Grenzübergangsstellen in Ostberlin und an der Grenze zur BRD auf den Weg zu machen, um dort auf Schabowskis „sofort, unverzüglich“ zu pochen und damit den „Mauerfall […] schlagartig in Gang“ zu setzen (O-Ton Wolski). Barg ein solches Szenarium nicht das hochgradige Risiko, damit eine katastrophale Kettenreaktion in Gang zu setzen? Nein, sagt Wolski, denn bereits im April 1989 sei seitens des Kommandos der Grenztruppen „mündlich angewiesen“ worden, die Schusswaffe „zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen nicht anzuwenden“. Mehr noch, so Wolski: „Die Grenzsoldaten rückten zwar mit Maschinenpistole aus, aber ohne Munition.“ Damit steht für den Autor fest: „So wurde schon im April 1989 die Grundlage für eine unblutige Maueröffnung gelegt.“
Dass der KGB nur durch Beteiligung von DDR-Mittätern („50 ostdeutsche Agenten des KGB in hohen Schaltstellen der Macht in der DDR“) zum Ziel kommen konnte, steht für den Autor völlig außer Zweifel. Aber außer Politbüromitglied Schabowski und ZK-Mitglied Günter Pötschke (damals Chef der Nachrichtenagentur ADN) weiß Wolski keine weiteren Kollaborateure zu benennen. Und die Frage, was die Betreffenden veranlasst haben sollte, ihrer Verbundenheit mit der Sowjetunion bis zur Beteiligung an der Herbeiführung auch des eigenen staatlichen und sozialen Untergangs zu folgen, stellt Wolski (vorsichtshalber?) erst gar nicht.
Überhaupt bleibt er, wo es um die Akteure des Komplotts und dessen Strukturen gehen müsste, reichlich wolkig. Von mehr als einem „von mir vermutete[n] Drehbuchteam“ ist eigentlich an keiner Stelle des Buches die Rede.
Eine Schlüsselrolle misst Wolski allerdings Wladimir Semjonow zu, „viele Jahrzehnte graue Eminenz der sowjetischen Deutschlandpolitik“, am Ende seiner offiziellen Laufbahn sowjetischer Botschafter in Bonn (1978–1986) und danach von Schewardnadse zum Sonderbotschafter (mit Sitz in Köln) und Berater des Außenministers ernannt.
Warum Letzteres? Wolski: „Er sollte die deutsche Einheit vorbereiten.“
Warum Wolski jedoch in einer längeren Passage zu Semjonows beruflicher Vita ohne erkennbare Not die Mär vom geplanten stalinschen Angriffskrieg gegen Deutschland wieder aufwärmt, dem „Hitler […] um wenige Wochen zuvorgekommen“ sei, das bleibt sein Geheimnis. Allein die verheerenden sowjetischen Niederlagen auf den Schlachtfeldern und die horrenden Verluste Moskaus an Menschen und Material in den ersten fünf Monaten nach dem deutschen Überfall am 22. Juni 1941 belegen, wie wenig kriegstauglich die Rote Armee zu jenem Zeitpunkt war.
Doch zurück zum Mauerfall. Wenn es denn das wolskische KGB-Drehbuch – „rückblickend […] eine bestens geplante Aktion“ – gegeben hätte, so wäre allerdings bei dessen Umsetzung – der Darstellung des Autors zufolge – tatsächlich alles wie am Schnürchen abgelaufen. Kein Sand im Getriebe, keine Panne, kein menschliches oder technisches Versagen, keine unvorhersehbaren Störfaktoren. Von Militäroperationen weiß man, „dass in der Praxis kein Plan die Berührung mit dem Feind überlebt“ (Antony Beevor). Sollte das bei Geheimdienstplänen wirklich grundsätzlich anders sein?
Hiermit soll allerdings überhaupt nicht in Abrede gestellt sein, dass seinerzeit durchaus auch einiges an zielgerichteter Inszenierung lief – und zwar nicht bloß der Sturm auf die Stasi-Zentrale in Berlin.
Den Untertitel des Autors aufgreifend, könnte resümierend formuliert werden:
Weder Zufall noch (bis ins Detail) so geplant …

P.S.: In das KGB-Drehbuch soll Wolski zufolge nicht zuletzt Gorbatschow eingeweiht gewesen sein. Wenn man allerdings den Dokumentenband „Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986–1991“ zur Hand nimmt und darin liest, mit welchem Tenor und vor allem mit welcher Unentschiedenheit Gorbatschow noch im Januar 1990 im engsten Kreis (Ryshkow, Schewardnadse, Krjutschkow, Achromejew, Tschernjajew, Jakowlew, Falin und andere) die deutsche Frage diskutiert hat, dann kommen einem nicht unerhebliche Zweifel auch daran.

Michael Wolski: 1989. Mauerfall Berlin. Zufall oder Planung. Selbstverlag 2019, 154 Seiten, 9,95 Euro.