22. Jahrgang | Nummer 20 | 30. September 2019

“Der Ossi wars!”

von Andreas Peglau

Im Zusammenhang mit den jüngsten Landtagswahlen taucht immer wieder die These auf, die „Ossis“ seien nun mal – DDR-bedingt – AfD-anfälliger. Aber trifft das wirklich zu? Ist die AfD überhaupt der einzige erwähnenswerte Repräsentant „rechter“ Einstellungen in Deutschland? Oder gibt es weitere Faktoren für die Entstehung des hiesigen „Rechtsrucks“, die berücksichtigt werden sollten?1

„Rechter“ Neoliberalismus

Dem Neoliberalismus – oder genauer: Marktradikalismus – liegen bekanntermaßen keine bürgerlich-humanistischen Ideale zugrunde, sondern eine dem Sozialdarwinismus verwandte Verachtung aller, die weder reich noch mächtig sind. Das belegen Ansichten Friedrich von Hayeks, die „den maßgeblichen Referenzpunkt im Neoliberalismus“ darstellen.2 Der Staat soll laut Hayek schwach sein gegenüber dem Kapital, aber stark in seiner Manipulations-, Gängelungs- und Unterdrückungsfunktion gegenüber dem Volk. Menschen hätten naturgemäß einen über den Markt vermittelten Kampf jeder gegen jeden um knappe „Güter“ aller Art zu führen, bei dem Schwächere, weniger Leistungsfähige auf der Strecke bleiben sollten. Dieses Ausleseprinzip übertrug er auf ganze Völker: Gegen Überbevölkerung gebe es „nur die eine Bremse, nämlich dass sich nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können“.3 Diese Auffassungen weisen markante Übereinstimmungen auf mit „rechter“ Ideologie.
Als „kleinster gemeinsamer Nenner des Rechtsextremismus“ wird von vielen Forschern die „Ideologie der Ungleichheit“ und damit Ungleichwertigkeit der Menschen genannt. Hayek urteilte über Ungleichheit, sie sei „nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach notwendig“ und dürfe nicht durch „Umverteilung“ und „soziale Gerechtigkeit“ gefährdet werden.4 Auch bezüglich der gegen Demokratie und – außerhalb der Eliten – gegen individuelle Freiheit gerichteten Zielsetzungen gibt es bemerkenswerte Parallelen zwischen rechtsextremer und neoliberaler Ideologie. Letztere behält sich ohnehin „eine autoritäre Option zur Durchsetzung marktwirtschaftlicher Freiheit vor, die für den ‚Notfall‘ auch eine Diktatur nicht ausschließt“ – was die führende neoliberale „Chicagoer Schule“ in den 1970er Jahren bewog, den faschistoiden Machthaber Chiles, Pinochet, offen zu unterstützen.5
Das „ausgeprägte Freund/Feind-Denken“ – mit dem Hauptfeind Kommunismus – eint „rechte“ und neoliberale Denker ebenfalls. Zudem ist nicht nur dem Rechtextremismus die Annahme „unverrückbare(r), absolute(r) Prinzipen“6 zu eigen: Der neoliberale Glaube an die Weisheit und Unfehlbarkeit des Marktes und den Kapitalismus als Höhe- und Endpunkt der Anthropogenese ist ähnlich dogmatisch – und ähnlich dümmlich.
Schon 1997 arbeiteten Herbert Schui und andere Sozialwissenschaftler in einem Buch mit dem treffenden Titel „Wollt ihr den totalen Markt?“ als wichtige Gemeinsamkeiten von Neoliberalismus und extremer „Rechter“ heraus: „Die Legitimierung des Starken, Durchsetzungsfähigen und Erfolgreichen, die Auslese und der starke Staat sind geeignet, dieselben Gemüter zu begeistern, die sich aus ähnlichen Gründen zum Faschismus hingezogen fühlen“.7 Es ist bei all dem nicht verwunderlich, dass bereits in den 1990er Jahren „rechte“ Parteien wie die FPÖ, in Deutschland NPD, DVU und Republikaner auf „die Effizienz eines entfesselten, wieder funktionsfähig gemachten“ – das heißt: über den Sozialstaat triumphierenden – Kapitalismus setzten.8
Der Neoliberalismus ist also hochgradig selbst „rechts“ und stützt „rechte“ Entwicklungen – Letzteres auch dadurch, dass seine Anwendung zu massenhafter Verelendung führt. So gesehen lässt sich fragen: Was befördert den „Rechtsruck“ mehr – eine PEGIDA-Demonstration oder eine Vorstandssitzung der Deutschen Bank?
Die neoliberale Ideologie bestimmt heute „die Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Medienöffentlichkeit und das Alltagsbewusstsein hierzulande so stark wie kaum eine andere Weltanschauung“, wird beileibe nicht nur von Unternehmerverbänden, CDU-Wirtschaftsrat und Industrielobby vertreten, sondern ist selbst in „Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbände“ eingesickert, hat daher „eine öffentliche Meinungsführerschaft errungen, die nur schwer zu durchbrechen ist“.9
Wir sollten uns also schon deshalb von dem Irrglauben befreien, die Förderung faschistoider gesellschaftlicher Entwicklungen wäre an bestimmte Parteien gebunden. Je neoliberaler sich Personen, Menschengruppen oder Institutionen positionieren – egal unter welchem Deckmäntelchen – desto mehr unterstützen sie damit auch „rechte“ Tendenzen.
Oder nehmen wir die grassierende Fremdenfeindlichkeit. Nicht nur die AfD betreibt geistige Mobilmachung gegen „Fremde“. In der SPD assistiert ihr hierbei Thilo Sarrazin. Die CSU versucht diesbezüglich, wie ihr Zeit Online bescheinigte, „den Sound der AfD zu kopieren“.10 Wer schon die CSU hat, braucht also möglicherweise gar keine AfD mehr, um seine Fremdenfeindlichkeit politisch zu kanalisieren.
Übrigens fühlten sich bis 2014 „noch knapp 50 Prozent der rechtsextrem Eingestellten“ bei CDU/CSU und SPD zuhause, 2016 „waren es nur noch 26,4 Prozent. (…) Die rechtsextrem Eingestellten sind vor allem zur AfD abgewandert“.11 Letzteres aber ganz sicher nicht, weil CDU/CSU und SPD inzwischen einen „Linksschwenk“ vorgenommen hätten.

Wie „rechts“ ist die BRD-Bevölkerung insgesamt?

Seit 2002 befasst sich eine Leipziger Forschergruppe um Oliver Decker und Elmar Brähler mit rechtsextremen Einstellungen in der „Mitte“ der deutschen Bevölkerung. 2002 stellten sie fest, dass es im Osten 8,1 Prozent, im Westen deutlich mehr, nämlich 11,3 Prozent der Bevölkerung waren, die „ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild“ vertraten.12
Zwischen 2002 und 2012 befürworteten dann durchschnittlich 4,2 Prozent der in den alten Bundesländern Lebenden und 6,8 Prozent der in den neuen Bundesländern inklusive Berlins Lebenden eine rechtsautoritäre Diktatur.13 Das waren im Westteil des Landes knapp 2,4 Millionen Menschen und im Ostteil mehr als 950.000. 2016 hatten sich die prozentualen Anteile rechtsextrem Eingestellter in Ost und West vorübergehend angeglichen. 2018 mussten die Leipziger Forscher wieder konstatieren, dass die „Zustimmung zu den vorgelegten rechtsextremen Aussagen“ im Osten „fast durchgehend“ stärker ausfiel.14
Sämtliche „Mitte“-Studien weisen allerdings „rechtes“ Gedankengut bei Anhängern des gesamten Parteienspektrums nach. 2016 sah die Aufteilung so aus: Mehr als 6,5 Prozent der CDU/CSU-Wähler und 6,9 Prozent der SPD-Wähler hatten ausgeprägte rechtsextreme Einstellungen. Aber dasselbe traf auch für 3,7 Prozent der Grünen- und 4,2 Prozent der „Links“-Wähler zu. Bei der AfD konzentrierte sich nun der bei Weitem größte Anteil dieses Potentials: Ein Viertel ihrer Wähler war als rechtsextrem einzuordnen – ein alarmierender Befund.15 Zugleich heißt das jedoch, dass 75 Prozent von ihnen hier eben nicht einzuordnen waren. Drei Viertel der AfD-Wähler wurden also zu diesem Zeitpunkt durch andere als rechtsextreme Einstellungen dazu gebracht, diese Partei zu wählen. 2016 waren unter den AfD-Wählern mehr als 89 Prozent, die die Idee der Demokratie befürworteten, unter denjenigen, die mit den Zielen von PEGIDA „vollkommen übereinstimmen“, rund 68 Prozent.16
2016 bekannten sich zu einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild 5,4 Prozent der Befragten.17 Diese 5,4 Prozent repräsentieren mindestens 3,84 Millionen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Hinzu kamen weitaus mehr Menschen, die die entsprechenden Aussagen als „teils/teils“ richtig beurteilen. 2014 waren das, je nach Aussage, 12 bis 31 Prozent der Befragten – wobei letzterer Wert für mehr als 22 Millionen Deutsche steht. Eine noch weit höhere Zahl vertrat 2016 weitere fremdenfeindliche Positionen. 50 Prozent pflichteten islamfeindlichen Aussagen bei, fast 58 Prozent diffamierten Sinti und Roma. 60 Prozent widersprachen der Aussage, die Asylsuchenden hätten „wirkliche Verfolgung erlitten“ oder seien „von ihr bedroht“. Mehr als 80 Prozent (!) lehnten die Forderung ab, „der Staat solle großzügig“ – was ja etwas ganz andere ist als verschwenderisch – „bei der Prüfung von Asylanträgen vorgehen“.18
Mehr als 80 Prozent der Deutschen haben also zumindest einzelne fremdenfeindliche Einstellungen.

Massenhaft autoritäre Charaktere links und rechts der Elbe

„Autoritäre Aggression“, das Nach-unten-treten-Wollen des autoritären Charakters, identifizierten Decker und andere 2016 bei 67,5 Prozent der deutschen Bevölkerung19 – mehr als 48 Millionen Bürgerinnen und Bürgern also. Die „autoritäre Unterwürfigkeit“, das Nach-oben-Buckeln, das diesen Typus komplettiert, kennzeichnete 2016 23,1 Prozent: mehr als 16,4 Millionen Deutsche.
Auch diese Einstellungen ziehen sich, in unterschiedlicher Stärke, durch die Wählergruppen aller Parteien in Ost und West.
Doch auch wer, egal welche Partei er wählt, seine Kinder unterdrückt oder schlägt – beides keine Seltenheit – lässt die „autoritäre Aggression“ nur an anderen sozial Schwächeren aus als an Asylbewerbern. Die von knapp der Hälfte aller Deutschen praktizierte Abwertung von Arbeitslosen20 dürfte den gleichen psychischen Hintergrund haben. Wer eine „Willkommenskultur“ für Flüchtlinge pflegt, aber zu den 40 Prozent der Bevölkerung gehört, die es „ekelhaft“ finden, „wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen“ oder zu den 36 Prozent, die gleichgeschlechtliche Ehen weiterhin verboten sehen möchten,21 hat sich für seine Wut womöglich nur andere „fremd“ erscheinende Menschen als Zielscheibe auserkoren. Wobei die Feindlichkeit gegenüber Homosexuellen – nahezu eine „rechte“ Tradition – erneut nicht an einzelne Parteien gebunden ist. Die Ablehnung der homosexuellen Ehe war 2016 unter CDU/CSU-Wählern mit 43,5 Prozent sogar noch etwas höher als in der AfD; sie kennzeichnete bei der SPD knapp 38 Prozent, bei der Linkspartei fast 27 Prozent der Anhänger, bei der FDP 25 Prozent und bei den „Grünen“ fast 20 Prozent.22
Die AfD abzulehnen ist also keinesfalls identisch damit, kein seelisches Potential in sich zu tragen, auf das „rechte“ Bewegungen zurückgreifen können.
Wie flächendeckend dieses Potential hierzulande verteilt ist, belegt auch der Zuspruch für die PEGIDA-Demonstranten. Entgegen anders lautender Parolen muss gesagt werden: „Deutschland ist auch PEGIDA“ – und dies in erheblichem Maße. In Dresden und anderswo geht seit 2014 nur auf die Straße, was seit langem im ganzen deutschen Volk in unterschiedlicher Intensität an Einstellungen existiert, in Ost wie West. Auch das bekräftigen Befragungen: „Nach einer repräsentativen Umfrage im Auftrag von Zeit online äußerten Mitte Dezember 2014 rund die Hälfte der Deutschen Verständnis für Demonstrationen gegen eine drohende ‚Islamisierung des Abendlandes‘. Insgesamt räumten sogar drei Viertel aller Befragten eine positive bis aufgeschlossene Haltung für PEGIDA ein. Eine wenig später durchgeführte repräsentative Umfrage ergab darüber hinaus, dass auch in den alten Bundesländern die Sympathiewerte für PEGIDA ähnlich hoch waren wie im Osten“.23
Es geht um eine gesamtgesellschaftliche Störung – die nicht an Bundesländergrenzen endet.

Beschränkte DDR-Bilder

Schon das macht die These, hier ginge es vorranging um ein Ost-Problem, fragwürdig. Einer derjenigen, die sie vertreten, ist der westdeutsche Sozialwissenschaftler Götz Eisenberg.
In einem rubikon-Artikel schreibt er: „Dass fremdenfeindliche Einstellungen und daraus hervorwachsende rassistische Pogrome in den neuen Bundesländern verbreiteter sind als im Westen Deutschlands, scheint mir unter anderem darin begründet, dass in der ehemaligen DDR jene kollektive Paranoia, die man in Deutschland Erziehung nannte, ungemindert und durch keinen Liberalisierungsschub gebrochen fortbestand, wie er im Westen durch die 68er Bewegung ausgelöst wurde. Der zukünftige Kommunist sollte sich mit Kernseife waschen, kalt duschen, die Zähne zusammenbeißen und hart sein. Schläge und Strafen galten nach wie vor als die guten Köche in der Erziehung.“24
Bezüglich des Satzes über „den zukünftigen Kommunisten“ kann ich nur hoffen, dass er irgendwie ironisch-witzig gemeint sein soll. Allen, die ernsthaft derartig beschränkte DDR-Bilder mit sich herumschleppen, kann ich als Gegengift das 2010 erschienene Buch von Daniela Dahn „Wehe dem Sieger. Ohne Osten kein Westen“ empfehlen. Die BRD hätte 1990 viel von den positiven Seiten der DDR lernen können, die Daniela Dahn hier detailliert zusammenträgt. Wäre das geschehen, wären die zukunftsweisenden Anteile beider Systeme verschmolzen worden – statt das östliche platt zu machen –, wäre uns vermutlich auch der aktuelle, erneute „Rechtsruck“ erspart geblieben.

Gewalt in der Familie in DDR, BRD und Gesamtdeutschland

Zweifellos brachte die 1968er-Bewegung frischen Wind in westdeutsche Familienverhältnisse, und nichtautoritäre Erziehungsstile wurden dort sicher populärer als im Osten.
Aber einseitig war das Gefälle auch diesbezüglich nicht. Die DDR verbot immerhin bereits 1949 körperliche Bestrafungen an Schulen und übernahm – im Gegensatz zur BRD – gar nicht erst das im Bürgerlichen Gesetzbuch verankerte „Züchtigungsrecht“ des Vaters. In der BRD wurde das Recht, Kinder zu züchtigen, 1958 – als Akt der Gleichberechtigung! – de facto auch den Müttern zugesprochen, an den Schulen galt es hier bis 1973.25 Die elterliche Misshandlungserlaubnis wurde in der BRD erst 1998 eindeutig eingeschränkt. Im Jahr 2000 nahm dann der Bundestag endlich den Passus ins Bürgerliche Gesetzbuch auf: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“.26
Dass Kinder in der DDR in einem noch höheren Maße geschädigt wurden, als es heute hierzulande wieder der Fall ist, halte ich zudem für unwahrscheinlich. Laut Kinderschutzbund Deutschland sterben jede Woche in der Bundesrepublik bis zu drei Kinder durch Misshandlung oder Vernachlässigung.27 Schwere Vernachlässigung durchleben 10 Prozent der Kinder, leichtere Formen von Vernachlässigung 50 Prozent. Emotional misshandelt werden 17 Prozent, körperlich 15 Prozent – ebenso viele erleiden sexuellen Missbrauch, 2 Prozent von ihnen in schwerer Form.
Die diesbezüglichen Dunkelziffern dürften hoch sein.28 In aktuellen Befragungen gaben 40 Prozent der Eltern an, ihre Kinder zu schlagen .29 Entfremdende „Sekundärtugenden“, wie sie schon im wilhelminischen Deutschland angestrebt wurden, möchten die meisten weiterhin erzeugen: 88 Prozent der Eltern wollen ihren Kindern vor allem „Höflichkeit und gutes Benehmen“ beibringen,30 70 Prozent „Disziplin“.31
Der von Eisenberg angeführte „Liberalisierungsschub“ ist offenkundig längst ausgebremst. Selbstverständlich schafft all das auch einen hervorragenden Nährboden für spätere destruktive, zum Beispiel rechtsradikale Haltungen.

Die Legende von den schon immer „rechteren“ Ossis

Der Politikwissenschaftler Richard Stöss hat sozialwissenschaftliche Untersuchungen zu „rechten Einstellungen“ im vereinigten Deutschland zusammengestellt. Die erste von ihm referierte Befragung kam 1992 zu folgendem Ergebnis: Der „Anteil der Ostdeutschen, der sich antisemitisch, rechtsradikal oder ausländerfeindlich äußert“, war „geringer als der entsprechende Anteil der Westdeutschen. Die Bundesbürger/innen im Osten nehmen die Konsequenzen aus der NS-Vergangenheit für die Gegenwart ernster.“ Antisemitisch Eingestellte machten in Deutschland zu diesem Zeitpunkt insgesamt 13 Prozent aus. Unter den etwa 64 Millionen Westdeutschen erwiesen sich 16 Prozent als Antisemiten, unter den etwa 16 Millionen Ostdeutschen nur 4 Prozent. Das Magazin Spiegel kommentierte, „die meisten früheren DDR-Bürger (haben sich) eine Aversion gegen das NS-Regime bewahrt“. Werner Bergman und Rainer Erb vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung ergänzten: „Auch der Antifaschismus war in der DDR verordnet, aber er entsprach bei vielen der eigenen Überzeugung“.32
Wird etwas zur eigenen Überzeugung, ist es allerdings nicht mehr nur „verordnet“. Daher kann es weiterexistieren, wenn das verordnende System verschwunden ist. Dass dem auch in Bezug auf die antifaschistischen Einstellungen der DDR-Bürgerinnen- und Bürger so war, unterstrich 1994 eine forsa-Umfrage: „Mit einem verbreiteten Klischee räumt diese Untersuchung auf: dass nämlich der verordnete Antifaschismus der DDR ins Gegenteil umgeschlagen sei, nachdem die Ostdeutschen auf die Wildbahn der freien Meinung entlassen wurden. Die Befragten aus den neuen Bundesländern zeigen durchgehend eine klarere, kundigere und ablehnendere Haltung zum Nationalsozialismus“.33
Etwa zeitgleich kam der Politikwissenschaftler Jürgen W. Falter zum Ergebnis, „das rechtsextremistische Einstellungspotenzial im Frühjahr 1994 im Westen“ sei „mehr als doppelt so groß wie im Osten“. Das, so Richard Stöss, „dürfte generell für die erste Hälfte der neunziger Jahre gegolten haben“.34 Erst 1998 (!) stellte eine Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung fest, „dass rechtsextremistische Einstellungen im Osten häufiger anzutreffen waren als im Westen: Für die Bundesrepublik insgesamt wurde ein Potenzial von 13 Prozent gemessen, für Westdeutschland 12 Prozent und für Ostdeutschland 17 Prozent“.35
Zu ergänzen ist hier etwas, was hinter den Prozentzahlen verloren zu gehen droht. Da in den alten Bundesländern circa viermal so viel Menschen leben wie in den neuen – wobei Letzteren meist auch noch die Berliner Bevölkerung in Gänze zugeschlagen wird – standen also 1998 knapp 7,7 Millionen Rechtsextreme im westlichen Landesteil etwa 2,7 Millionen im Ostteil gegenüber.
Daran, dass im Westen weitaus mehr „Rechte“ leben als im Osten, dass von der ehemaligen BRD-Bevölkerung und ihren Nachfahren ein weitaus größeres rechtsextremes Bedrohungspotential ausgeht als von der ehemaligen DDR-Bevölkerung und deren Nachkömmlingen, hat sich zu keinem Zeitpunkt etwas geändert.
Wie lässt sich der Umschwung in den Einstellungen der Neubundesbürgerinnen- und -bürger in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre erklären? Richard Stöss verweist auf die veränderten „gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen“: „Die Ostdeutschen hatten den Prozess der inneren Einheit zunächst wesentlich optimistischer betrachtet als die Westdeutschen. Noch 1994 glaubte knapp die Hälfte der neuen Bundesbürger, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in den kommenden Jahren verbessern würden, in Westdeutschland vertraten nur 33 Prozent diese Auffassung. Drei Jahre später, 1997, war der Anteil an Optimisten im Osten auf 14 Prozent abgeschmolzen und hatte damit West-Niveau (13 Prozent) erreicht. (…) Der Ost­-West-­Unterschied bestand mithin darin, dass die Ernüchterung hinsichtlich der Einigungsfolgen in den neuen Bundesländern wesentlich dramatischer ausgefallen war als in den alten“.36
Die Desillusionierung beim „Ankommen“ in der immer unsozialer werdenden Marktwirtschaft hat also nach 1995 freigelegt, was zuvor durch den „verordneten“ und verinnerlichten Antifaschismus niedergehalten wurde – der das Gewaltpotential nicht hatte ausheilen können. Der Anspruch der DDR-Führung, faschistisches Gedankengut komplett eliminiert zu haben, entsprach zu keinem Zeitpunkt der Realität. Doch erst als – eine beachtenswerte Parallele zu unserer gegenwärtigen Situation! – in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre die Unzufriedenheit mit dem DDR-System wuchs, schwollen auch die „rechten“ Aktivitäten an, ohne freilich je eine Intensität anzunehmen, wie sie heute zu unserem Alltag gehört.
Der vormalige Leiter des DDR-Jugendforschungsinstitutes, Walter Friedrich, wertete 2002 für die Bundeszentrale für politische Bildung eine Reihe von Studien aus. Bezüglich der Fragestellung „Ist der Rechtsextremismus im Osten ein Produkt der autoritären DDR?“ kam er zu folgendem Resultat: Die Hypothese „einer stark ausgeprägten und verbreiteten Ausländerfeindlichkeit zu DDR-Zeiten als Folge der Sozialisation in einem autoritären System“ könne „nicht gestützt werden.“ Nicht während der „relativen Stabilität der DDR, sondern gerade umgekehrt, in der Zeit ihrer zunehmenden Labilisierung, der durch wachsenden Vertrauensverlust, Kritik- und Protesthaltung der jüngeren und älteren Bürger, durch steigenden Einfluss der Westmedien und der Attraktivität des Westens gekennzeichneten Endphase der DDR, ist es zu einem markanten Anstieg der Ausländeraversion, der Gewaltbereitschaft und rechtsextremistischer Orientierungen gekommen. Diese in den Jahren nach der Vereinigung anhaltenden, sich teilweise noch verstärkenden Erscheinungen können demnach nur als Folgen der durch die neuen gesellschaftlichen Existenzbedingungen erlebten sozialen Desintegration, Unsicherheit und psychischen Labilisierung, nicht aber als ein Resultat einer Revitalisierung der vor vielen Jahren erlebten autoritären DDR-Sozialisation gedeutet werden.“
Bezüglich „rechter“ Einstellungen musste das Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung 1988 zugestehen: „Die Aussage, ‚Der Nationalsozialismus hatte auch seine guten Seiten‘, wurde von jedem achten 14- bis 18-jährigen DDR-Jugendlichen zustimmend beantwortet.“37 Diese Analyse wurde ebenso geheim gehalten wie die Erkenntnis der Staatsicherheit, dass das „rechte“ Milieu zu dieser Zeit mehr als 15.000, oftmals gewalttätige Personen umfasste – also etwa 0,09 Prozent der DDR-Bevölkerung.38

Besser ein „verordneter“ Antifaschismus als gar keiner

Halten wir fest: Selbst ein „verordneter Antifaschismus“ war offensichtlich ein wirksameres Mittel gegen Rechtsextremismus als das für die Nachkriegs-BRD typische klammheimliche bis halboffizielle Anknüpfen an NS-Traditionen.39
Der DDR war es, 1949 mit derselben geschichtlichen Altlast startend wie die BRD, möglich, rechtsextreme Einstellungen im Vergleich zu Letzterer deutlich zu lindern. Und dies, obwohl die DDR politisch autoritärer strukturiert war als die BRD im selben Zeitraum. Andere Faktoren scheinen das kompensiert zu haben. Welche das waren, lässt sich zumindest erahnen.
Zum einen wurde – während die Verbrechen des Stalinismus bis zum Ende der DDR tabuisiert blieben – der staatlich verankerte Antifaschismus durch offensive Geschichtsvermittlung gestützt. NS-Verbrechen, bei denen freilich die Opfer unter den Kommunisten überproportional hervorgehoben wurden, waren präsent in Belletristik, Theater, Kino, Fernsehen, Radio und Druckmedien, im Schulunterricht sowieso. Auch Besuche ehemaliger Konzentrationslager gehörten hier zum Pflichtprogramm. Die gegenüber kapitalistischen Gesellschaften weitaus stärkere materielle Grundsicherung in der DDR, die Möglichkeit umfassender kultureller Teilhabe für sämtliche Bevölkerungsschichten, auch die – allerdings oftmals aufgezwungene – soziale Eingebundenheit dürften rechten“ Einstellungen ebenfalls entgegengewirkt haben. Hinzu kam die bereits erwähnte staatliche Streichung der familiär-schulischen „Züchtigungserlaubnis“, das im Vergleich zum heutigen Deutschland nahezu verschwindend geringe Einkommensgefälle, der größere Emanzipationsgrad der Frauen, sicherlich auch das Ausmaß an staatlicher Kontrolle sowie an Ächtung und Bestrafung, die bei „rechten“ Aktionen drohten.
Bereits 1964 war in der DDR zudem die Verjährung von NS- und Kriegsverbrechen grundsätzlich aufgehoben worden.40 In der BRD wurde erst 1979 beschlossen, dass Mord nicht mehr verjährt – womit zugleich NS-Morde weiterhin verfolgt werden konnten.41 Konnten – denn Letzteres geschah hier vor wie nach 1979 nur spärlich.42
Es steht außer Zweifel, dass die Hintergründe der politischen „Rechts“-Entwicklung dringend diskutiert und erforscht werden müssen, auch deren spezifische Ursachen im Osten Deutschlands. Es ist jedoch aus mehreren Gründen falsch, die einfache Rechnung aufzumachen: AfD-Wähler = (Neo)faschisten, Nicht-AfD-Wähler = Demokraten. Ebenso falsch ist die Ableitung: „rechter“, autoritärer Osten / demokratisch geläuterter Westen mit „braunen“ Farbtupfern.
Unzutreffend ist zudem die Vorstellung, die DDR förderte das Zustandekommen „rechter“ Einstellungen stärker als die BRD. Das Gegenteil trifft zu – und wäre gründlicher sozialwissenschaftlicher Aufarbeitung wert. Der schon zitierte Götz Eisenberg schreibt: „Unter einem dünnen Firnis angepassten Verhaltens existiert ein bedrohliches faschistoides, antidemokratisches Potenzial, das den Wandel der politischen Systeme überdauert hat.“
Das trifft zu: in den neueren ebenso wie in den alten Bundesländern.

Vom Autor gekürzte und leicht geänderte Fassung eines Beitrags, der am 31.8.2019 bei rubikon erschien: https://www.rubikon.news/artikel/der-ossi-war-s. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

  1. Ausführlich zu letzterem Punkt: Peglau, A. (2017): Rechtsruck im 21. Jahrhundert. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus als Erklärungsansatz, Berlin: NORA.
  2. Butterwege, Ch./Lösch, B./Ptak, R. (2016): Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden: Springer VS, S. 46, 63ff.
  3. ebd., S. 67.
  4. Aus einem Interview Hayeks mit der Wirtschaftswoche von 1981 (Auszüge daraus siehe auch https://web.archive.org/web/20171129134837/http://www.forum-ordnungspolitik.de/zur-ordnungspolitik/grundsaetze/334-wir-brauchen-mehr-ungleichheit.)
  5. Butterwege et al. 2016 (wie Anm. 2), S. 59, 64.
  6. ebd., S. 25.
  7. Schui, H./Ptak, R./Blankenburg, S./Bachmann, G./Kotzur, D. (1997): Wollt ihr den totalen Markt? Der Neoliberalismus und die extrem Rechte, München: Knaur, S. 15.
  8. ebd., S. 11.
  9. ebd.
  10. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-10/csu-grundsatzprogramm-markus-blume-afd-waehler
  11. Decker, O./ Kiess, J./ Brähler, E. (Hg.) (2016): Enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland, Gießen: Psychosozial, 2016, S. 41f.
  12. ebd., S. 79.
  13. Decker, O./ Kiess, J./ Brähler, E. (Hg.) (2013): Rechtsextremismus der Mitte. Eine sozialpsychologische Gegenwartsdiagnose. Gießen: Psychosozial, S. 108.
  14. Decker et al. 2016 (wie Anm. 11), S. 37.
  15. Decker, O./ Brähler, E. (2018): Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft/ Die Leipziger Autoritarismus-Studie 2018, Gießen: Psychosozial, S. 110; Decker et al. 2016 (wie Anm. 11), S. 41.
  16. ebd., S. 79, 148.
  17. ebd., S. 48.
  18. ebd., S. 50.
  19. ebd., S. 56.
  20. Zick, A./ Küpper, B./ Krause, D. (2016): Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2016, hg. von Melzer, Ralf, Bonn: Dietz, S. 24.
  21. ebd., S. 50f.
  22. Decker et al. 2016 (wie Anm. 11), S. 86.
  23. Vorländer, H./ Herold, M./ Schäller, S. (2016): PEGIDA. Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung, Wiesbaden: Springer VS, S. 17.
  24. https://www.rubikon.news/artikel/die-rache-des-verletzten-stolzes
  25. http://www.juraforum.de/lexikon/zuechtigungsrecht; http://liga-kind.de/fk-201-peschel-gutzeit/
  26. ebd.
  27. http://www.n-tv.de/politik/Kinderhilfe-versagt-zu-oft-article6373746.html
  28. Bauer, Joachim (2015): Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens, München: Blessing, S. 61.
  29. http://www.eltern.de/kleinkind/erziehung/ohrfeigen-klaps.html
  30. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/39028/umfrage/wichtige-erziehungsziele-fuer-eltern/
  31. http://www.eltern-bildung.net/pages/publikationen/studien_und_policy_papers/allensbach_studie_2011_-_zwischen_ehrgeiz_und_ueberforderung/index.html
  32. Stöss, Richard (2010): Rechtsextremismus im Wandel, Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 62f.
  33. ebd., S. 63.
  34. ebd.
  35. ebd., S. 63.f.
  36. ebd., S. 64.
  37. http://www.bpb.de/apuz/25910/ist-der-rechtsextremismus-im-osten-ein-produkt-der-autoritaeren-ddr?p=all#footnodeid15-15
  38. http://www.zeit.de/2012/08/DDR-Nazis/
  39. http://www.geschichte-lernen.net/aera-adenauer-umgang-ns-vergangenheit/
  40. http://www.verfassungen.de/de/ddr/verjaehrungnaziverbrechen64.htm
  41. https://de.wikipedia.org/wiki/Verjährungsdebatte
  42. http://www.michael-greve.de/strafen.htm